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Die Wagenstadt

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»Aufstehen! Die Chefin hat jetzt Zeit für euch.«

Den dreizehn Strichen, die Sly an die Blechwand des Wohnwagens gekratzt hat nach zu urteilen, sind wir seit fast zwei Wochen in den Fängen der Boliden und warten auf diesen Moment. Wir warten, dass Daloris Sanderbrink, die Anführerin der Aussteigerbande, sich zu einem Treffen herablässt.

Seit wir die Wagenstadt mit verbundenen Augen betreten haben, sitzen wir in diesem Gefängnis mit geschwärzten Fenstern und bemitleiden uns. Wir haben eine Toilette, deren Tür man nicht abschließen kann, eine Küche mit Mikrowelle und Wasserkocher, um Instantpulver in Nahrungsmittel verwandeln zu können, und ein paar Bögen Papier und Stifte. Die Schlafsäcke sind so alt wie Daloris selbst und unsere Rücken grün und blau vom unebenen Boden, auf dem wir jede Nacht schlafen sollen. Tamika und Sly haben versucht, sich auf der eingebauten Eckbank niederzulassen, nachdem ich dankend abgelehnt und mich an Tams Seite zurückgezogen habe. Es ist eng, die Nächte hier unten sind frisch, aber ich habe stets eine warme Hand, die mich hält, wenn ich schweißgebadet aufwache. Eine Hand, die mir jetzt zärtlich über die Wangen streicht, damit ich aufwache und mich auf unseren ersten Freigang vorbereite.

»In fünf Minuten klopfe ich an die Tür. Wer dann nicht bereit ist, bleibt für weitere zwei Wochen in diesem Wagen, verstanden?«

»Verstanden, GAM. Danke, sehr nett von dir.« Sly versteht es, sich bei dem bulligen Glatzkopf beliebt zu machen. Er schleimt ihn mit Nettigkeiten zu und prompt erhalten wir mehr Essen oder neues Papier. »Bis gleich, Bruder.«

Ich muss schmunzeln. Das wird der Bruder gar nicht gerne hören. Er ist Soldat und kein Kumpel, dem man mal eben cool gegen die Schulter boxt.

Die Tür fällt ins Schloss und Tam zu meiner Rechten prustet los. Hier ist nichts zum Lachen, aber auch gar nichts, doch wir vier haben einen Weg gefunden, uns die endlosen Stunden ertragbar zu machen. Nachdem in den ersten drei Tagen kaum jemand ein Wort sprach und Tamika nur zum Toilettengang ihren zerrissenen Schlafsack mit verheulten Augen verließ, haben wir nun einen gemeinsamen Tagesrhythmus gefunden, der uns am Durchdrehen hindert: Aufstehen. Hafergrütze essen, die uns Sly alltäglich mit frischen Phantasiezutaten verfeinert. Morgensport, für den sich Tam stetig neue Übungen aus den Fingern saugt. Schlachtplanrunde, um einen möglichen Ausbruch vorzubereiten. Mittagessen, wenn man Tütensuppe mit Entenfutter so nennen kann. Dehnungsübungen, die sich Tamika auf die Fahne geschrieben hat. Spielenachmittag, damit wir nicht verblöden. Abendbrot mit – Überraschung – Haferschleim und schlussendlich die Gutenachtgeschichte, mein Part. Danach versucht jeder für sich in den Schlaf zu finden, ohne die anderen wahnsinnig zu machen.

Klopf, klopf, klopf. Es ist so weit. Wir verlassen die halbwegs sichere Zuflucht unseres vertrauten Blechhotels und wagen uns ins Unbekannte. Die Höhle der Boliden. Wir wissen mittlerweile von GAM, dass Daloris uns am Leben lassen wird und ein Verkauf bereits bevorsteht. Die Typen hier sind grob, brutal, stinken und behandeln uns wie Dreck, aber Angst habe ich keine. Wir belauschen ihre Gespräche, wir bekommen Essen, wir bekommen Kleidung, wir müssen nicht arbeiten und sind nicht gefesselt. Alles wird heute ein Ende nehmen, denn Präsidentin Jünger holt uns hier raus!

»Wer mag zuerst?« Sly hat eine Hand auf den Türgriff gelegt und schaut uns spannungsvoll entgegen. Die Freiheit rückt in greifbare Nähe und das ist wahnsinnig erfüllend.

»Ich möchte, wenn es okay ist!« Keine Ahnung, wann ich mich jemals aufgedrängt habe, aber heute blicke ich dem langersehnten Tag so positiv entgegen, dass ich es einfach nicht erwarten kann.

»Gut, Roya, dann raus mit dir!« Sly legt mir unterstützend die Hand auf die Schulter und ein wohliges Kribbeln durchfährt mich, als ich einen kühlen Luftzug verspüre.

»Wow!« Ich bin überwältigt. Sofort drängen sich Tamika, Sly und Tam an meine Seite und steigen dicht an dicht mit mir die Treppen des Campers hinab. Wir sind umringt. Umringt von unzähligen Wohnwagen in allen Farben des Regenbogens. Manche haben Tücher als Zelte aufgespannt, andere eine Feuertonne vor ihrem Zuhause aufgebaut. Inmitten der Blechwagensiedlung wurde eine Art Klettergerüst zusammengezimmert, auf welchem ein Dutzend Kinder zu Gange ist, und direkt neben unserem orangefarbenen Wohnmobil stehen drei gescheckte Ziegen und fressen unbeeindruckt aus einem Eimer widerliche Essensreste.

»Kommt jetzt!« GAM schwingt seine geliebte Eisenstange und führt unseren Zug von ungläubigen Touristen ins Unbekannte.

»Sind wir unter der Erde?« Tamika greift unsicher meinen Unterarm und haucht mir die Frage ins Ohr.

»Siehst du den Himmel, Tamika?«

»Nein, wieso?«

»Tja, dann.« Mehr kann ich darauf nicht antworten. Weit und breit ist kein Wölkchen zu entdecken und auch die geliebten Sonnenstrahlen, nach denen ich mich so verzehre, sind außer Sichtweite. Über unseren Köpfen erstreckt sich eine Metallkuppel, welche wie eine Patchworkdecke aus Wellblech, Aluminiumträgern und allerhand Schrott zusammengepuzzelt wurde und keinen Ausgang bereithält. Entweder wir sind in einem Bunker, irgendwo im Nirgendwo oder diese Wahnsinnigen haben die Tunnelsysteme in eine unterirdische Stadt verwandelt, um den Drohnen der Regierung zu entkommen. Wie lange sie wohl an diesem Konstrukt gebaut haben?

»Wie viele Boli…«, Sly räuspert sich künstlich, »Also, wie viele von euch leben denn hier unten?« Mutig, mutig, Junge!

»Bei unserer letzten Zählung vor einigen Wochen haben sich 421 Männer, 487 Frauen und 76 Kinder gemeldet. Das ist ein Rekord, auf den wir sehr stolz sind.« GAM grinst. In diesem bulligen Kerl steckt irgendwo ein kleiner Junge, der einfach nur geliebt werden will und Sly ist auf dem besten Weg den Schlüssel zu seinem großen Teddybärenherz zu finden.

»Das könnt ihr auch, GAM. Das könnt ihr!« Dieser Schleimer. Wir vier können ein Schmunzeln einfach nicht verdrücken.

»Wie bist du hier gelandet?« Tamika nutzt die Gunst der Stunde, um den Draht zu unserem Aufseher zu verfestigen.

»Hältst du deinen Mund, wenn ich dir die Frage beantwortet habe, junge Dame?« Aha, junge Dame, so kann es gehen. Noch vor wenigen Tagen hab ich mit angesehen, wie seine Kollegen mit ihren dreckigen Stiefeln auf Tamika eingetreten haben, während sie erschöpft und hilflos am Boden lag, und nun sind wir bei junge Dame. Der Typ frisst uns in kürzester Zeit aus der Hand, wenn wir nur schön weiter Interesse heucheln.

»In Ordnung. Aber nun erzähl, ich bin schon ganz aufgeregt.« Wir laufen im Entenmarsch durch die Wohnwagensiedlung und lauschen GAMs Geschichte:

»Ich hatte eine Frau – Inka – wir lebten in Ost/34 in einem netten Reihenhaus und hatten einen Sohn. Als er erst ein Jahr alt war, wurde Irma erneut schwanger. Wir hatten es nicht geplant, aber die Geburt verzögerte sich und so erblickten unsere Kinder am 03. Januar eines Polarjahres das Licht der Welt.«

»Kinder?« Tamika reagiert schnell.

»Ja. Es waren zwei Mädchen. Centa und Cecille.« Centa, ungewöhnlich seltener Name.

»Aber dann hattet ihr ja drei? Wie…« GAM schneidet ihr das Wort ab und fährt mit starker Stimme fort.

»Gar nicht. Centa wurde uns noch in dieser Nacht weggenommen, da sie die Jüngere der beiden war, und von den Behörden verschleppt.« Mir dämmert es und ich bleibe stehen, damit ich nicht über meine eigenen Füße stolpern muss.

»Du ahnst, was jetzt kommt, oder Roya?« Tam greift mit dem Arm um meine Hüften und zieht mich sanft weiter.

»Ich war außer mir, verlor die Kontrolle und schlug einen der Beamten krankenhausreif. Daraufhin landete ich im Gefängnis und erhielt ein Besuchsverbot für meine Familie. Inka zerbrach schon bald an diesem Unglück und starb ein Jahr später im Haus ihrer Eltern. Valentin und Cecille wuchsen bei Oma und Opa in NW auf und hatten mich vergessen, als ich vierzehn Jahre später aus dem Knast entlassen wurde.«

»Das ist ja grausam!«, entfährt es mir.

»Was hast du erwartet, Prinzessin? Dass wir Boliden, wie ihr so schön sagt, aus Jusx und Tollerei in den Tunneln hausen, weil wir das Sonnenlicht scheiße finden und unter uns sein wollen?« Nein, natürlich nicht, aber seine Geschichte geht mir an die Nieren, auch wenn ich den Namen seiner jüngsten Tochter zu ignorieren versuche.

»Hast du wieder Kontakt zu deinen Kindern erhalten?« Ich muss es einfach wissen.

»Ich versuchte es. Immer und immer wieder, doch Inkas Eltern gaben mir die Schuld am Tod ihrer Tochter und erwirkten eine einstweilige Verfügung gegen mich, die mir verbot, mich mehr als 200 Metern meinen Kindern zu nähern. An Valentins Geburtstag legte ich ein Paket vor die großelterliche Tür und wurde verhaftet. Vier weiter Jahre saß ich ab, bis sich mein Leben schlagartig änderte, als…«

»Gabriel Alexander Moreno, wie lange soll ich noch auf dich und deine Königskinder warten?« Daloris steckt den Kopf aus ihrem hellblauen Wohnwagen und verschränkt genervt die Arme vor der fülligen Brust. »Erzählst du ihnen wieder irgendwelche Märchen aus deiner traurigen Vergangenheit? Schweigen ist Gold – wie oft muss das noch in deinen glattrasierten Schädel hinein?«

»Wie hat sie dich eben genannt?« Sly spricht aus, was wir Schläfer einfach nicht überhören konnten.«

»Gabriel Alexander Moreno – kurz GAM. Seid ihr schwer von Begriff, Leute?« Tamika hat gut zugehört, doch die Abkürzung ist es nicht, die uns stutzig macht. Dieser Typ, dieser Ledermanteltyp mit den tätowierten Armen und der bedrohlichen Statur trägt den Namen Moreno und ist der Vater von einem Gewissen Valentin, welcher in NW aufgewachsen ist und eine jüngere Schwester an die Dritten verlor. So viele Zufälle kann es nicht geben. Mir brummt der Kopf. Die Schweißperlen rinnen mir an den Schläfen hinunter und ich bin des Schluckens nicht mehr mächtig. Dieser Typ, GAM, der brutale, doch im Herzen gütige GAM ist Morenos Dad und wahrscheinlich der Vater unserer amtierenden Präsidentin. Jetzt habe ich Angst. Jetzt habe ich eine scheiß Angst, denn wenn er hier auf einem Autofriedhof lebt, während sein eigen Fleisch und Blut das Land zu retten versucht, dann muss irgendetwas gewaltig schief laufen und das werden wir herausfinden müssen.

BeOne

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