Читать книгу BeOne - Martha Kindermann - Страница 14
120 Sekunden
ОглавлениеIch nehme Tristans Hand und lasse mich auf meine wackligen Beine ziehen. Er ist so süß zu mir, dass es mir das Herz bricht ihn zurückweisen zu müssen. Doch so sehr ich mich auch nach seiner Nähe verzehre, so viele unausgesprochene Dinge lassen die Mauer zwischen uns im Augenblick unüberwindbar werden. Ich habe Angst. Angst vor Rafael und vor dem, den er aus Tristan gemacht hat. Ich weiß nicht, wo wir uns befinden, nur dass Akira den Leuten blind vertraut und es bitter bereuen wird. Mein Bruder hat BePolar verraten, nie seine wahre Identität offenbart, war an mehreren Anschlägen auf unser Land und vermutlich sogar am Tod unserer Schwester beteiligt. Wenn Tristan sein Komplize ist, dann kann und will ich seine Fürsorge nicht. Dann will ich ganz schnell vergessen, dass ich ihn liebe und brauche. Zudem kann ich nicht außer Acht lassen, was mit Tam geschehen ist. Um ein Haar hätte ich Tristan betrogen und das habe ich im Geiste schon zu oft getan. Ich bin eine furchtbare Person, Tristan ist vom Feind umgedreht worden und Tam verschwunden. Ich kann nicht klar denken. So viele Gefühle wirken gleichzeitig auf mich ein. Wenn ich in seine tiefblauen Augen schaue, ist es Sehnsucht. Wenn ich aus diesem Wagen steige, Angst. Sobald ich meinem Bruder gegenüberstehen werde, Hass, und denke ich an Tam, den ich zurückgelassen habe, Scham.
»Komm, es gibt ein paar Leute, die dich sicher gern begrüßen würden.« Tristan schlägt die Wagenplane beiseite, lässt meine Hand jedoch nicht los.
»Ich werde nicht bleiben. Ich werde Akira suchen und sie überreden, weiterzufahren. Die anderen müssen gewarnt werden!« Ist das ein Lächeln, das seine Lippen umspielt? Lacht er mich aus? »Was ist bitte so komisch?«
»So sicher wie in diesem Augenblick warst du vermutlich in den letzten zwei Jahren nicht. Lehmann und der Großteil der Akademiedozenten sind hier und auch Fenja und Elvis sind mittlerweile fester Bestandteil der Sternenwacht. Ich zeige dir alles. Komm!«
»Fenja ist hier?«
»Ja und ihr geht es gut. Sie ist gerade ins Basisteam, also unsere IT-Abteilung, eingeteilt worden und war während der letzten Wochen meine Partnerin in der Akademie.« Meine Augen fallen jeden Moment aus dem Kopf. »Das ist nur die Kurzversion. Alles andere später. Du wirst sicherlich sehnsüchtig erwartet.«
Eine große Menschentraube hat sich mittlerweile um den LKW gebildet, und als ich gerade einen Fuß auf die Erde gesetzt habe, rennt Fenja übermütig in meine Arme.
»Roya!« Ich werde im ganzen Gesicht abgeknutscht und freue mich dennoch wahnsinnig, sie zu sehen. »Lass dich ansehen. Du bist ja ganz dünn und deine Haare, verflucht, die gehen gar nicht!« Als hätten wir sonst keine Probleme.
»Könnte sich jemand um Sly kümmern? Wir mussten ihn leider außer Gefecht setzen, bevor er uns alle über den Haufen geschossen hätte.« Klingt ausgesprochen einfach unvorstellbar abstrus.
»Ich bringe ihn wieder auf die Beine. Roya, komm du erst einmal an.« Tima, der liebenswürdige, massige Nahkampfcoach, dem ich so manchen Muskelkater und viele farbschöne Prellungen verdanke, legt sich den langen Sly problemlos über die Schultern und trägt ihn in das Fabrikgebäude hinter uns. Das Loft, wie Tristan es nannte. Ich atme tief ein und folge meinen vermeintlichen Freunden ins Innere dieser trostlosen Baracke.
Tristan weicht mir kaum von der Seite, wagt es jedoch auch nicht, meine Hand noch einmal zu ergreifen. Bin ich dankbar für die Zurückhaltung oder sauer, dass er es nicht wenigstens versucht? Keine Ahnung.
In der Mitte der riesigen Halle ist ein langer Tisch, voll mit allerhand Lebensmitteln beladen, und Rafael winkt uns zu sich. Wo ich auch hinsehe, erblicke ich bekannte Personen. Die halbe Schläferkompanie der ersten Stunde scheint anwesend zu sein. Der Surferboy Henner und die quirlige Sus mit der Igelfrisur, draußen im Hof. Taranee an Rafaels Seite und dahinter lümmeln Iso, Marlon und auch Berd auf einer Ledercouch, die vermutlich aus dem vorletzten Jahrhundert stammt und sicherlich viele Geschichten erzählen könnte.
»Lass dich ansehen, Schwesterherz!« Rafael packt mich bei den Oberarmen und mustert mich von Kopf bis Fuß. »Haben die Boliden euch auch etwas zu essen gegeben? Du siehst aus wie ein Vogelscheuche, wenn ich das sagen darf.«
»Danke für nichts!«, bringe ich krächzend hervor.
»Setz dich und trink erstmal ein Glas Wasser. Tristan, könntest du?« In Rekordgeschwindigkeit eilt Tristan an meine Seite und ich nehme einen großen Schluck. Alles ist so verwirrend.
»Ich mag nicht undankbar sein, aber mir wird dieser Rummel hier einfach zu viel. Ich versteh nicht, was ihr hier treibt und wofür all die Fressalien gut sein sollen. Geht ihr auf Wanderschaft, oder so?«
»Gut erkannt, Kleine!« Schon lange her, dass er mich so genannt hat und es fühlt sich alles andere als richtig an. Bis ich seine Geburtsurkunde nicht mit eigenen Augen gesehen habe, werde ich diesem Typ kein Wort mehr glauben. Scheint ihm jedoch egal zu sein.
»Eigentlich wollten zwei unserer neugegründeten Einheiten heute Abend in der Dämmerung auf Erkundungsmission aufbrechen, aber wenn ich deinen Freund so ansehe, werden wir unsere Abreise wohl um einen Tag verschieben. Länger kann ich euch beiden nicht geben, sorry. Ich werde mich gleich mit Mirco und den anderen zusammensetzen und herausfinden, wie ihr hier landen konntet. Danach trommeln wir alle zum Krisengespräch zusammen und machen einen Plan, wie wir euch unbemerkt dennoch zurück in die Hauptstadt eskortieren können. Schließlich muss die Show weitergehen, nicht wahr?«
Diese verdammt Show! Aber ja, er hat recht. Ohne Show keine neue Hoffnung für BePolar und ohne Schläfer keine friedliche Infiltration der Regierungsebene. Centa Jünger war nicht bereit, sämtliche Eleven aus den Fängen der Boliden zurückzukaufen. Bleibt weiterhin die Frage, warum, und was uns Schläfer so einzigartig macht. Sie war maßgeblich an unserer Ausbildung beteiligt und weiß, wozu wir im Stande sind, aber die Initiation braucht mehr als eine Handvoll geschundener und traumatisierter Jugendlicher, um für die Bevölkerung interessant zu bleiben. Wie sieht das denn aus, wenn die Hälfte der Gruppe das Camp nicht übersteht? Dann war es das mit der Realityshow. Dann können sie ihren ganzen Medienrummel und die monatlichen Abstimmungen knicken. Dann stehen die Finalisten schneller fest als geplant und…
»Roya?« Mmh, was? Tristan kniet vor mir und fängt gerade noch mein Wasserglas auf, bevor es auf dem Boden landet und in tausende Scherben zerbricht. Ich bin durch.
»Sorry!«
»Ich zeig dir einen Platz, an dem wir mal für ein paar Minuten unter uns sind, okay?« Ich könnte nein sagen. Ich könnte rausrennen und mich alleine nach Midden durchschlagen. Ich könnte so viele undurchdachte Dinge tun, aber das wäre dumm und vermutlich sogar lebensmüde. Also folge ich meinem einstigen Herzbuben ins Unbekannte und hoffe auf ein paar überfällige Erklärungen.
Tristan führt mich zu einer Seitentür hinter der Küche und zurück auf den belebten Hof. Unbemerkt winden wir uns an unzähligen Autowracks und Motorrädern vorbei und gelangen an die Rückseite der rotgeziegelten ehemaligen Fabrik. Eine rostige Feuerleiter führt hinauf auf’s Dach des Gebäudes und Tristans Zwinkern bestätigt meinen Verdacht, dass genau dieses unser Ziel sein wird. Was hat er nur immer mit diesen Höhen? Damals im Kranfahrerhäuschen, am Tag der Beerdigung meiner Schwester Rhea, hat er mir sein Herz ausgeschüttet und Licht in das Dunkel seiner traurigen Vergangenheit gebracht. Er durchlebte den Tod seiner Mutter erneut, um mir sein blindes Vertrauen zu beweisen, und ließ mich an seiner Kindheit in Gefangenschaft und dem Desinteresse seiner Familie teilhaben. Jetzt ist er mir erneut ein paar Antworten schuldig und ich hoffe inständig, dass wir den Draht zueinander noch nicht verloren haben.
»Das ist ungefährlich, Roya. Vertrau mir!« Es ist erst wenige Wochen her, dass ich auf diesen Satz mit dem bedeutenden Wort ›immer‹ antwortete, und nun hat sich alles verändert. So gern ich seine Hand ergreifen, seinen Mund küssen und seine Haare durcheinanderbringen möchte, dieses kleine Wörtchen will mir nicht über die Lippen. »Roya?« Ja? Sieh mich nicht so an! Bitte, ich brauche nur noch eine Sekunde.
Und dann lege ich meine Hände auf die Sprosse in Augenhöhe, hebe meinen rechten Fuß und komme dem Himmel Schritt für Schritt näher.
»Darf ich dir helfen?« Eine einladende Hand greift nach meiner und zieht mich den letzten Meter auf den geteerten Untergrund des weitläufigen Daches. »Hier entlang.«
Wir laufen um mehrere Schornsteine herum und steigen eine weitere Minileiter nach oben, bis wir auf einer kleineren Anhöhe enden. Ein paar Holzkisten und Latten wurden zu einer groben Bank mit Lehne zusammengezimmert und bietet Platz für drei Hintern oder eine liegende Person.
»Setz dich doch.« Tristan lässt mir den Vortritt und holt anschließend zwei Flaschen undefinierbaren Inhalts aus einer weiteren Kiste, die außerdem als Tisch fungiert.
»Limonade?« Ich nehme sein Angebot entgegen und beäuge neugierig das bräunliche Glas ohne Etikett oder Verfallsdatum. »Iso hat eine Spezialität aus dem Heim gekocht und da habe ich mir gleich einen Vorrat abgezweigt – für besondere Anlässe, versteht sich!« Ich muss schmunzeln.
»Ist das hier dein geheimer Lieblingsplatz und ich die erste Person, die ihn zu Gesicht bekommt?« Tristan ist kein kleiner Junge mehr, der sich ein heimliches Versteck schaffen muss, um der Realität entfliehen zu können, aber ein hoffnungsloser Romantiker, der meine Frage sicherlich mit Ja beantworten wird. Ich weiß es einfach.
Er öffnet grinsend die Limonade, setzt sich zu mir auf die Bank und richtet seinen Blick über den angrenzenden Wald, bevor er nickt.
»Irgendetwas musste ich ja tun, um meine Nutzlosigkeit zu verdrängen und vor lauter Sorge nicht wahnsinnig zu werden.« Immer noch kleben seine Augen an der unbeschreiblich schönen und ruhigen Aussicht. »Vielleicht habe ich es gewusst. Gewusst, dass ich es dir irgendwann würde zeigen können.«
Ich bin plötzlich zu tiefst gerührt und beiße die Zähne aufeinander, um keine Träne entweichen zu lassen.
»Ich fühlte mich wie in einem Gefängnis und war doch die ganze Zeit frei. Ich lebte mit Menschen auf engstem Raum, die das Beste aus mir herausholen wollten, und flüchtete dennoch in freien Minuten auf’s Dach. Ich habe mich gesorgt um dich und trotzdem zu jeder Minute gewusst, dass wir uns wiedersehen werden.« Er dreht den Kopf und sieht mir nun in die feuchten Augen.
»Roya, ich bin angekommen. Ich habe ein zu Hause gefunden und du machst mein Glück perfekt.« Er lacht und schließt für einen kurzen Moment seine strahlenden Augen. »Polar versinkt im Chaos und bald wird auch der Rest der Bevölkerung feststellen, dass wir die Veränderung nicht mehr aufhalten können. Die Gefahr ist allgegenwärtig, und trotzdem bin ich glücklich. Ich bin Teil von etwas, ich habe eine Aufgabe erhalten und ich sehe das Ziel vor Augen. Du bist ein wichtiger Baustein dieser Zukunft, und wenn die Pläne der Wächter aufgehen, dann wirst du im nächsten Sommer deine Ausbildung in der Warte fortsetzen und in ein paar Jahren dieses Land mitführen.« Er nimmt einen Schluck und schenkt mir ein erneutes Lächeln.
»In meinen Träumen sehe ich dich in einem eleganten Abendkleid vor den Stufen des Regierungspalastes stehen und in die Kamera winken. Ich werde hier sitzen, jeden deiner Schritte verfolgen und auf dich warten.«
»Tristan, ich…« Sein Zeigefinger wandert auf meine geöffneten Lippen und bringt mich zum Schweigen.
»Nimm mir diese Träume nicht, bitte. Gib mir zwei Minuten und schau mit mir über die Wipfel des Waldes. Stell es dir vor und denk mal ein paar Sekunden nicht an alles Schreckliche. Bitte!«
Er ist so wunderbar. So wunderbar. Wie konnte ich zweifeln? Wieso, verdammt nochmal, bin ich stur und verschließe mich vor diesen zwei Minuten puren Glückes? Die letzten Wochen waren unbeschreiblich hart und grausam. Wir beide haben es verdient. Rafael, Fenja, Tam und auch Rhea werden warten. 120 Sekunden warten.
Ich lehne mich zurück und greife seine warme Hand. Das Getümmel des Hofes ist hier oben kaum hörbar und der Wind bläst mir die spröden Haare ins Gesicht. Zwei Minuten – ab jetzt!
»Roya, wach auf!« Vorsichtig hebe ich meine Augenlider. Ich muss vor lauter Glücksmoment weggenickt sein. Wie lange, kann ich nicht sagen, aber ich spüre den Abdruck von Tristans Schulter in meinem Gesicht und wackle mit den tauben Fingern, um frisches Blut hinein zu pumpen. Es ist wie damals im Kino, nur – erwachsener. Nicht langweilig erwachsen, sondern sorgenvoller, reifer und dankbarer. Mein Körper brauchte diese kleine Auszeit an Tristans Seite und er hat sie mir möglich gemacht.
»Wenn es nach mir ginge, könntest du den ganzen Tag und die ganze Nacht mit deinem hübschen Kopf auf meiner Schulter liegen, aber die Anderen warten.« Er legt behutsam einen Arm um meine Schulter und küsst verhalten meinen Kopf. »Magst du noch irgendetwas wissen, bevor wir uns zu den Wächtern gesellen und du die ganze Bande kennenlernst?«
Mein Kopf war voller Fragen, als ich die Leiter emporstieg. Wo sind sie hin? Hat mich die Nähe der Wolken vielleicht auch im Geiste etwas leichter gemacht?
»Erzähl mir von deiner Aufgabe hier!«, bitte ich Tristan und er beginnt zu kichern. »Was ist so lustig?«
»Gar Nichts. Ich nahm nur an, du würdest mich über Rafael, Taranee oder den Rest der Crew ausfragen. Dass dich mein Schicksal gerade am meisten beschäftigt, macht mich sehr glücklich. Das ist alles.« Er nimmt meine abgestumpften Haare zwischen seine Finger und fährt fort.
»Morgen brechen wir in einer kleinen Gruppe zu den Dritten auf. Wir wissen, dass es vier große Häuser gibt, in denen die Drittgeborenen beherbergt und unterrichtet werden und bis zu ihrer Volljährigkeit bleiben. Rafael und Josi sind sich in einem dieser geheimen Standorte begegnet und kennen den Weg. Wir werden herausfinden, wo Centa stationiert war, was damals mit Cornelius und Caris passierte und wie sie es geschafft hat, sich in die Elevenriege zu mogeln. Außerdem…«
»Also doch.« Schlagartig setze ich mich auf und starre ihn konzentriert an. »Centa hat sich reingemogelt? Dann ist an Daloris' Geschichte doch etwas dran. Aber auch egal, sie ist unsere Präsidentin und noch dazu eine wahnsinnig fähige. Wen interessiert ihre Vergangenheit und der unglückliche Umstand, dass sie als Morenos jüngste Schwester abgeschoben werden musste?« Tristan schaut mich an wie eine Kuh, der gerade das Euter zum ersten Mal an die Melkanlage angeschlossen wird.
»Moreno? Unser Moreno ist Centas Bruder?« Er nimmt mein Gesicht zwischen die Hände und drückt mir einen Kuss auf die trockenen Lippen. »Roya, du bist der Wahnsinn! Jetzt ergibt alles Sinn.« Ich verstehe nur Bahnhof. »Komm, wir müssen es Rafael sagen, das ist das fehlende Puzzleteil, nach dem wir schon so lange suchen.« Noch ein Kuss, um den ich nicht gebeten habe, und er zieht mich in die Senkrechte. »Ich könnte dich – später – wenn du erlaubst. Ach Mist, wir müssen. Komm!«
Im Loft ist ein wenig Ruhe eingekehrt, da sämtliche Wächter an Rechnern sitzen, in Gespräche vertieft sind oder über Lagepläne sinnieren. Rafael und Mirco Lehmann lehnen, mit einem Pott Kaffee bewaffnet, an einer milchigen Fensterfront und sind in eine rege Unterhaltung vertieft.
»Roya hat eine wirklich wichtige Ankündigung zu machen.«
»Hab ich das?« Tristan fällt ohne Vorwarnung sofort mit der Tür ins Haus und nun muss ich Rede und Antwort stehen.
»Das ist doch wunderbar«, entgegnet Lehmann mit vorfreudigen Augen, »sollen wir ein paar Leute zusammentrommeln, oder reichen dir unsere vier offenen Ohren?« Ich muss schmunzeln, denn die Atmosphäre hier ist alles andere als angespannt, und auch Rafaels Anwesenheit macht mich nicht so nervös, wie befürchtet.
»Sie reichen, Herr Lehmann, denke ich.«
»Roya«, er legt mir eine Hand auf die Schulter, »wenn es für dich in Ordnung ist, würde ich unser Lehrer-Schüler-Verhältnis gern aufkündigen und auf eine freundschaftliche Basis klettern. Nenn mich Mirco, das ist einfacher.«
»Mal sehen, ob das klappt, Mirco. Danke.« Ich lächle etwas peinlich berührt und greife nach der Teetasse, die Rafael mir entgegenstreckt.
»Minztee aus eigener Ernte?«, fragt er vorsichtig, aber auch ein wenig stolz.
»Gern.« Und dann kann es auch schon losgehen. Ich erzähle von GAM und der tragischen Geschichte seines Lebens. Wie ihm die jüngste Tochter Centa von der Regierung genommen wurde und die Familie daran zerbrach. Wie er jahrelang im Gefängnis saß, während seine Frau verstarb und die beiden älteren Kinder ihren Vater zu hassen begannen. Dass Valentin Moreno sein Fleisch und Blut ist und kein Wort mehr mit ihm redet, sodass sich GAM schließlich den Boliden anschloss und der Zivilisation vorerst den Rücken zuwandte. Als ich fertig bin, haben sich einige neugierige Zuhörer zu uns gesellt, und ich komme mir vor wie die Märchentante vom Jahrmarkt.
»GAM trägt sein Herz auf dem rechten Fleck«, ergänzt Sly von der Seite meine Ausführungen. »Er ist äußerlich ein grober Typ, aber ich glaube, das Schicksal war einfach nur scheiße zu ihm und im Ernstfall wäre er uns eine große Hilfe.«
Wumm – alle im Loft zucken erschrocken zusammen, als mein Bruder seine leere Kaffeetasse mit voller Wucht gegen die nächste Wand kracht und nichts als bunte Scherben zurückbleiben.
»So eine Scheiße!« Er kocht vor Wut und mir gefriert das Blut in den Adern. Sein ruhiges Verhalten und die Nettigkeiten waren wohl doch nur eine Farce, um mich bei Laune zu halten. »Warum wussten wir davon nichts? Wir drehen uns seit Wochen im Kreis und versuchen, Entins wahre Absichten zu entschlüsseln. Macht er mit Centa gemeinsame Sache und plant Anschläge in BePolars Namen? Ist er nur ein Handlanger mit zu großen Träumen? Haben wir ihn enttäuscht und deshalb hat er die Seiten gewechselt? NEIN, er war die ganze Zeit Centas verlogener großer Bruder und hat uns alle verarscht. Wer weiß, was er den Kids für kranken Mist eingepflanzt hat, während wir seine Fortschritte bewunderten?«
»Rafael, das ist, glaube ich, nicht der richtige Rahmen für diese Art von Debatte.« Herr Lehmann, also Mirco, versucht, die Wogen zu glätten, bevor der rasende Rafael das Loft kurz und klein schlägt.
»Sagtest du einpflanzen, Rafael?« Sly ist, wie zahlreichen anderen, sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen. »Meinst du, er hat uns Schläfern gruselige Befehle programmiert, und jetzt warten wir ab, was passiert?«
»Ganz ehrlich? Ja, genau das glaube ich und es tut mir wahnsinnig leid. Aber so viele offene Fragen erhalten durch diese Erkenntnis plötzlich eine Antwort. Lana, Caris, die Zwillinge…«
»Ich.« Es ist nur ein leises Wispern aus Slys Mund, aber alle Scheuklappen fallen gleichzeitig. »Ich. Ich habe mich aus der Munitionskiste befreien können, weil Moreno es uns beigebracht hat. Ich habe Menschen getötet, ohne geistig überhaupt anwesend zu sein. Ich habe Erinnerungslücken, so viele, dass ich aufgehört habe, sie zu zählen, und mache mir vermutlich gleich in die Hose.« Mein großer und so tougher Freund ist nur noch ein Schatten seiner selbst und seine verzweifelte Trauermiene färbt auf uns andere Schläfer ab. »Wir sind eine Gefahr. Ihr müsst uns hier wegbringen. Weit weg. Vielleicht waren wir bei den Boliden ganz gut aufgehoben.«
»Nein, wart ihr nicht!« Rafael lässt keinen Zweifel zu. »Daloris hat den friedlichen Widerstand verlassen, um sich in den Wäldern eine Armee aufzubauen, anstatt in Frieden die Abgeschiedenheit zu genießen. Sie hat uns hintergangen und im Unglauben gelassen. Sie hat uns GAMs Existenz verschwiegen und Akira ohne Vorwarnung zu uns geschickt, was die Frage aufwirft, woher sie vom Loft erfahren haben.« Erleichtert legt er Sly die Hände auf die Schultern und sieht ihn eindringlich an.
»Junge, wenn du deine Freakshow da im Wald nicht abgezogen hättest, säßet ihr Schläfer bereits auf Centas samtenen Stühlen und würdet in die Kameras lächeln.« Recht hat er. »Welch glücklicher Umstand, dass Berds paralysiertes Umherwandern Akira zum Umdrehen ermutigte und sie euch zu Hilfe eilen konnte.«
»Weiß sie es? Centa? Also, dass wir wahrscheinlich manipuliert wurden?« Ich muss es wissen, denn bis vor wenigen Stunden war unsere Präsidentin mein unangefochtenes Idol und eine großartige, starke und zudem sympathische Person mit einem eigentümlichen Lebenslauf, zugegeben. War ich wirklich so blind?
»Aber sicher!« Rafael blickt ernst in die Runde und bringt uns dazu, die Luft anzuhalten. »Sie braucht euch wieder zurück, denn dann kann sie die dressierten Affen vor aller Augen durchdrehen lassen und beweisen, dass sie die einzig wahre Anführerin an der Landesspitze Polars ist und die Polarjahrtradition völlig überholt und schwachsinnig.«
»Aber, das wolltet ihr doch, oder? Die Initiation abschaffen und faire Verhältnisse schaffen.« Taranee bringt meine Gedanken zum Klingen.
»Schon«, ergreift Mirco das Wort, »aber wir wollten es auf ehrliche Weise und mit der Unterstützung und dem Verständnis der Bevölkerung tun. Dass Centa eine Gefahr werden könnte, vermutete meine Abteilung ja schon länger, deshalb bin ich hier. Aber die Akten der Dritten werden ausgetauscht, sobald sie in einem der Häuser stationiert werden. Wir haben einen fiktiven Nachnamen und sonst nichts.«
»Jünger«, Berd schiebt die Brille zurecht und lässt den analytischen Logiker raushängen. »Sie ist die jüngste Tochter – möglicherweise ein makaberes Wortspiel.« Ich sehe viele nickende Köpfe.
»Das könnte gut sein, Berd«, lobt Lehmann.
»Aber wenn wir doch alle dieselben Ziele haben, warum gibt es dann so viele unterschiedliche Lager?« Richtig Berd.
»Die Morenos wollen das Land dafür büßen lassen, was sie Centa angetan haben, und beweisen, dass die Dritten gefährliche Waffen auf den Stühlen der Macht sein könnten. Sie haben aber nicht vor, ihre Macht aufzugeben und dafür müssen sie euch Eleven opfern.«
»Scheiße, Mirco!« Rafael greift nach der nächsten Tasse, wird jedoch einsichtig und stellt sie in Zeitlupe zurück auf den Tisch. »Sie haben die Bedrohung BePolar mit aufgebaut, um alles unter Kontrolle zu haben, und jetzt sind wir ihre Puppen, die sie tanzen lassen. Wir sind am Arsch.«