Читать книгу Das geschenkte Mädchen - Martin Arz - Страница 12

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»Sansibar war immer mein Traum. Sansibar – schon der Name allein verheißt die süßesten Träume von Exotik«, pflegte ich immer zu sagen, wenn mich jemand fragte, warum ich nach Afrika gekommen war. Sansibar, allein der Klang des Namens! Nun, es hatte nicht sollen sein. Sansibar sollte immer ein unerreichter Traum für mich bleiben. Ein Traum, der allmählich weiter und weiter in Vergessenheit gerät, seit ich hier bin. Hier in dem Land, das für mich eine zweite Heimat geworden ist, obwohl es mit meiner geliebten Heimat im fernen Königreich Bayern rein gar nichts gemein hat. Absolut gar nichts. Ich habe Sansibar gegen Kamerun eingetauscht. Wie konnte ich ahnen, daß ein primitiver Negerstamm und ein kleines Negerpüppchen mir das vollkommene Glück bringen würden? Doch ich greife vor und muß nun von vorne beginnen. Im Jahre 1890, in dem alles seinen Anfang fand:


Mit einem kräftigen »Patsch« erschlug ich bestimmt die tausendste Mücke. Ihr zerdrückter Körper und die paar Tropfen Blut, die sie mir abgezapft hatte, bildeten ein pittoreskes Muster auf meinem Handrücken. Mich ekelte, so schnippte ich den toten Plagegeist in das Urwalddickicht. »Patsch«, die nächste, und »patsch«, wieder eine. Warum tat ich mir nur diese Hölle an?! Wie hatte ich je so wahnsinnig sein können, Bertram Jacobsens Drängen nachzugeben? Oh ja, die unermeßlichen Reichtümer lockten, doch dafür mußte ich durch die Hölle gehen. Doch was für eine! Zwar heiß, aber nicht lavarot, sondern dschungelgrün. Trotz allem die schönste und verführerischste, die man sich vorstellen kann. Eine Hölle, die süchtig macht, die mich gefangenhält. Und ich bin gerne ihr Gefangener.

Sansibar war einst der Grund für mich, München und meine heißgeliebten Eltern zu verlassen, und in Bremen in die Dienste des Handelshauses Jacobsen & Co. einzutreten. Vermutlich hatte ich das gleiche Fernweh geerbt, das meinen Bruder Josef weiland in die Marine eintreten ließ, um die weite Welt zu sehen. Mich trieben die faszinierenden Berichte der berühmten deutschen Afrikaforscher Gerhard Rohlfs und Gustav Nachtigal, die dem dunklen Kontinent mutig Geheimnis um Geheimnis entrissen. Doch meine Hoffnung, die während meiner Lehrjahre in Bremen ständig neu genährt wurde, nach der Ausbildung in die Niederlassung nach Sansibar versetzt zu werden, zerschlug sich an dem Tag, als der Seniorchef Jacobsen beschloß, eine weitere Niederlassung in Kamerun zu eröffnen. Der Kautschuk-, Elfenbein- und Palmölhandel verhieß größte Gewinnspannen. Also wurde ich gemeinsam mit seinem jüngsten Sohn Bertram nach Duala geschickt, zwei weitere Faktoreien zu den bereits seit langem betriebenen drei Faktoreien der Firma Jacobsen & Co. aufzubauen und zu leiten.

So wurde mein afrikanischer Traum in Kamerun Wirklichkeit. Jacobsen & Co. besaß an der Westküste Afrikas Niederlassungen an den Gestaden Gabuns, die älteste bereits seit 1867, in Liberia und in Dahomey und galt neben den Firmen C. Woermann und Jantzen & Thormählen als eines der wichtigsten Handelshäuser für die reichen Schätze dieses fernen Erdteils. Jacobsen sen. selbst hatte einst an jenen historischen Tagen im Juli 1884 gemeinsam mit den Herren Woermann, Jantzen und Thormählen den Vertrag ausgehandelt, in dem die Könige Bell, Dido und Akwa die Hoheitsrechte ihrer Länder an die deutschen Firmen übertrugen.

Als das Schiff im Jahr 1887 in Duala eintraf, das Bertram Jacobsen und mich in die neue Heimat brachte, war Sansibar für mich mit einem Schlag in weite Ferne gerückt. Der beeindruckende Berg der Götter, der Kamerunberg, dessen scharf umrissener duftiger Gipfel mit einem Mal aus der blauen Flut auftaucht und schon weit vom Meer aus sichtbar den Seefahrer zu sich lockt! Mächtige Gebirgszüge mit schneebedeckten Kuppen, die sich über dem dichten Grün wildwachsender Gebüsche und Wälder erheben. Welch gigantisches Eingangstor hat die Natur hier zum Herzen Afrikas erschaffen! Freilich – das überwältigende Panorama, das man von See aus hat, weicht beim Näherkommen einem öden Küstenbild. Dichtes Mangrovengebüsch bedeckt die Landschaft, die nur selten durch die aus dem Buschwerk herauslugenden Hütten eines Fischerdorfes belebt wird. Ab und an kreischt irgendwo ein Papagei. Nach gut zwei Stunden Fahrt wurde das Bild für uns Neulinge endlich anziehender, der Regierungssitz am rechten Ufer des Kamerunflusses kam in Sicht, ebenso mehrere europäische Anlagen und einige Negerdörfer.

Diese betörende Üppigkeit der Tropen, die den Ankommenden begrüßt! Der augenscheinliche Überfluß an Nahrungsmitteln und wertvollen Rohstoffen überstieg schon damals alle unsere Erwartungen. Dazu noch die uns Deutschen freundlich gesinnten Neger.

Doch wir mußten auch schnell lernen, daß sich die Natur niemals nur gütig zeigt. Die Tropen warten mit Gefahren auf, die uns Europäer nur allzuoft bis ins Mark erschüttern. Das Klima, die Hitze und die Feuchtigkeit setzten uns bald schwer zu. Ebenso manch Ungeziefer und Gewürm. Und nie werde ich unseren panischen Schrecken vergessen, der uns bei dem ersten tropischen Gewitter überfiel. Dieses Krachen, als würde sofort die Welt untergehen. Man erwartet, in wenigen Sekunden vor dem Schöpfer zu stehen. Auch heute noch bereitet mir ein besonders heftiges Gewitter Unbehagen. Doch wie wunderbar sind dann wieder die von mildestem Sternenlicht durchflossenen Nächte, erfüllt mit dem verschwenderischen Duft märchenhafter Blüten. Nächte, in denen allerlei rätselvolle Stimmen an dein Ohr dringen, in denen gelegentlich eine kleine Negermusik aufbrummt, oder wie Geisterspuk das Schlagen einer Nachrichtentrommel ertönt und wieder verebbt. Wer je den Zauber einer solchen Nacht erlebt hat, vergißt Sansibar gerne.

»Massa Frese!« Mein Boy Robert kam zu mir gelaufen. »Hier, das Essen ist fertig.« Er hielt mir einen Teller mit gebratenem Fleisch und zwei gekochten Bananen sowie einen Becher unvergorenen Palmenweines hin. »Ich habe für Sie Lendenfleisch ergattert«, sagte er stolz. Er strahlte mich an und erwartete Lob, das ich ihm eigentlich nicht geben konnte, denn mir graute vor dem Essen.

»Gut, Robert«, sagte ich trotzdem und nahm ihm den Teller ab. »Das hast du gut gemacht. Danke.« Müde lehnte ich mich an den Baumstamm eines Urwaldriesen und betrachtete das Fleisch. Die Soldaten hatten an diesem Tag nichts anderes vor ihre Gewehre gekriegt als Schimpansen. Affenlende als Abendessen. Ich hatte mir meine erste Reise ins Landesinnere schlimm vorgestellt, aber nicht so schlimm. Ach, Sansibar – nur, wenn man im tiefsten Dschungel sitzt und ein Schimpansenschnitzel auf den Knien balanciert, überwältigen einen die Sehnsüchte nach der paradiesischen Gewürzinsel vor der Küste Deutsch-Ostafrikas. Vor vier Tagen waren wir in Duala aufgebrochen und steckten nun in der grünen Hölle.

»Na, Herr Handlungsreisender, schon an den Urwald gewöhnt?« Mein Expeditionsleiter gesellte sich zu mir und setzte sich auf seinem Klappstuhl neben mich. In Minutenschnelle war stockfinstere Nacht hereingebrochen.

»Wie soll man sich daran gewöhnen?« fragte ich zurück und deutete auf seinen Teller. Unser Expeditionsleiter, dessen Namen ich hier verschweigen möchte, um seine Familie zu schonen, da er sich im Laufe unserer Reise wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert hat, hatte offenbar ein weniger gutes Teil vom Schimpansen abbekommen als ich. Es sah mir sehr nach einer verkohlten Hand aus.

»Ach, ich habe schon Schlimmeres gegessen«, antwortete er mit einem Achselzucken und knabberte an einem Affenfinger herum.

»Wann erreichen wir endlich das Hochland?« fragte ich und begann mit dem Verzehr der Affenlende. Nach afrikanischer Sitte tunkte ich das Fleisch in einen Topf mit dampfender, würziger Pfeffersauce. Wider Erwarten schmeckte die Mahlzeit köstlich und mein Ekel legte sich ebenso schnell wie damals, als ich das erste Mal in Palmöl gesottene Maden vorgesetzt bekam. Schimpanse schmeckt erstaunlicherweise einem Schwein nicht unähnlich.

»Schon ungeduldig? Wir sind erst vier Tagesmärsche von Duala entfernt. Ich bin diese Strecke noch nie gegangen.« Unser Führer hatte das Innere von Kamerun bereits in mehreren Expeditionen erkundet. Er sprach zudem einige Eingeborenendialekte und kannte sich bei den Gepflogenheiten mancher Stämme aus. Deshalb hatte ihn das Handelshaus Jacobsen & Co. für gutes und vor allem teures Geld angeworben. Es konnte nicht angehen, daß fast alle bisherigen Versuche, das Landesinnere für den Handel zu erobern, fehlgeschlagen waren, ob es nun deutsche, englische oder französische Expeditionen waren. Nun hatten sich seit unserem Aufbruch erhebliche Zweifel an den tatsächlichen Qualitäten unseres Expeditionsleiters eingeschlichen. Statt den bekannten Weg über Malimba und dann den Lauf des Flusses Sanaga entlang durch den Urwald zu ziehen, hatte er darauf bestanden, eine »Abkürzung« quer durch das grüne Dickicht zu nehmen.

»Geben Sie ruhig zu, daß Sie nicht wissen, wo wir sind«, sagte ich deshalb scharf. »Sie haben uns in die Irre geführt.«

»Solche Expeditionen sind nichts für Händler, Herr Frese«, sagte der Mann schmatzend. »Sie haben mich als Führer bestellt, also werde ich Sie führen. Vertrauen Sie mir. Quer durch den Urwald kommen wir schneller nach Balinga. Sie werden staunen, das ist kein Dorf, das ist eine richtige Negerstadt. Von da aus können wir eine Karawanenstraße nehmen und im Handumdrehen sind wir in Jokó.«

»Sie tun so, als sei das ein Spaziergang!«

»Herr Frese, diese Expedition ist ohnehin mit zu wenig Mitteln ausgerüstet! Soll ich Wunder vollbringen? Sie können froh sein, daß ich ein paar gute Krieger vom Volk der Wute habe, die uns vor den schlimmsten Gefahren beschützen können. Sie sollten beten, Frese, daß das hier gut geht, nur weil die im fernen Deutschland meinen, man könne für ein paar Pfennige schnell mal durch wildes Gebiet ziehen! Gehen Sie rüber zu den Frömmlern und beten Sie. Oder kehren Sie um, Frese! Bitte sehr. Und dann sollten Sie warten, bis der Reichstag endlich mehr Mittel für Militärexpeditionen locker macht und das Hinterland von räuberischem Pack gesäubert wird.«

»Sie wissen wie ich, daß der Reichstag mit Mitteln für die Schutzgebiete geizt. Außerdem, mein Lieber, waren es wir Kaufleute, die das Gebiet dem Reich gesichert haben! Wir bringen Frieden und Wohlstand …«

»Und füllen nebenbei die Geldsäcke. Na, wie Sie wollen, Herr Frese. Aber passen Sie mal schön auf, daß Sie mit Ihren Geschäften nicht den Haussa in die Quere kommen. Die haben es gar nicht gerne, wenn man ihnen ins Handwerk pfuscht.« Er lachte ekelhaft.

»Lassen Sie die Haussa mal mein Problem sein«, erwiderte ich scharf. Die Haussa, ein Mischlingsvolk zwischen Fulbe und Sudannegern, das einst so mächtige Königreiche wie das berühmte Sokoto hervorgebracht hatte, beherrschen seit Jahrhunderten den Handel in ganz Zentralafrika. Fast alle Haussa-Stämme sind zwar mittlerweile Vasallen der edlen Fulbe-Fürsten, doch die Fulbe haben nur die Macht, die Haussa den Reichtum. Nicht zuletzt deshalb nennt man diese Meister des Schacherns auch die Juden Afrikas. Doch das afrikanische Handelsprinzip ist noch erheblich vielschichtiger und komplizierter, als es sich unser Expeditionsleiter vorstellen konnte. Ich selbst hatte in den drei Jahren meines Hierseins erhebliche Mühe aufgewandt, um dieses verwirrende Geflecht von Warentausch zu begreifen.

»In Jokó sind wir dann wenigstens die Pfaffen los. Wenn sie nicht schon vorher von den Heiden aufgeknüpft werden«, sagte unser Anführer mit vollem Mund und machte eine Kopfbewegung zu den zwei Missionaren, die mit uns zogen. Es waren die Brüder Alois und Alfred Kottbauer aus dem Badischen. Sie hatten den wagemutigen Plan, in Jokó eine Missionsstation zu gründen. Noch nie hatten sich Missionare so tief ins Gebiet der Mohammedaner gewagt. Die beiden Männer waren eben damit beschäftigt, sich ein paar Brocken Affenfleisch vom Braten abzuschneiden. Mit ihren vollen Tellern eilten sie dann wieder hinüber zu den erbärmlichen Hütten, in denen eine Sippe unterentwickelter Urwaldbewohner ihr Zuhause hatte. Wie in den vergangenen Tagen hatten wir uns eine solche Siedlung als Nachtcamp ausgewählt. Die Dschungelneger lebten meist an einem Flußlauf, rund um die Hütten war ein kleines Stück Land gerodet, auf dem einige Nutzpflanzen wie Maniok und Süßkartoffeln angebaut wurden.

»Na, wenn wir Glück haben, bleiben die Pfaffen gleich hier«, gluckste er. Klagendes Geschrei und sonderbar weiches Vorübergleiten kündete davon, daß Flughunde über uns auf Jagd waren. »Mir wäre es lieber gewesen, wenn wir sie nicht hätten mitnehmen müssen. Sie fangen schon an, meine Wute-Krieger zu bequatschen, und ständig schleichen sie um unsere Träger herum. Die Krieger sollen uns beschützen und die Träger unsere Sachen schleppen. Der Lohn, den wir ihnen zahlen, ist dafür genug. Da brauchen sie nicht noch das Himmelreich als Trinkgeld in Aussicht gestellt zu bekommen.« Der Mann machte mich wegen seiner ungehobelten Art zum unzähligsten Mal wütend auf sich. Er stand auf. »Ich gehe noch mal zu meinen Kriegern, um ihnen die Flausen von Nächstenliebe aus dem Kopf zu treiben. Wir werden die primitive Urgewalt brauchen, wenn wir unterwegs Schwierigkeiten haben, nicht die vergebende Hand Gottes.« Er lief auf das munter prasselnde Feuer zu, um das sich die Krieger vom Stamm der Wute geschart hatten.

So marschierten wir Tag um Tag durch den Dschungel. Sofern man bei Tag von »Tag« sprechen kann. Unter dem feuchten, dumpfen, halbdunklen Blättergewölbe herrscht auch bei strahlendem Sonnenschein ständig dunstiges Dämmerlicht. Tagelang stolperten wir da unten zwischen den mächtigen Pfeilerstämmen, dem Gewirr, Gestrüpp und Wurzelwerk und den endlosen Lianen auf unserem Weg entlang. Oft schwirren einem kostbare Edelsteine vor den Augen: Kleine bunte Vögel stehen über einer Blüte und bewegen ihre Flügel so schnell, daß man nur den winzigen Leib im Licht irisieren sieht. Etwas hingegen sieht man im Dschungel nie: die wilden großen Tiere. Elefanten, Leoparden, Löwen oder Panther halten sich im Dickicht verborgen und denken gar nicht daran, den Menschen anzugreifen oder vor seine Flinte zu laufen. Ich hatte schnell meine Furcht vor den »mörderischen Bestien« abgelegt. Gefahr drohte uns von dieser Seite keine, auch nicht von den Schlangen. Die größeren giftigen Reptilien, die mit ihrem Biß das feste Schuhwerk des Europäers durchdringen können, kann man leicht umgehen, wenn man aufmerksam ist.

Gefahr drohte uns allein von den Tieren, die jeder Urwaldkenner zu Recht fürchtet: Ungeziefer, die wahren Bestien Afrikas. Flöhe, die einen piesacken und sich heimtückisch unter die Zehennägel bohren, um dort schmerzende Geschwüre zu erzeugen, die den Wanderer für Wochen vollkommen marschunfähig machen; Ameisen, die zu Tausenden überall hineinkrabbeln und einem schmerzhafte Bisse zufügen; Ratten, die Stiefel und Proviant anknabbern und nächtliche Kletterübungen an den Schläfern machen; Fliegen, die in Mund, Augen und Nase eindringen und den Körper mit brennenden Stichen martern, oder sich eitererzeugend in Wunden setzen.

Das geschenkte Mädchen

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