Читать книгу Das geschenkte Mädchen - Martin Arz - Страница 15

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09 »Es tut mir leid«, sagte Helene leise in das Telefon und strich mit den Fingerkuppen verlegen auf den Seiten des kleinen Büchleins herum, in dem sie gerade zum unzähligen Mal dieselben Kapitel gelesen hatte. Die verschnörkelten, spitzen Buchstaben der altdeutschen Schrift zackten sich über das Papier, bedrohlich und abweisend wie ein Eisenzaun um einen paradiesischen Garten. Mit einem plötzlichen Ruck zog Helene ihre Hand zurück, als hätte sie sich an der Schrift geschnitten. »Ich wollte Sie nicht belügen.« Sie meinte es wirklich ehrlich und hoffte, dass Pfeffer es heraushörte.

»Dann erzählen Sie mir bitte, was Sie über Doktor Westphal wissen«, antwortete Pfeffer und spürte, wie sein Herz pochte.

»Am Telefon?«, fragte Helene und Pfeffer konnte die leichte Enttäuschung in ihrer Stimme hören. Sie wollte ihn also wiedersehen, vielleicht behauptete sie nur deshalb, Doktor Westphal doch gekannt zu haben. Bei Emmy Frese in der Wohnung hatte sie es noch heftig geleugnet.

»Gut.« Pfeffer sah auf seine Uhr. Schon fast neun. Draußen tobte ein Schneesturm durch die finstere Nacht. »Treffen wir uns in einer halben Stunde.« Er nannte ihr die Adresse eines schicken Cafés, das sie kannte.

Freudensprung kam herein. »Supergemütlich, dein Gästezimmer«, sagte er und fläzte sich auf das Sofa.

»Sorry«, antwortete Pfeffer. »Aber irgendwo muss der Sperrmüll ja hin.«

»Schon okay. Ich finde es echt gemütlich. Was wird Tim sagen, wenn er mich hier sieht?«

»Nichts. Außerdem kommt er erst in eineinhalb Wochen von seinem Seminar aus Düsseldorf zurück. Bis dahin wirst du hoffentlich schon eine neue Bleibe gefunden haben«, sagte Pfeffer. »Drei Dinge, die tabu sind: Erstens meine CDs. Das ist Jazz, der dir sowieso nicht gefällt. Dann meine Garderobe, ich möchte dich nicht plötzlich mit meinen Hemden oder so herumspazieren sehen, weil dir die Wäsche ausgegangen ist. Und drittens meine Toilettenartikel. Kapiert?«

Freudensprung nickte. Er wusste, dass sein Chef mit den Klamotten eigen war, und dass er sich als einzige Exzentrizität ein obszön teures, seltenes englisches Duftwasser namens Blenheim Bouquet leistete. Dieses allerdings, das musste auch Paul Freudensprung zugeben, passte so hervorragend zu Pfeffer, als wäre es extra für ihn gemixt worden.

»Ich muss noch mal los. Die Marwitz hat doch gelogen. Sie kannte Westphal.«

Freudensprung pfiff durch die Zähne. »Das war ja so sicher wie das Amen in der Kirche. So wie die zusammengezuckt ist. Die hat schlecht gelogen.«

»Na, übertreib mal nicht. Vielleicht wollte sie nur vor der Alten nichts sagen.«

»Höre ich da eine gewisse Sympathie für eine womöglich Tatverdächtige heraus, Max Pfeffer? Haben wir da nicht schon genug Erfahrungen in der Vergangenheit gesammelt? Du weißt, was ich meine«, sagte Freudensprung provozierend.

Pfeffer wusste zu gut, was sein Kollege meinte. Obwohl es nur einmal vorgekommen war. Damals, er war noch Hauptkommissar gewesen, hatte Pfeffer sich Hals über Kopf in einen Tatverdächtigen verliebt und triebgesteuert alle möglichen Konsequenzen verdrängt. Sein Glück, dass der Mann sich sehr schnell als unschuldig erwiesen hatte und Pfeffer nicht in heftigere Konflikte zwischen Dienstpflicht und Liebe geraten war.

»Noch dazu bei einer jungen, sehr hübschen Frau, die sicher als Model Karriere machen könnte. Verwechselst du da nicht was?«, frotzelte Freudensprung weiter. »Rein anatomisch. Oder wirst du dir jetzt untreu?«

»Keine Sorge. Ich werde mir sicher nicht untreu. Und jetzt halt endlich die Klappe, Gaudi.« Pfeffer stand auf, weil er spürte, wie die Röte in sein Gesicht krabbelte, dann sagte er ganz beiläufig: »Und mach dich schon mal nackig, bis ich zurückkomme …«

Mit diebischer Genugtuung registrierte er, dass Freudensprung zusammenzuckte, regelrecht den Hintern zusammenkniff und ihn verunsichert anschaute. »Äh, das war jetzt ein Scherz?!« Paul lachte unsicher. »Schlechter Scherz.«

»Guter Scherz«, antwortete Pfeffer fröhlich, während er das Zimmer verließ, um im Treppenhaus markerschütternd »Florian! Flooooo!« zu rufen. Keine Antwort, nur dumpfe Bässe aus dem oberen Geschoss. Pfeffer sprintete die Treppen hinauf und riss die Tür zum Zimmer seines jüngsten Sprösslings auf. Florian saß vor dem Computer, beballerte via Joystick irgendwelche mutierten Monster-Aliens und wippte rhythmisch zu den wummernden Techno-Klängen. Sein kleiner Fernseher lief unbeachtet neben dem Bett. Tom Cruise tat wieder einmal so, als könne er schauspielern, und zeigte in schneller Folge abwechselnd die beiden einzigen Gesichtsausdrücke, die er aus dem Effeff beherrschte. Pfeffer schaltete Glotze und Stereoanlage aus.

»Hey!«, rief sein Sohn und drehte sich vom Monitor weg. »Spinnst du?! Ich bin gerade bei Level vier. Da brauch ich Musik, um mich konzentrieren zu können.«

»Dein Bruder ist noch nicht zurück«, antwortete Pfeffer gelassen. »Wenn er kommt, kannst du ihm ausrichten, dass er morgen eine Tracht Prügel kriegt. Er sollte um acht zu Hause sein. Ich muss noch einmal weg. Und benimm dich anständig, wir haben einen Gast im Haus.«

»Oh Mann«, stöhnte Florian. »Bleibt der Typ länger?«

»Ja, der Typ bleibt länger.«

»Hat ihn seine Alte rausgeschmissen?«

»Hör mal, Florian«, sagte Pfeffer streng. »Du musst nicht jeden Sch… nicht alles nachmachen, was dein Bruder macht. Vor allem, gewöhne dir nicht seine Art zu sprechen an. Okay? Paul hat sich von seiner Frau getrennt und braucht für ein paar Tage eine Unterkunft.«

»Und was ist mit Tim?«, fragte Pfeffers Sohn mit großen Augen.

»Das hat überhaupt nichts mit Tim zu tun.« Pfeffer verspürte einen kleinen Stich im Herzen. Er wusste, dass seine Kinder Tim liebten und ihn genauso vermissten, wie er ihn vermisste. Dass Tim de Fries durch seinen Job als freiberuflicher Management-Coach für einige Tage außer Haus war, kam oft vor. Doch diesmal leitete er gemeinsam mit einer Kollegin ein zweieinhalbwöchiges Seminar mit allen Managementebenen eines großen Düsseldorfer Konzerns; Thema: Konfliktbewältigung im Umgang mit Untergebenen. Die Wochenenden nutzte der gebürtige Holländer, seine Familie in Amsterdam und Amstelveen zu besuchen. Tims ungewöhnlich lange Abwesenheit von zu Hause setzte allen zu. Nicht nur, weil nun niemand was Gutes kochte.

»Guck mal, Papa.« Florian war vom Stuhl gesprungen und zeigte auf ein Britney-Spears-Poster, das neben dem Fenster hing. Pfeffer guckte, aber er konnte beim besten Willen nicht erkennen, was dieses Poster von all den anderen Britney-Spears-Postern im Zimmer unterscheiden sollte. »Hab ich neu!«, rief sein Sohn aufgeregt mit der typischen Euphorie eines beinahe Zwölfjährigen. »Von Kevin eingetauscht gegen mein Jennifer-Lopez-Poster. JayLo ätzt nämlich voll, aber Kevin steht trotzdem auf die.«

»Hmm, super«, meinte Pfeffer ein wenig wehmütig. Vor ein paar Monaten hatte sein Kleiner begonnen, sich für die angesagten Pop-Schönheiten zu interessieren. Ein untrügliches Zeichen, dass aus dem Kind nun bald ein Mann heranreifen würde. Ein noch untrüglicheres Zeichen waren die klebrigen Flecken im Schritt von Florians Pyjamahose und die zerknüllten Tempotaschentücher unter dem Kopfkissen.

Genauso hatte es bei seinem älteren Sohn Cosmas angefangen, und Pfeffer musste zugeben, dass es bei ihm selbst auch so begonnen hatte. Nur hatte er damals, als er mit zwölf Jahren von seinem Vater beim Onanieren erwischt worden war, die schlimmste Tracht Prügel seines Lebens bekommen. Da hatte ihn sein Vater das erste Mal ein perverses Schwein genannt. Später, als er sich dann von der Mutter seiner Kinder getrennt hatte, um endlich mit dem Mann seiner Träume zusammenzuleben, hatten seine Eltern ganz andere Ausdrücke für ihn gefunden. ›Perverses Schwein‹ war noch harmlos. Sie hatten ihn beleidigt und versucht zu demütigen. Es war ihnen nicht gelungen, was sie noch wütender gemacht hatte. Pfeffer stand dazu, dass er mit Männern glücklicher war.

Nachdem seine Ex-Frau vor wenigen Jahren nach langem Leiden an Lymphdrüsenkrebs gestorben war und Pfeffer sich um die gemeinsamen Kinder hatte kümmern müssen, hatten seine eigenen Eltern sogar versucht, ihm, dem perversen Schwein, die Kleinen wegzunehmen. Pfeffer kochte noch heute, wenn er nur daran dachte. Dabei waren er, seine beiden Söhne und sein Lebensgefährte Tim de Fries längst eine funktionierende kleine Familie mit freistehendem Einfamilienhaus in Obermenzing, neugierigen Nachbarn, drei Fernsehern und Mikrowelle (die allerdings nur zum Einsatz kam, wenn Tim mal keine Lust zum Kochen hatte, was so gut wie nie passierte). Es war ohnehin ein Wunder gewesen, dass die Kinder so schnell nach dem Tod ihrer Mutter Tim als zweiten Vater akzeptiert hatten. Manchmal war Pfeffer richtig eifersüchtig auf die innige Beziehung, die der Holländer mit seiner unkomplizierten und offenen Art zu den Buben aufgebaut hatte. Das schöne alte Haus aus den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in dem mehr als gutbürgerlichen Stadtteil hätte sich Pfeffer natürlich nie leisten können, obwohl sein Freund Tim auch in Krisenzeiten wie diesen sehr gut verdiente und erheblich zum Unterhalt der Familie beitrug. Das Haus gehörte den Kindern. Es war längst schuldenfrei. Seine Ex-Frau hatte es von ihren früh verstorbenen Eltern geerbt und den Söhnen hinterlassen.

Pfeffer würde seine Söhne nie pervers nennen. Er hatte Cosmas einmal im Badezimmer »erwischt«. Pfeffer hatte irgendwas Doofes wie »Lass dich nicht stören« gemurmelt und die Tür wieder geschlossen. Er hatte sich bemüht, die Jungs so frühzeitig wie möglich aufzuklären und keine falsche Gschamigkeit aufkommen zu lassen. Und jetzt, wo auch Florian in die Pubertät kam, überfiel ihn manchmal diese Traurigkeit, weil seine Kinder keine Kinder mehr waren. Die Tage, Wochen, Monate verrasten einfach so.

»Also, sei nett zu unserem Gast, du kennst ihn ja schon, und geh in spätestens einer halben Stunde ins Bett. Versprochen?«

»Hmmmm«, brummelte sein Sohn und verschränkte trotzig die Arme. »Muss das sein? Kevin darf auch immer bis zehn Uhr aufbleiben. Frag doch mal seine Mutter.«

»Kevins Bettgehzeiten sind mir völlig egal. Kapiert, junger Mann? Also, gute Nacht.« Pfeffer gab seinem Sohn einen Kuss auf die Wange. Er war froh, dass sich sein Kleiner noch nicht gegen diese Geste sträubte. Seinem ältesten Sohn durfte er sich schon seit vier Jahren nicht mal mehr auf Armeslänge nähern, ohne gleich ein »Uäh, geh weg! Kommt jetzt wieder die Zuneigungstour?!« entgegengeschleudert zu bekommen.

Das geschenkte Mädchen

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