Читать книгу Das geschenkte Mädchen - Martin Arz - Страница 13
Оглавление07 »Sansibar war immer mein Traum. Sansibar – schon der Name allein verheißt die süßesten Träume von Exotik«, pflegte ich immer zu sagen – Helene kannte diesen Satz in- und auswendig. Sie hatte ihn immer wieder gelesen. Immer wieder. Irgendwann hatte sie aufgehört zu zählen, wie oft sie schon die Erinnerungen von Leopold Konrad Frese gelesen hatte. Dennoch heuchelte sie Interesse, als ihr Emmy Frese das aufgeschlagene Buch in die Hand drückte.
»Hier«, sagte die Greisin, »lesen Sie mal. Dann wissen Sie alles über mich und meine Familie.«
»Gerne, Frau Frese«, antwortete Helene und legte das abgegriffene Büchlein beiseite. Das Büchlein mit dem Titel , das sie schon ihr ganzes Leben begleitete und das sie seit einem halben Jahr beinahe ständig bei sich trug. »Aber jetzt sagen Sie mir erst, wo ich die Konservendosen verstauen soll.« Sie hatte die Einkäufe auf den Küchentisch gestellt und begonnen, die Kartons mit Altglas in eine Ecke zu stapeln. Einen guten Teil des Mülls in der Küche hatte sie schon entsorgt. Bald würde es hier wie bei einem normalen Menschen aussehen. Natürlich gab es, entgegen der Behauptung der Alten, keine Putzfrau, die die Küche auf Vordermann bringen würde.
»Ach, das hat doch Zeit«, erwiderte Emmy Frese. »Ich habe uns einen Nusskuchen gebacken und der Tee ist noch warm. Steht alles in der Stube. Kommen Sie, mein Kind.« Die alte Frau zog Helene ins Wohnzimmer und wies ihr einen Platz auf dem beigen Breitcordsofa zu. Im Gegensatz zur Küche war das Wohnzimmer tipptopp aufgeräumt und oberflächlich sauber. Lediglich die Bezüge der zwei Sofas und drei Sessel waren speckig und abgewetzt. Helene ekelte sich ein klein wenig vor dem, worauf sie saß.
»Ja«, fuhr Emmy Frese fort, als sie den längst nur noch lauwarmen Tee eingeschenkt hatte. Sie lehnte sich in dem Fernsehsessel zurück und schlug die Beine übereinander. Sie trug heute keine Kittelschürze, sondern ein schlichtes dunkelblaues Kleid mit weißem Kragen. Sie hatte sogar etwas Make-up aufgelegt. Der rote Lippenstift war ihr in die zahlreichen kleinen Runzeln gelaufen, die ihren Mund säumten. »Da staunen Sie sicher, Frau Marwitz. Aber ich bin tatsächlich in Kamerun geboren worden. Damals, als es noch deutsche Kolonie war. In Buëa, das war der Sitz des Gouverneurs. Aber das interessiert ja heute keinen mehr. Olle Kamellen.«
»Doch doch, Frau Frese«, sagte Helene mit vollem Mund und versuchte den staubtrockenen Kuchen mit ein paar Schluck labbrigem Tee hinunterzuspülen.
»Erzählen Sie mir davon. Sie haben bestimmt viel erlebt.«
»Oh ja.« Die Alte schloss verträumt die Augen. »All die vielen Negerkinder, mit denen wir gespielt haben, obwohl das nicht gerne gesehen wurde …« Das Klingeln des Telefons unterbrach sie. »Nanu, wer kann das sein?«, sagte Emmy Frese leise und erhob sich stöhnend. »Ja bitte«, brüllte sie dann in den Hörer. »Ach, du bist es, Ludwig … Ja, ich habe deinen letzten Brief bekommen … Ja … Nein …«
Während die Alte telefonierte, schweiften Helenes Blicke durch den Raum. Altdeutsch-rustikal nannte man wohl die Möbelungetüme, die herumstanden – und vertrocknet die Palme in der Zimmerecke. Ein paar kleinere Ölgemälde, auf denen sich Elefanten, Löwen und andere afrikanische Tiere tummelten, zierten die Wände. Eher Kitsch als Kunst, fand Helene. Über der Kommode hingen Fotos im Silberrahmen. Vermutlich Familienmitglieder, Helene interessierte sich nicht dafür, sondern für das vergilbte große Foto im Zentrum, um das sämtliche anderen Bilder herum gruppiert waren. Es war das Foto, das sie ebenfalls besaß. Eine Kopie davon hatte sie in ihrer Handtasche bei sich.
»Ach, die liebe Familie«, seufzte Emmy Frese, als sie das Telefonat beendet und wieder Platz genommen hatte. »Kaum geht man auf die Hundert zu, schon entdecken sie einen wieder und wollen ihren Erbteil sichern.« Sie kicherte, es klang wie das Rascheln von trockenem Schilf im Wind.
»Ihr Sohn?«, fragte Helene.
»Nein, mein Großneffe«, antwortete die Greisin. »Mir war es leider nicht vergönnt, Kinder großzuziehen. Ich war nicht verheiratet. Ich bin ein altes Fräulein. Meine Familie sind die Kinder meines Bruders und deren Kinder. Meine lieben Großnichten und -neffen. Seit kurzem haben sie mich wiederentdeckt.« Sie machte mit Daumen und Zeigefinger ihrer runzeligen Hand die eindeutige Bewegung für Geld.
»Gibt es denn so viel zu erben?«, fragte Helene und tat möglichst unbefangen.
»Na, das Haus hier zum Beispiel«, Emmy Frese breitete die Arme aus und sah zur Decke hoch. »Und ein bisschen Geld, das ich zur Seite gelegt habe. Viel ist es nicht. Ich bekomme eine bescheidene Rente. Wissen Sie, ich war Krankenschwester, wie meine Mutter selig. Und dann sind da noch …« Diesmal wurde sie vom Klingeln an der Haustür unterbrochen. »Heute ist hier aber ein Betrieb«, sagte die Alte und wollte sich aus dem Sessel hochrappeln.
»Lassen Sie nur.« Helene sprang auf. »Ich geh schon.«
»Kriminalrat Max Pfeffer, Kripo München. Mein Kollege Paul Freudensprung«, sagte der Mann mit flauschigem Samtblick und hielt seinen Ausweis hoch.
Helene konnte sich nicht von diesen Augen losreißen, sie hatten sie ins Mark getroffen.
Freudensprung stöhnte innerlich. Schon wieder! Sein Chef hatte einfach einen Schlag bei Frauen, der Plüschtier-Effekt, wie Freudensprung es zu nennen pflegte. Freudensprung beneidete ihn und freute sich gleichzeitig, dass Pfeffer den Effekt nicht ausnutzen konnte oder wollte.
»Helene Marwitz«, flüsterte Helene leise in dieses dunkle Kuscheln hinein. Nun erst bemerkte sie seine silbergrauen Haare, die in seltsamem Kontrast zu dem jung gebliebenen Gesicht standen.
»Dürfen wir reinkommen, Frau Marwitz?«, fragte Pfeffer ebenso leise und fühlte sich wie ein Idiot, weil er die Schönheit der Frau in sich aufsaugte. Ihre vollen Lippen, die kastanienfarbenen, geheimnisvollen Augen, die dunkelbraunen Naturlocken, die ihr üppig über die Schulter fielen, der Teint, der einen ganz leichten Stich ins Olive hatte. Alles war Rasse und Klasse an Helene Marwitz. Obwohl sie einen dicken Winterpulli und eine Flanellhose trug, konnte Pfeffer erahnen, dass sie eine gute Figur haben musste. Mit Sicherheit machte sie Jazzdance oder etwas Ähnliches.
»Sie machen Aerobic?«, platzte er heraus und wollte sich in derselben Sekunde ohrfeigen.
»Tae Bo«, antwortete Helene und kicherte. »Und Sie? Judo?«
»Zu selten.« Auch Pfeffer lachte. »Hauptsächlich Trimmtrab.«
»Dann hätten wir das also geklärt«, sagte Helene, riss sich von den samtigsten Augen der Welt los und ließ die Männer in die Wohnung.
Es passierte so gut wie nie, dass Pfeffer eine Frau einfach anstarren musste, dass eine Frau das in ihm auslöste, was schon lange in seinem Innersten begraben war: das Gefühl, es vielleicht doch noch einmal probieren zu wollen. Es war eigentlich kein Gefühl, sondern nur ein Hauch, denn Pfeffer wusste, was er wollte. Und er erinnerte sich nur noch mit Schaudern daran zurück, wie er sich früher total verbogen hatte aus dem Drang heraus, sich anpassen zu wollen, nicht ›anders‹ sein zu wollen. Bis er radikal sein Leben geändert hatte, nachdem er auf einem Konzert der amerikanischen Performancekünstlerin Laurie Anderson seinen Tim kennen gelernt hatte. Heute wunderte er sich bloß ein wenig, wenn er diesen seltsamen Hauch verspürte. Es passierte ohnehin nur alle Jubeljahre. Pfeffer riss sich zusammen und folgte der dunklen Schönheit ins Wohnzimmer, wo er sich mit routinierter Neugier umsah.
»Frau Frese«, sagte er zu der Alten und war für einen Moment versucht, ihr die verrutschten grauen Socken, die sich um ihre Fußgelenke kringelten, wieder hochzuziehen. »Wir kommen wegen Ihres Neffen oder Großneffen. Georg Frese-Mayer.«
»Meine Güte«, quietschte die Alte. »Ist ihm etwas passiert?!«
»Keine Sorge.« Pfeffer lächelte beruhigend. »Wir haben nur von seiner Frau erfahren, dass er Sie häufig besucht, und wir möchten ihm ein paar Fragen stellen.«
»Mein Neffe ist beim Skifahren. Worum geht es denn?«
»Das sollten wir am besten mit Ihrem Neffen besprechen. Sie wohnen alleine hier, Frau Frese?«, fragte Pfeffer aus reiner Neugierde und ließ seinen Blick über die gerahmten Fotografien schweifen.
»Ja«, antwortete die Greisin. »Frau Marwitz hilft mir drei Tage die Woche ein wenig im Haushalt. Aber sonst kann ich mich noch sehr gut selbst versorgen, falls Sie das meinen. So hinfällig bin ich auch noch nicht!« Ihr Ton wurde etwas spitz. »Und falls mal was passieren sollte, ist fast immer jemand im Haus. Ich habe die Wohnung im ersten Stock an ein paar Studenten vermietet.«
»Und Ihr Großneffe, übernachtet der auch manchmal bei Ihnen?«, hakte Freudensprung nach.
»Sicher, oben. Er hat sich unter dem Dach ein kleines Refugium ausgebaut. Da trifft er sich oft mit seinen Freunden zum Kartenspielen.« Emmy Frese zwinkerte verschwörerisch. »Seine Frau hat es nämlich gar nicht gern, wenn Georg seine Kartenfreunde bei sich zu Hause empfängt. Die karteln jeden Freitag oben in meinem Dachstübchen.« Sie kicherte mädchenhaft.
»Sie scheinen ein gutes Verhältnis zu Ihrem Großneffen zu haben«, meinte Pfeffer und heftete seinen Blick erneut auf das große vergilbte Foto, das schon wegen seines Alters aus den anderen Aufnahmen ringsherum herausstach. Das Bild zeigte einen Herrn mit mächtigem Schnauzbart, der einen weißen Tropenanzug trug und selbstzufrieden und lässig im Korbstuhl auf einer Veranda saß. Auf dem Schoß hielt er ein kleines Mädchen, neben ihm stand ein grinsender Bursche. Hinter dem Mann stand eine Frau mit ernstem Blick. Etwas abseits sah eine Schwarze mit Turban dem Betrachter unsicher direkt in die Augen. Sie hatte ihre linke Hand auf die Schulter eines dunkelhäutigen Jungen gelegt, der ungefähr zehn Jahre alt war. Auf einem niedrigen Tisch im Bildvordergrund standen ein paar Limonadengläser sowie eine afrikanische Figur. Auch Paul Freudensprung musterte nun das Foto eingehend.
»Georg ist mein Liebling«, antwortete Emmy Frese, doch Pfeffer hörte gar nicht richtig hin. Afrika, schoss es ihm durch den Kopf und er zog die Figur aus seiner sportiven Umhängetasche und stellte gleichzeitig die Frage: »Kennen Sie die?«
Die Alte kniff die Augen zusammen und streckte ihre knotige Hand aus. Pfeffer gab ihr die Figur. Die Alte hielt sich die Holzstatuette so dicht vor die Augen, dass man hören konnte, wie sich ihre Nase am Holz rieb. Helene Marwitz, das hatte Pfeffer beobachtet, war zunächst erstarrt, dann neugierig herangetreten, hatte die Statue ganz unauffällig näher betrachtet und sich wieder entspannt.
»Sieht ein bisschen aus wie die Sachen, die ich meinem Schorschi gegeben habe«, meinte die Alte. »Aber diese Figur habe ich noch nie gesehen. Nein, Herr Kommissar, das sagt mir gar nichts.«
»Kriminalrat, aber egal. Und sagt Ihnen der Name Doktor Sönke Westphal etwas?«
»Nein«, antwortete die Alte unbekümmert. Doch viel mehr interessierte Pfeffer die Reaktion von Helene Marwitz. Sie war zusammengezuckt, als der Name des Toten gefallen war.
»Und Ihnen, Frau Marwitz?«
Bevor Helene etwas sagen, lügen konnte, rief Emmy Frese: »Doch, halt.
Ich glaube, so hieß der junge Mann, der vor etlichen Jahren mal bei mir vorstellig geworden ist. Ein eingebildeter Kerl.«
»Wann war das?«, erkundigte sich Freudensprung.
»Das ist bestimmt schon über fünfzehn Jahre her. Irgendwann in den Achtzigern. Sönke Westphal, ja, ich bin mir sicher, auf meine kleinen grauen Zellen ist doch noch Verlass.« Sie machte ein triumphierendes Gesicht und tippte sich an die Stirn. »Er hat Völkerkunde studiert und wollte die Aufzeichnungen meines Vaters einsehen. Wir haben nämlich mal in Kamerun gelebt, wissen Sie? Aber ich habe ihm die Tagebücher meines Vaters nicht gegeben. Dieser Westphal wollte dort hin, wo ich einst aufgewachsen bin, um bei den Negern zu leben und sie zu studieren. Auf was für Ideen die Leute heutzutage kommen! Wir haben da gelebt, und ich kann Ihnen sagen, dass es sich wirklich nicht lohnt, diese Eingeborenen zu studieren!«