Читать книгу PUZZLE - Mord am Kanal - Martin Berthold Heinrich Diebma - Страница 5

2 Freya

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Es war mitten in der Nacht, und Tim stapfte schon wieder mit Cano durch den Wald, in dem sie den skelettierten Arm gefunden hatten. Da mussten doch noch mehr Teile zu fin­den sein. »Such!«, befahl er seinem Hund. »Such! Such!« Aber Cano stellte sich nur provozierend vor ihm hin und bellte ihn an wie einen Unbekannten oder wie je­manden, der ihm etwas schuldig ist. Irgendetwas nahm er ihm an­scheinend furcht­bar übel. Nur was? Hatte er denn etwas Unrechtes getan? Aber ja: Er hatte Cano noch nicht für die vorenthaltenen Knochen entschädigt. Wütend fletschte Cano die Zähne, immer aggressiver wurde sein Gebell, als wollte er seinen Herrn, den er kaum noch zu respektieren schien, im nächsten Augenblick anfallen. Du meine Güte, dachte Tim, hoffentlich finde ich noch den Kopf, den muss ich ihm schon geben, da­mit er wieder Ruhe gibt. Erschro­cken, unsicher wich er zurück, stolperte über einen am Bo­den liegenden Ast und bemerkte erst beim Aufstehen, als er sich nach dem Grund für seinen Sturz umsah, die wahre Ur­sache für Canos Aufregung. Der Ast, über den er gestolpert zu sein glaubte, war kein Ast, es war ein gewaltiger Kno­chen wie von einem menschlichen Oberschenkel. Jetzt sah er aus dem Dunkel weitere Ske­lett-Teile vor seinen entsetz­ten Augen auftauchen: Ein Bein lag links, rechts noch ein Arm, Rippen weiter hinten, Wirbel­knochen ... Nur der Kopf fehlte. Wo war nur der Kopf? Unter Tims Füßen begann plötzlich die Erde zu beben. Oder bildete er sich das nur ein? Nein, auch die Knochen vibrierten, bewegten sich, fingen an zu tanzen. Pa­nik ergriff Tim. Er wollte nur noch weg. Als er den ersten Schritt tat, stellte er mit Entsetzen fest, dass es nicht die Erde war, die sich bewegt hatte, son­dern der Ober­schenkelknochen des Skeletts, das sich nicht erheben konnte, solange er darauf her­umstand. Die Skelett-Teile waren nämlich alle dabei, sich zu sammeln und in der richtigen Ordnung wieder zusammenzufügen. Tim sah, wie einzelne mit einem schlürfenden Geräusch Fleisch ansetzten, blutiges, rotes Fleisch. Ein ekelerregen­der Anblick. Bei alledem machte das Skelett eine höchst be­mitleidenswerte Figur. Es war eine arme, geschundene Kreatur oder, besser gesagt, Ex-Kreatur. Natürlich war Tim inzwischen längst klar, dass er sich in einem widerlichen Alptraum befinden musste, aber wie daraus entkommen? Nun vernahm er auch noch eine gehauchte weibliche Geis­terstimme, die sagte: »Der Kopf! Gib mir meinen Kopf!« Erst jetzt bemerkte Tim, woher die Stimme kam: Er hielt einen Totenkopf an der Schädel­decke mit zwei Fingern in den Augen­höhlen fest wie eine Bowling­kugel, während der Unterkiefer auf- und niederklappte und wiederholte: »Der Kopf! Gib mir meinen Kopf!« Von Grauen geschüttelt, schleuderte Tim den Schädel so weit er konnte von sich fort. Doch Cano spurtete sofort hinterher, um ihn sich zu schnappen. »Du steckst tief in der Scheiße«, hörte Tim eine andere Stimme sagen. Dann wandte er sich ab und trat mit dem nächsten Schritt durch die alte, überraschen­derweise nicht verriegelte Dielentür seines Bauernhofs, hinter der ihn Cano bereits mit wedelndem Schwanz erwartete, den Schä­del im Maul. »Pfui! Pfui!«, schrie Tim außer sich vor Ver­zweiflung und erwachte endlich. Er war schweißnass.

Tim gehörte eigentlich nicht zu den zart Besaiteten, aber die Ereignisse des abgelau­fenen Tages hätten wahrschein­lich auch bei noch härteren Gemütern als dem seinen im seelischen Grenzbereich zwischen Bewusstem und Unter­bewusstem ein Auslass­ventil in Gestalt nächtlicher Spukge­schichten gefunden. Daran, dass ihm dieser Alp­traum einen gewaltigen Schrecken eingejagt hatte, der erst mal verdaut sein wollte, änderte diese Erkenntnis nichts. »Pfui! Pfui!«, sprach Tim noch einmal leise zu sich selbst. Er vergewisserte sich, dass weder links noch rechts von seinem Bett irgend­welche Skelett-Teile herumlagen, noch Cano, der neben seinem Bett zu nächtigen pflegte und ihn nun wegen der zusammenhanglosen Pfuis verstört aus müden Au­gen ansah, einen Kopf im Maul hatte, und machte bis zum Morgengrauen kein Auge mehr zu.

Dr. med. Freya Meisenberg musste nach Meinung ihrer männlichen Kollegen jeden Morgen ein beachtliches Maß an Zeit aufwenden, um ihr langes, mittel­blondes Haar zu je­nem Zopf von besonderer Perfektion zusammenzuflechten, der jeden von ihnen neugierig darauf machte, wie sie mit offenem Haar aussehen mochte. Nie hatte einer die begabte junge Orthopädin anders gesehen als eben mit diesem kunstvollen Ge­flecht im Nacken. Freya selbst hielt ihre Fri­sur vor allem für eine pragmatische Lö­sung. Sie hatte es auch überhaupt nicht nötig mit ihrem Aussehen zu kokettie­ren, seit sie im Anschluss an das »mit Auszeichnung« be­standene zweite Staats­examen und ihre AIP-Zeit eine nicht ganz unbedeutende Funktion in der Orthopädie der Kieler Universitätsklinik ausübte. Mit Knochen kannte sie sich aus.

Der Anruf des alten Mitstreiters aus Uni-Tagen war nach all den Jahren doch etwas überraschend gekommen. Und die Geschichte, die er ihr am Telefon kurz angedeutet hatte, kam ihr noch merkwürdiger vor. Knochen von einem Wald­spaziergang. Was mochte das sein: ein Hirsch, ein Reh? Da­für war doch wohl eher ein Förster oder Tierarzt zuständig! Wie auch immer, die Aussicht, Tim nach so langen Jahren wie­derzusehen, löste bei ihr eine kaum zu unterdrückende Vorfreude aus. Die hatte Fre­ya zwar Mühe sich einzugestehen, aber es gab sie. Warum hatte sie Tim eigentlich immer so gern gehabt? Weil er nicht übel aussah – natürlich. Und dann war er keiner von diesen unausstehlich arroganten Schürzenjägern mit Titel und Kittel, mit denen sie sich hier ständig herumzuschlagen hatte. Vor allem aber hatte er diese geheimnisv­oll tiefgründigen dunklen Augen. Auf die Augen kommt es an; das war Freyas Überzeugung schon immer gewesen. Niemals hätte sie sich in einen Typen mit diesen mattblauen bis trüb-grauen Augen verlieben können, die auch charakter­lich jeden Tiefgang vermissen ließen – die Augen als Spiegel der Seele. Inzwischen war sie zwar so gut wie verheiratet, aber Tim war ... Tim. Haben konnte man ihn so­wieso nicht. An ihn war unmöglich heranzukommen. Das Vorhaben, den Schiefen Turm von Pisa zurechtzurücken, schien entschieden aussichtsreicher. Tim umgab eine mysteriöse Mauer fast schon priesterlicher Unantastbarkeit, eine Mauer, die selbst die Posaunen von Jericho nicht zum Einsturz hätten bringen können. So jeden­falls war es ihr immer vorgekommen. Man wagte einfach nicht, ihn um eine Verabre­dung oder Derartiges zu bitten. Es kursierten ein paar sehr abschreckende Anekdo­ten über Fälle, in denen jemand versucht hatte, ihn aus der Reserve zu locken. Und die Moral dieser Geschichten lautete immer gleich: Finger weg.

Natürlich hatte Tims unorthodoxer um nicht zu sagen: ex­zentrischer Umgang mit dem anderen Geschlecht der Fan­tasie einiger (es kann sich nur um die Autorinnen besagter Anekdoten handeln) mächtige Flügel verliehen. »Du musst irgendwann mal ganz übel auf die Schnauze gefallen sein«, hatte Tim sich sagen lassen müssen oder (die verständnis­voll-feinfühlige Variante): »Dir muss jemand mal sehr weh getan ha­ben.« Gemeint war natürlich, dass Tim von seiner großen Liebe brutal enttäuscht worden war und deswegen ein Trauma mit Langzeit­wirkung erlitten hatte. Tim da­gegen leuchtete überhaupt nicht ein, warum man gleich ein Trauma-Geschädigter sein musste, wenn man nicht darauf bestand, einen unkomplizierten und unproble­matischen Lebensentwurf zu korrigieren. Und so konterte er: »Genau umgekehrt: Solche traumatischen Erfahrungen sind es gerade, die ich auf diese Weise geschickt umgehe.« Denn so viel verstand Tim auch damals schon von der Welt, wenn auch aus bloßer Theorie, dass er die mit Abstand größte Problem­quelle im Leben eines Mannes zielsicher ausmachen konnte (und damit zugleich die Quelle potentieller Traumata, denn was ist ein Trauma anderes als das traurige Ergebnis eines Problems, das scharfe Krallen ausfahren kann?). Außerdem fragte er sich, warum manche Leute einfach nicht begreifen konnten, dass ein Leben ohne Frau das Einfachste von der Welt und vor allem in jedem Fall einfacher war als eines mit, insbesondere wenn man das Wort »einfach« einfach mal wörtlich nahm. Und selbst wenn man selbiges aus irgend­einem Grunde nicht einzusehen befähigt war, gab es deswegen noch längst keinen Grund, von sich auf andere zu schließen.

Die Sachlage war also eindeutig und Tim eine geheimnis­volle, uneinnehmbare Fes­tung. Was nicht bedeutete, dass man sich mit ihm, dem Philosophen, nicht vortreff­lich un­terhalten konnte. Tim verfügte, nicht nur seines Studien­fachs wegen, über ein ausgesprochen umfangreiches litera­risches Wissen. Seine Allgemein­bildung war phänomenal. Ihm fiel zu so ziemlich jedem Fachgebiet – sei es Medizin, Recht, Che­mie oder sonst was – genug ein, um einem Ex­perten über die Dauer eines Small-talks hinaus folgen zu können, egal ob es um den Vietnam­krieg, den Zitronensäur­ezyklus oder Ethnien im Regenwald von Papua-Neu­guinea ging. Schwierig wurde es erst, wenn man auf Priva­tes zu sprechen kam, auf seine Biografie. Es schien, als hät­te er die meisten Brücken zur Vergangenheit abgebrochen. Von seinem Vater wusste man gar nichts, seine Mutter lebte in Hamburg, er aber hatte es vorgezogen, in Göttingen und Kiel zu studieren, und nur selten ließ es sich vernehmen, dass er mal für ein Wo­chenende seine Mutter besuchte; vom Vater ganz zu schweigen.

Kennen gelernt hatten sich Freya und Tim in der Evangeli­schen Studenten­gemeinde, die regelmäßig zum »Philo­sophisch-religiösen Zirkel«, kurz PRZ, lud. Einmal wö­chentlich hatten sich Studenten – oder Studierende, wie man heute an deutschen Hochschulen sagt, wenn man nicht unangenehm auffallen will – aller möglichen Fachbereiche in den Räum­lichkeiten der ESG an der Uni zum Austausch über Bibel, Gott und die Welt getroffen. Dabei konnte es auch schon mal die Mao-Bibel sein, aus der zitiert wurde. Gelegentlich unternahmen Einzelne aus der Gruppe ge­meinsam etwas am Wochenende, betätigten sich sportlich, gingen ins Kino oder Theater oder zum Italiener, und sofern nicht die Gefahr bestand, irgendwann mit einer weiblichen Studierenden allein gelassen zu werden, war Tim allem An­schein nach gerne mit von der Partie, auch wenn er nicht gerade die größte Stimmungs­kanone war. Nach ein paar ge­meinsamen Semestern in der Gruppe hatten sich die Wege von Tim und Fre­ya dann getrennt. Freya konnte sich noch gut an ihre letzte PRZ-Diskussion erinnern. Sein ständiges Gegen-den-Strom-Schwimmen und sein eigenwilliges In­fragestellen von Ansichten, die bei den meisten anderen ge­setzt waren (oder Gesetz), hatten Letztere entnervt und ihn selbst zermürbt. Sie gipfelten auf der letzten gemeinsamen Zusammenkunft damals am Semesterende in seiner stritti­gen Forderung, Gott als Gesetzgeber erst dann abzu­setzen, wenn er erwie­sener­maßen inexistent sei. Er aber habe dafür keine Beweise gefunden, nur Mehrheitsbes­chlüsse und still­schweigenden Konsens, den »Konsens des Mainstream«. Was jedoch war »Mainstream«? Tims Ant­wort: »Das, was die meisten Menschen, fehlbare, vergängli­che, in ihren Überzeugungen wechselhafte und verführbare Menschen, innerhalb eines bestimmten Zeitab­schnitts für richtig halten, zum Beispiel zum Thema Judentum in der Nazi-Zeit.« Es war um die Frage gegangen, wie ein univer­selles menschliches Ethos in der Welt verankert werden könne. Die eine Seite vertrat den Standpunkt, der gesunde Menschen­verstand oder Commonsense, das menschliche Gewissen, ein der Wissenschaft zu verdankender Wissens­stand, ethische Grundregeln und Erkenntnisse aus der Phi­losophie könnten das sittlich Gute und Richtige durch eine gemeinsame Anstrengung aller gebildeten Menschen in der Welt verankern. Die Fehler der vergangenen zweihundert Jahre seien ein letztes Aufbäumen der Dummheit und Bar­barei gewesen gegen das, was alle längst als richtig und gut begriffen hätten. Gegen diesen »aufklä­rerischen Illusionis­mus« und »blauäugigen Idealismus« hatte sich keiner so vehement zur Wehr gesetzt wie Tim. Per Mehrheitsbe­schluss, so sein Vorwurf, sei eine neue, primär von fehlba­ren Menschen komponierte Religion aus der Taufe gehoben worden. Robespierre habe dasselbe versucht und sei kläg­lich gescheitert. Als hätte es noch eines Beweises bedurft, dass Menschen als Autoren und Bürgen eines dauerhaft gül­tigen Sitten­gesetzes überfordert sind. Denn wenn ein Mensch in seiner angeborenen Fehlbar­keit irren könne, dann könnten die Menschen auch mehrheitlich irren und so­mit falsche Maßstäbe setzen, die zwar in einer bestimmten Zeit oder Epoche richtig aussehen mochten, aber ein Ver­fallsdatum besaßen. Was sich aber nur zeitweilig als wahr erweise, sei überhaupt keine Wahrheit. Als Beispiel hatte Tim in einer als niederträchtig empfundenen Parade das Dritte Reich angeführt. Damals hätte sich in fast allen Schichten eine Mehrheit für den Führerkult gefunden; das, was damals nur eine Minderheit vertreten habe, sei heute als richtig anerkannt. »Wer hat damals den gesünderen Menschen­verstand gehabt?«, hatte Tim provokativ in die Runde gefragt, in der natürlich jeder wusste, wie viele ihren Widerstand gegen die Nazis mit dem Tode bezahlt hatten. Freya erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen. Schwei­gend hatten sie dagesessen, als Tim gleich im Anschluss die Frage stellte: »Und was ist in hundert Jahren Konsens? Vielleicht sind wir ja heute alle im Irrtum!« Eine dritte Fraktion, der Freya angehört hatte, versuchte erfolglos zu vermitteln und in Anlehnung an Kant die Religion als Stif­terin eines Sitten­gesetzes irgendwie in die Gegenwart hin­überzuretten. Aber Tim war kein Freund von Kompromis­sen. Ein Semester später hatte er seinen verlorenen Posten geräumt.

Als Freya ihr Medizinstudium abschloss, hatten sie sich längst aus den Augen verlo­ren – aber nicht ganz aus dem Sinn, wie Tims Anruf jetzt bewies. Immerhin wusste er, was aus ihr geworden war, ein paar alte Verbindungen be­standen also noch.

Am Samstagnachmittag um drei Uhr betrat er verabre­dungsgemäß die Teeküche der Orthopädie, wohin eine hilfsbereite Krankenschwester ihn gelotst hatte. Freya hatte einen Tee vorbereitet und offerierte, nachdem die alten Stu­dienfreunde sich, für Tims Verhältnisse vergleichsweise herzlich, begrüßt hatten, ein paar Kekse. Tim stellte die Plastiktüte, in die er die Knochen gelegt hatte, beiseite und setzte sich an den irgend­wie steril wirkenden Tisch. Viel­leicht rührte der Eindruck der Sterilität auch nur von Freyas weißer Arbeitstracht und den vielen Medikamenten her, die auf den Regalen und auch sonst überall im Raum herumstanden. Sogar der Tee schmeckte irgendwie nach Medizin. »Was'n das für'n Tee?«, fragte Tim, als er die Tas­se wieder absetzte. Er wusste, was er sich bei Freya heraus­nehmen durfte. »Blasen- und Nierentee?«

»Ach Timmi«, musste Freya lachen, »immer noch der alte Skeptiker, was? Lieber sterben als mit einem negativen Ur­teil hinterm Berg halten.«

»Immer im Dienste der Wahrheit«, erwiderte Tim mit ei­nem schelmischen Lächeln. »Die Wahrheit ist das höchste Gut. Suchen nicht alle Philosophen und Wissenschaft­ler, auch in der Medizin, immer nach der letzten, ultimativen Wahrheit, nennen wir sie Gott, Tao, Brahman oder sonst wie?«

»Aber du hast heute schon noch was Konkreteres im Visier als die philoso­phischen Streitfragen von damals, oder? Ich würde jetzt gern mal die Wahrheit erfahren über deine ko­mischen Knochen. Sind die etwa da drin?« Freya deutete auf Tims Plastiktü­te. Er nickte, griff mit einer raschen Handbe­wegung nach ihr und packte aus. Stück für Stück legte er den gesamten Fund auf den Tisch. Dr. Meisenberg wurde ein we­nig blass, verlor aber, als Ärztin so einiges ge­wohnt, nicht die Fassung. »Das ... ist von einem Menschen!«, rief sie aus. Und nun musste Tim auch mit dem Rest seiner Ge­schichte herausrücken. Unterdessen sah sich Freya die Knochen etwas genauer an. »Also«, sagte sie schließlich, »eins steht fest: Der ist schon 'ne ganze Weile tot, Jahre, vielleicht Jahrzehnte.«

»Könnte er auch eine Sie sein? Und kann man das Alter nicht genauer bestimmen?«

»Oh«, entglitt es Freya plötzlich, als hätte sie etwas ent­deckt. Tims Frage schien sie überhaupt nicht zur Kennt­nis genommen zu haben. »Was ist denn das?« Sie griff nach einem der Mittelhand­knochen. Ihre wissenschaftliche Neu­gier schien erwacht. »Sieht aus, als hätte unser Freund hier irgendwann mal einen Handbruch erlitten. Man kann die Fraktur noch erkennen«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Tim. »Äh, was wolltest du wissen?«

»Kann man nicht eine genaue Analyse machen, um über den Zeitpunkt des Todes, über die Herkunft des Opfers und solche Sachen mehr zu erfahren?«

»Sag mal, spinnst du? Das ist hier keine Gerichtsmedizin!«

»Aber zu der bestehen doch bestimmt Kontakte.«

»Willst du jetzt Detektiv spielen oder was?«

»Immer im Dienste der Wahrheit«, sagte er ruhig.

»Das ist ein Fall für die Polizei!«

»Polizei! Du weißt doch genauso gut wie ich, dass das Ein­zige, was die wirklich in­teressiert, die Verteilung von Knöllchen an jeden deutschen Parksünder ist. Glaubst du, die machen ihren Rücken für so'ne uralte Geschichte krumm, die zig Jahre zu­rückliegt? Das ist Zusatz­arbeit für Unter­bezahlte.«

»Und wenn das nun ein Mord gewesen ist? Dann ist das ein Fall für die Mordkom­mission.«

»Das ist mein Fall«, widersprach Tim so energisch, dass das erst mal ein Schweigen gebot. Tim merkte, dass er etwas übers Ziel hinausgeschossen war und versuchte abzu­schwä­chen: »Zunächst ist das mal mein Fall. Ich hab' schließlich die Dinger da ge­funden.«

»Du hast vielleicht Humor«, fand Freya ihre Sprache wie­der, »knallst mir hier 'n paar Menschen­knochen auf'n Tisch und sagst: ›Das ist mein Fall!‹ Wir sind hier doch nicht bei Quincy, das ist blutiger Ernst!«

»O.k., o.k., du hast recht. Ich werde die Polizei benachrich­tigen. Aber auf ein oder zwei Tage wird es ja wohl nicht ankommen, nachdem die Leiche dort jahrzehn­telang verbuddelt gewesen ist.«

»Die Leiche? Hast du denn noch mehr ...?«

»Nein. Ich weiß auch nicht, warum ich das gesagt hab'. Ich war zwar gestern mit dem Hund noch mal da und hab' stun­denlang das Gelände durchwühlt, aber es war nichts weiter zu finden. Demnach kann man gar nicht wissen, ob wirk­lich jemand ge­storben ist ...«

»Aber mit an Sicherheit grenzender Wahrschein­lichkeit. Oder hast du jemals davon gehört, dass jemand sich 'n Arm abhackt, um ihn danach im Wald zu vergraben? Ich hab' in meiner medizinischen Praxis schon 'ne Menge abnormer Dinge erlebt, aber das –«

»Abnorm ist die Sache allemal«, unterbrach Tim sie, »und ich träum’ nachts auch schon schlecht davon.«

Freya rückte ihre Brille zurecht und sah sich einige der Knochen gründlicher an. »Sieht in der Tat so aus, als wäre am Oberarm gesägt worden, diese Spuren ... Mal über­legen ... Was hältst du von folgender Hypothese: Je­mand wurde ermordet und, um Spuren zu verwischen, um die Identi­fikation zu erschweren, hat sein Mörder ihn zer­sägt. Uh!« Die Vorstellung ließ ihr einen Schauer in die Glieder fahren. »Und die einzelnen Leichenteile wurden dann an verschiedenen Orten verscharrt. Das wäre ja nicht das erste Mal. Von so einem Fall hab' ich schon häufiger gehört. Wenn es nicht so makaber wäre – es erscheint zu­mindest logisch.«

»Die Logik eines Mörders«, stimmte Tim zu.

»Mann, wo bin ich da reingeraten? Gruselig. Mit dir erlebt man wirklich die un­glaublichsten Dinge, Timmi. Ich glaub', ich mach' uns noch 'n Tee. Was hast du ei­gentlich gemacht seit damals? Noch mehr so Sachen?«

Tim fiel darauf keine Antwort ein, mit der er hätte zufrieden sein können. Schweigen breitete sich aus. Freya legte nach: »Wie ist es dir ergangen?«

Gern sprach er nicht über sich selbst und über sein Leben. Ja, seit dem Studium war Zeit vergangen. Und in dieser Zeit hatte Tim sich, wenn er ehrlich war, zurückentwi­ckelt. So musste man das wohl nennen. Ein Sonderling war er ja immer gewesen, aber doch immerhin einer mit Humor, schlagfertig sogar und mit wacher Lust am Gespräch. Und jetzt?

Seit knapp drei Jahren arbeitete er als Lektor für einen Ver­lag, der vorwiegend Bild­bände herausgab. Den Großteil seiner Arbeit konnte er zu Hause am Computer erle­digen. Nur zwei, drei Mal pro Woche fuhr er nach Hamburg, um vor Ort Detailfra­gen zu klären, Absprachen mit Kollegen zu treffen, Anweisungen zu geben, an Sit­zungen und Bespre­chungen teilzunehmen, mit Autoren und Fotografen zu re­den, teure Ferngespräche zu führen oder teure Farblaserausd­rucke machen zu lassen, eben all die Dinge, für die ein Büro in der Großstadt von Nutzen ist. Tim liebte die Stadt nicht. Und er liebte die Menschen nicht. »Nichts flößt mir weniger Vertrauen ein als Menschen«, hatte er in der Anfangszeit einem Kollegen gestanden, dem er offen­sichtlich sympathisch war. Das beruhte allerdings nicht auf Gegenseitigkeit. »Hast du Lust mit rüber zum Döner-La­den?«, hatte der einmal sogar gefragt. Einige aus dem Ver­lag aßen dort regelmäßig zu Mittag. Aha, so'n sozial Kompetenter, hatte Tim gedacht, der Menschen gern heim­lich analysierte. Er hatte auf seine Tupperdose mit Schwarzbrot-Stullen verwiesen, verlegen gelächelt und dankend abgelehnt. Er rechnete sich selbst, und zwar völlig ungehemmt, der Spezies seltsamer Einsiedler zu. Irgendetw­as hielt ihn von der Menschheit fern, irgendeine unbestimmte Angst. Schon als Kind hatte er den Alm-Öhi aus »Heidi« bewundert, vor allem in der Lebensphase vor Heidi. Tatsächlich erinnerte seine Lebensweise von ferne an das literarische Vorbild: Zurückgezogen lebte er in einem renovierten Bauernhaus. Statt der Berge gab es den Kanal. Die nächste Siedlung, eine Art »Dörfli«, war fünf Kilometer entfernt und ihr wichtigstes Gebäude ein Altenheim. Man kann schwerlich umhin, aus all diesen Beobachtungen zu folgern: Tim brauchte keinen Menschen auf der Welt. Und vielleicht war es auch keine Übertreibung zu sagen: Andere Menschen waren ihm total egal. Aber sollte er das alles seiner alten Studienkollegin anvertrauen? Was würde sie davon halten?

Tim antwortet: »Ach, man leibt und lebt.« Und erst als der Satz schon ausgesprochen im Raum stand, bemerkte er, dass er die Reihenfolge der beiden Verben durcheinan­der gebracht hatte. Das mit dem Verlag erwähnte er auch noch kurz. Dann nahm er einen Schluck Tee und schlürfte dabei leicht.

Als die Dämmerung einsetzte, verabschiedete sich Tim ebenso plötzlich, wie er mit dem Telefonanruf nach so lan­ger Zeit aus der Versenkung aufgetaucht war. Dieser Tim Schlüter war doch ein unergründlicher Kerl. Aber Freya mochte ihn, sie mochte seine unterkühlte, scharfsinnige und bisweilen ironisch-spitzfindige Art. Und sie hatte gleich ge­wusst, dass sie ihm seine Bitte nicht würde abschlagen kön­nen. Sie versprach ihm also, sich um die erwünschte Analy­se zu bemühen. »Sobald die Er­gebnisse vorliegen, ruf' ich dich an. Deine Nummer hab' ich noch irgendwo. Immer noch das einsame, alte Bauernhaus zwischen Kiel und Rendsburg, das du von dei­nem Opa geerbt hast?«

»Inzwischen mit komplett renovierten Wohnräumen. Man­che Träume werden eben doch Wirklichkeit.«

»Wusste gar nicht, dass man beim Verlag so gut verdient.«

»Man braucht im Leben immer etwas Glück. Neben allem Können. Bis dann also, ich verlass' mich auf dich.«

»Und ich verlass' mich darauf, dass du die Polizei infor­mierst. Du hast es verspro­chen.«

»Klar.«

Allein in der Teeküche ihrer Station zurückgeblieben, nipp­te Freya an ih­rem kalten Tee und knabberte den letzten Keks auf, während sie mit der anderen Hand an ihrem hüb­schen Zopf drehte und mit wachen Augen auf Menschen­knochen starrte.

PUZZLE - Mord am Kanal

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