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Vorwort
ОглавлениеGeschichtsbilder sind Resulte eingehender Selektionsprozesse von Ereignissen der Vergangenheit. Damit sind sie einem ständigen Wandel unterworfen, ganz gleich, ob sie einem Gegenwartsbewusstein entstammen oder ob es sich um Rekonstruktionen seit Jahrtausenden vergangener Geschichte handelt.
Auf die Auswahl von geschichtsträchtigen Ereignissen der Antike haben wir heute selbstverständlich keinen Einfluss mehr. Was Primärquellen angeht, sind Forscher darauf angewiesen, bewusst gemachte Zeugnisse auszuwerten und unbewusst hinterlassene Daten, wie durch Ausgrabungen gewonnene archäologische Funde, zum Sprechen zu bringen. Die Ägyptologie stellt hier keine Ausnahme dar, auch sie ist auf die Bewertung vorhandener und noch zu gewinnender Quellen angewiesen. Dabei hat die Auswertung gezielt für einen späteren Gebrauch gefertigter altägyptischer Quellen wie Monumente, die die Geschichte derer beleuchten, die sie in Auftrag gaben, den Blick auf die offene Geschichte verstellt. Diese lässt sich nicht immer mit Namen und Regierungsjahren von Pharaonen verbinden. Es liegt in der Natur der Sache, dass nichtoffizialisierte Zeugnisse einen bisweilen unverstellten Blick auf das Alte Ägypten ermöglichen, weil sie sich weniger formalen Zwängen ausgesetzt sahen. Setzt man die Literarizität im Alten Ägypten mit 5 % an – ein sehr optimistischer Wert –, so erhält man den ungefähren Bevölkerungsanteil der kulturschaffenden Elite an der ägyptischen Gesellschaft. Zu Recht wurde seit dem 20. Jahrhundert innerhalb der sich geschichtswissenschaftlich betätigenden deutschsprachigen Ägyptologie der Begriff der Hochkultur bemüht, um die herausragenden Errungenschaften des frühen Alten Ägypten zu benennen. In der Soziologie verwendet, bezeichnet dieser Begriff jedoch die von Eliten als meinungsbildend genutzten Kulturleistungen und bildet damit einen Gegenpol zur Alltagskultur. Dies hatte zur Folge, dass diejenigen Wissenschaftler, die sich um die Identifizierung des Aspektes der Hochkultur bemühen, am kulturschaffenden Prozess offenbar unbeteiligte Schichten ausblenden, obwohl gerade diese die Empfänger waren. Dies hat gerade für das Alte Ägypten seit den 1980er Jahren zu einem unbequem hohen Abstraktionsgrad geführt. Die unteren Schichten namhaft zu machen ist erst gelungen, als während der 1960er Jahre in der englischsprachigen Soziologie und parallel zur Gründung dessen, was heute als Cultural Studies bezeichnet wird, low culture als Untersuchungsgegenstand akzeptiert wurde. Die gegen Ende der 1960er Jahre vermehrt einsetzenden Siedlungsgrabungen in Ägypten sind das wohl deutlichste Kennzeichen dieser Entwicklung. Heute geht es vermehrt darum, die verschiedenen Kommunikationsebenen zwischen den sozialen Schichten Ägyptens zu identifizieren und zu dekodieren. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei für das Alte Ägypten der Akt der Aufführung, der insbesondere dann wichtig wird, wenn die unteren Schichten abgeholt werden sollen: Kulturell siginifikante Interpretationen werden plausibel, universell und sogar vernünftig, wenn sie nur häufig wiederholt werden.
Der vorliegende Band möchte hier neue Wege gehen. Er hat es sich zur Aufgabe gesetzt, neben der pharaonischen Geschichte von den Anfängen bis zur Eroberung des Landes durch Alexander den Großen 333/32 v. Chr., insbesondere kulturgeschichtliche Zusammenhänge zu beleuchten. Dabei soll der Blick auf, oder besser: für die die schweigenden Mehrheiten der Bevölkerung des Alten Ägypten geöffnet werden, wie er sich in Prozessakten, privaten Briefen, aber auch in Hausgrundrissen und pathologischen Befunden erschließt. So fragt dieser Band nicht nur nach gesicherten historischen Daten, sondern auch nach den Strategien kulturellen Erinnerns und Vergessens, nach dem Publikum von Rezitationstexten, nach Ausdrucksformen individueller Religiosität, sozialer Ausdifferenzierung usw. Im Vordergrund steht dabei die Frage, wie Bedeutung generiert und verbreitet wird und welche sozialen Praktiken, Glaubensvorstellungen, Institutionen und politische Strukturen den Fortbestand des pharaonischen Ägypten über 3000 Jahre hinweg garantierten oder in Zweifel zogen.
Birmingham, im Juli 2011 | Martin Bommas |