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Kapitel 3

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Kreuth

Alte Menschen. Ohne Zweifel. Aber es fiel ihm schwer, das Alter genauer zu bestimmen. Es waren chinesische Gesichter, die für ihn als Ungeübtem alle gleich aussahen. Jemand kommentierte die Bilder aus dem Hintergrund. Die Kamera zeigte einen Flur, ›sah‹ immer wieder in Zimmer, in denen meist Männer auf einem Stuhl oder einem Bett saßen und vor sich hinstarrten oder -brabbelten. Leider war der Kommentar auf Chinesisch. Er wollte schon den Stick aus seinem Laptop ziehen, als er eine deutsche Stimme vernahm, die er kannte. Jetzt wurden ihm die Abläufe erklärt.

Es handelte sich um eine Pflegeeinrichtung in einer Stadt namens Ürümqi. Das war zu verstehen, danach wurde es undeutlich. Der deutsche Kommentar wurde ausgeblendet, die Bilder liefen weiter. Das Heim war spartanisch eingerichtet. Es gab einen Aufenthaltsraum, wo Frauen und Männer an Tischen saßen, neben ihnen Infusionsständer. Kanülen führten in faltige Arme. Die Menschen nahmen das größtenteils ohne Regung hin. Bei einem Schwenk konnte man für den Bruchteil einer Sekunde Dutzende Pfleger in weißen Schutzanzügen und Handschuhen an der Wand aufgereiht stehen sehen. Dann waren da wieder die alten Gesichter, die Kamera wurde auf ein Stativ gestellt. Sie filmte jetzt eine Frau und einen Mann, die sich an den Händen hielten, wahrscheinlich ein Ehepaar. Die Augen kaum zu sehen vor lauter Runzeln, die Wangen hingen tief, ihm zitterten die Finger auffallend stark. Eine Hand kam rechts ins Bild, man hörte einen Kommentar, ehe die Hand am Regler des Infusionsbeutels drehte. Nichts passierte.

Wieder wollte er ausschalten, zumindest vorspulen, als er die erste Regung der Frau bemerkte. Etwas schien in ihrem Gesicht anzuspringen, es war wie ein Licht, eine langsam wachsende Erregung. Ihre Mundwinkel zuckten. Gleichzeitig wurde die Linke des Mannes ruhiger, entspannte sich. Sein Mund öffnete sich, ein Stöhnen folgte, das in ein Gurgeln überging. Der Oberkörper schwankte. Er wand sich, lachte, spuckte auf den Boden und blickte zu seiner Frau, die ebenfalls lächelte. Sie begannen zu sprechen, erst einfache Worte, dann formten sie Sätze, doch er verstand nichts.

»Was sagt er?«, fragte die deutsche Stimme, die er kannte.

Eine Frauenstimme antwortete. »Er sagt: ›Da bist du ja. Wo warst du, Blume?‹«

»Er erkennt sie?«

»Ja.«

»Wann war das das letzte Mal der Fall?«

»Vor drei Jahren. Der Proband ist seit zwei Jahren in Agonie, erkannte weder andere noch sich selbst im Spiegel.«

Die Frau hob die Rechte und führte sie zur Wange ihres Mannes, streichelte unsicher, aber dennoch glücklich lächelnd über die Haut. Es war herzzerreißend mit anzusehen. Minute um Minute verging. Er konnte sich nicht sattsehen an diesem Schauspiel des Erwachens – und bekam Zweifel. Er wollte sich ein Bier holen, da tat sich plötzlich etwas auf dem Bildschirm. Die Hand des Mannes ballte sich. Mit einer ruckartigen Bewegung schlug er sich ins Gesicht, riss den Infusionsschlauch aus dem Arm und im nächsten Moment brach er zusammen. Seine Frau schrie, sprang auf und stieß dabei die Kamera um.

Der Film wurde unterbrochen, setzte wieder ein. Selber Raum, andere Menschen. Wieder leuchteten die Gesichter, um kurz darauf das schrecklichste Grauen zu zeigen, das Menschen erleben können. Als würde sie Dämonen erblicken, die sie längst vergessen hatten. Er begriff, was seine Entdeckung anrichtete. Er begriff, dass er handeln musste. Sie waren gierig und er würde sie mit ihren schlimmsten Ängsten konfrontieren. Das war sein Vermächtnis. Er hatte es in die Welt geholt. Er würde es auch wieder vernichten.

Er schaute aus dem Fenster, wo er den Verkehr der Bundesstraße zwar nicht sehen, aber deutlich hören konnte. Er wusste, wie die Motorradfahrer, die unter der Woche brav in ihren Waben in der Stadt und bei der Arbeit saßen, jetzt den Höllenreiter spielten, ihre hochtourigen Motorräder auf der Straße hoch zum Achenpass aufdrehten, ohne Rücksicht, ohne Verständnis für die Umgebung. Es war diese Ignoranz, die sich manchmal nur im Kleinen zeigte, die ihn rasend werden ließ. Hin und wieder bemerkte er weiter unten auf einem Trampelpfad die verschwitzten Paare, wie sie achtlos an Braunelle, Fingerkraut und Enzian vorbeistapften, wie sie hinter dreihundert Jahre alten Ahornbäumen in die Hocke gingen und sich entleerten und ihre verdammten Papiertaschentücher hinterließen. Ausgerechnet am Bergahorn. Dieser Riese, den sie in guten Zeiten zur Zuckerherstellung genutzt und das Laub als Schaf- und Ziegenfutter hergenommen hatten.

Den Tisch, an dem er saß, hatte er aus einem solchen Stamm gefertigt, in einem der letzten Sägewerke zusammenschneiden lassen und selbst geschreinert. Er war hier geboren, also, so fand er, hatte er die Verpflichtung, wie alle, die hier lebten, mit der Umgebung achtsam umzugehen. Sie zu schützen und zu erhalten, für die nachfolgenden Generationen.

Zu viele hatten das Tal, das Oberland für wirtschaftliche Interessen ausgebeutet und verschandelt. Viele seiner einheimischen Freunde hatten ihren Grund verkauft, an diejenigen von außen, die nur die Idylle für ein paar Tage konsumieren wollten. Wer von denen wusste etwas von der majestätischen Schönheit eines Sommermorgens nach Tagen des Regens? Wenn die Schleier des Nebels über die Wipfel zogen, orchestriert von einem Morgenwind, der sie verscheuchen wollte, damit die Sonne das Tal erwärmte und damit das Spiel, den ewigen Rhythmus der Berge inszenierte. Heimat waren nicht Trachten und Bier. Heimat waren Stille und Ehrfurcht vor dieser Natur, in der die Menschen demütig leben sollten.

Es ist die Heimstatt des Wassers, dachte er. Ohne Wasser sind wir alle nichts. Und wenn wir es genau beobachten, wissen wir, dass es Geheimnisse trägt, wie das Wasser in der Höhle. Es ist das flüssige Gedächtnis dieser Region. Wer die verkauft, ist mein Feind. Wer die zerstört, muss zerstört werden. Und während er das dachte, bemerkte er nicht, wie er sich einen Fingernagel, der ein wenig eingerissen war, komplett abriss. Das Blut lief auf den Tisch aus Bergahorn. Unbemerkt von Paul, der nur noch Wut war.

Quercher und der Totengraben

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