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Kapitel 1

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München, Innenstadt

»Ein typischer Fall war ein siebenunddreißigjähriger Familienvater, der eines Morgens mit seinem Fahrrad Semmeln besorgen wollte. Statt damit zurückzukommen, machte er sich auf den Weg nach Frankfurt, ohne eine Erinnerung daran zu haben, warum er unterwegs war. Noch eklatanter war, dass er keinerlei Erinnerung an seine eigene Person hatte.«

Der Professor machte eine Pause, griff zum Glas, das ihm ein Assistent auf den Tisch gestellt hatte, und trank. Zweimal musste er sich räuspern und der Versuchung widerstehen, auf sein Smartphone zu schauen. Stattdessen blickte er hinaus in den Innenhof, drückte die Panik wieder in den Käfig seines Bewusstseins. Das Auditorium wurde unruhig, einige murmelten und kicherten.

»Also … also dieser Mann berichtete uns später, in Schaufensterscheiben geschaut, mit dem eigenen Gesicht aber keinerlei Assoziationen oder Bekanntheitsgefühle verknüpft zu haben. In Frankfurt traf er auf einen Obdachlosen, der ihm riet, zum Bahnhof zu fahren. Dort schickte ihn die Heilsarmee weiter zur Universitätspsychiatrie. Die Kollegen diagnostizierten einen dissoziativen Fugue-Zustand. Der Mann fühlte sich in der Klinik wohl. Da er keinen Namen angab, wurde er anfangs mit ›N. N.‹ geführt, woraufhin ein Assistenzarzt dem Patienten als provisorische Identität den Namen ›Norbert Neumann‹ statt ›N. N.‹ gab. Er benutzt ihn auch nach Offenlegung seiner Identität lieber als den eigenen. Seine Frau hatte ihn zur Fahndung ausschreiben lassen und nach knapp zwei Wochen wurde er schließlich identifiziert. Doch anstatt seine Frau zu erkennen, meinte er …«

Sein Smartphone vibrierte. Mit einem Seitenblick erkannte er die Nummer seines Anwalts. Sofort kam die Panik aus dem Käfig, der kalte Schweiß trat ihm auf die Stirn.

»Also meinte er, man wolle ihn, na ja, man wolle ihn verkuppeln.«

Die Studierenden lachten. Das gab ihm Zeit, den Anruf wegzudrücken. Er wusste, was da auf ihn wartete.

»Schließlich ging er doch zu seiner Familie zurück und beschwerte sich gleich darüber, wie man mit solchen Möbeln und Tapeten leben könne. Wie sich herausstellte, war er das einzige Kind eines sich häufig streitenden Ehepaars – beide Alkoholiker. Seine Mutter hätte statt seiner lieber eine Tochter geboren, weswegen sie ihn die ersten Lebensjahre in Mädchenkleider steckte, ihn als Mädchen erzog und sich später über sein weibliches Verhalten beschwerte. Er heiratete eine Frau, die in ihrer Dominanz der Mutter in nichts nachstand, nahm ihren Nachnamen als gemeinsamen Familiennamen an und wurde von ihr immer wieder ermahnt, sich mehr zu engagieren und mehr Geld für die Familie zu verdienen. Eine kurz bevorstehende Urlaubsreise, für die ihm eigentlich die Mittel fehlten, löste offensichtlich den Fugue-Zustand aus.«

Er hielt inne, sein Herz raste, da das Smartphone erneut vibrierte. Er wollte das Gespräch unbedingt annehmen. Kaum hatte er nach dem Telefon gegriffen, rutschte es ihm aus der Hand, fiel scheppernd zu Boden und rutschte vor die erste Plenumsreihe.

Er unterdrückte den Impuls, nach vorn zu eilen und sich zu bücken. Mit schweißnassem Gesicht gab er der Meute in wenigen Sätzen Hausaufgaben und griff nach Sakko und Tasche, um bemüht beiläufig das Handy aufzuheben und aus dem Vorlesungssaal zu treten.

Er lief hinauf in den vierten Stock, grüßte hastig seine Kollegen, schloss mit fahrigen Bewegungen die Tür zu seinem Büro auf, warf sie hinter sich zu und schloss ab. Er bemerkte nur das weit offen stehende Fenster. Auf dem Tisch lag ein Messer, das zweifellos nicht ihm gehörte und einem Metzger Freude bereitet hätte. Er griff danach, wog es in der Hand, spürte etwas hinter sich, wollte sich umdrehen.

Dann ging alles schnell.

Schwarz. Schmerz. Stechen. Schreien.

Mit Mühe hob er die Hände und umfasste die Schnitte, aus denen jetzt pulsierend das Blut herausquoll. Er wollte schreien, aber die mangelnde Versorgung seines Gehirns hatte bereits eingesetzt und ließ nur zu, dass er fassungslos brabbelte, ehe er in einer fast kunstvollen Drehung zum Fenstersims taumelte. Der Rahmen stoppte seinen Oberkörper, die Arme hingen an der Heizung unterhalb des Fensters, Kopf und Hals weit heraus. Seine sterbenden Augen schauten nach unten, wo Momente später sein Blut auf die Smartphones und Coffees to go der dort sitzenden Studierenden fiel, die nun nach oben blickten und ihrem Professor in seinen letzten Lebenssekunden zusehen konnten.

Quercher und der Totengraben

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