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Kapitel 5

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Weyarn

In der Halle standen vier schöne Menschen und der Bürgermeister von Weyarn. Der Mann kam von einer Sitzung mit den Landfrauen, wie er lautstark berichtete, hatte mindestens zwei Weißbier in seinen umfangreichen Körper geschüttet und konnte so mit einem leicht ins Rötliche changierenden Gesicht aufwarten. Die vier schönen Menschen hatten von Anfang an keinen Draht zu diesem Feierabendpolitiker.

Ihnen gehörte diese Halle. Er wollte etwas von ihnen, sie nichts von ihm. Keine Reduzierung der Gewerbesteuer, keine Förderung. Sie wollten ihre Ruhe. Aber die Höflichkeit gebot es, den Dorfschulzen zu empfangen. Sie kamen aus der Region, ihnen war Tradition nicht fremd. Sie konnten, wenn sie wollten, in seinem Dialekt sprechen. Schließlich waren alle im Krankenhaus Agatharied, einem Ort nicht weit von hier, geboren worden. Sie waren zum Gymnasium Tegernsee gegangen, hatten das Abitur mit 1,0 abgeschlossen, das Eliteprogramm der bayerischen Staatsregierung genossen und waren bei Banken und Unternehmen schnell in Förderprogrammen und Führungspositionen gelandet. Vor dem Bürgermeister stand Bayerns Elite.

»Also, Herr Schlickenschlitzl, das ist die …«, begann Ferdi.

»Nennts mich doch Juppi. Wir san ja jetzt quasi Nachbarn. Mei Wiesn grenzt ja an dös Industriegebiet«, versuchte es der Politiker versöhnlich. Er war Landwirt, hatte den Hof seinem Sohn übergeben und sich vom Gemeinderat nach oben an die Spitze der Gemeinde wählen lassen.

Weyarn lag direkt an der Autobahn A 8, die von München nach Salzburg führte. Einer von Schlickenschlitzls Vorgängern hatte die Gemeinde für einige Jahre vor dem Schicksal einer Münchner Schlafstadt bewahrt, hatte Bürgerbeteiligungsprogramme aufgesetzt. Doch das war Vergangenheit. Der Druck aus der Stadt auf diese Orte war enorm. Jeder wollte raus, München war zu teuer, München war zu voll. Weyarn war ein Pendlerdorado. Das spürten selbst alte Unternehmen, die ihre Gewerbemiete längst nicht mehr zahlen konnten. So wurde dieser alte Industriekomplex im Schatten der Autobahn an eine Immobilienfirma verkauft, deren Sitz am Tegernsee lag und dem Vater eines der vier gehörte.

»Gut, Juppi«, fuhr Ferdi fort. »Das ist die Nina. Die kommt von der Bank, war dort im Bereich Mergers and Acquisitions …«

»Aber ned bei der Sparkasse, dem Sauladen.« Schlickenschlitzl lachte.

»Nein, bei Goldman Sachs.«

Der Bürgermeister nickte anerkennend und tat so, als würde er mit dem Namen etwas anfangen können.

»Die Laura hat Chemie studiert, war bei McKinsey, hat zwei Start-ups im Logistikbereich gegründet. Der Jasper hat als Erster von uns seinen BA-Abschluss gemacht …«

»Wo is dös?«

»Was jetzt?«, fragte Ferdi nervös.

»Na, des Bi-ey?«

»Ach so.«

Die anderen schmunzelten.

»Das ist B und A, also Business Administration. Er hat mit magna cum laude abgeschlossen. Also richtig gut«, schob Ferdi schnell hinterher.

»Was machen jetzt die jungen Leut bei euch alles?«, fragte der Bürgermeister.

»Gut, dass du fragst. Relaxando, unsere Firma, wird auf dem Recreation Healthmarket ihren Footprint hinterlassen. Wir haben ein paar sehr interessante Projekte in der Pipeline. Wir sind natürlich erst auf die Low Hanging, also auf die niedrig hängenden Früchte, gegangen. Was relaxt unsere Generation? Na ja, wir haben den Vertrieb von diversen Entspannungsdrinks aufgebaut. Das war ein No-Brainer.«

Der Bürgermeister nickte eifrig.

»Wir wollten aber bewusst in den Healthcare-Bereich, haben neben dem Vertrieb und der Produktion einen reinen Support für die Medizintouristen global aufgesetzt. Wenn du, Juppi, also eine neue Hüfte brauchst, gehst du auf unsere Seite, vergleichst fünftausend Health-Destinationen weltweit, schickst uns deine medizinischen Daten und wir suchen für dich maßgeschneidert deine Klinik inklusive des Paperwork zusammen. Unser Angebot wird mittlerweile von mehreren Privatkassen supportet, das ist dann auch für die eine Win-Situation …«

Schlickenschlitzl war bei ›Health-Destinationen‹ offensichtlich gedanklich ausgestiegen. Die Weißbiere und seine überschaubaren Englischkenntnisse ließen ihn am Businessgerede scheitern. Nach einer halben Stunde und einem Schulterklopfen hier und da bei den jungen Unternehmern verabschiedete er sich.

Ferdi Enders, Nina Anselm, Jasper Köhler und Laura Binsinger kannten sich vom Gymnasium. Ihre Eltern, bis auf Lauras, waren miteinander lose befreundet. Das brachte die Herkunft einfach mit. In ihren Kreisen überließ man nichts dem Zufall. Ein Internat sei nie infrage gekommen für die Kinder, hatte die Mutter von Ferdi gesagt.

»Ich will alles steuern, nichts einem anderen abgeben, bevor die Kinder in der richtigen Spur sind.«

Das passierte auch. Niemals gab es ein Jammern über das Lernen, nie Stöhnen über Leistungsanforderungen. Alles schien ihnen leicht von der Hand zu gehen. Als hätte das nicht gereicht, hatten die Natur und der Genpool dafür gesorgt, dass sie mit ihrem attraktiven Äußeren wie kleine Sonnen auf alles schienen, was ihnen in die Quere kam. Schön, reich und klug: der Dreiklang des Erfolgs. Sie konnten ihn spielen, wann immer sie wollten.

Seit vier Jahren investierte ihre Wagniskapitalfirma Z Ventures über verschiedene Fonds in vielversprechende Internet- und Technologieunternehmen und war in kurzer Zeit einer der erfolgreichsten und finanzstärksten Frühphasen- und Wachstumsinvestoren Bayerns. Z Ventures hatte sich bereits an mehr als hundertsechzig Unternehmen beteiligt, darunter Onlineschuhhändler und Essenlieferservices, Logistikunternehmen und Internetjobbörsen. Das angelegte Kapital betrug jetzt schon mehr als fünfhundert Millionen Euro. Die vier Investoren waren alle Anfang dreißig und nach außen hin mehrfache Millionäre, zumindest auf dem Papier. Nur ihr Vermögensberater, ein Freund von Ferdis Vater, wusste, dass sie kurz vor einer finanziellen Katastrophe standen.

In der alten Fabrikationshalle, in der einst laute Maschinen Metall gepresst und gefräst hatten, standen jetzt wie in einem Brennpunkt-Jugendzentrum der evangelischen Kirche junge Menschen in Hoodies und Basecaps an Computern und hackten Programme zusammen. Mal waren es sinnfreie Spiele-Apps, mal ein Programm für ein Partnerportal für Menschen mit ›besonderen‹ Neigungen. Z Fonds war selbst unternehmerisch tätig und investierte in andere Start-ups. Das war das Geheimnis ihres scheinbaren Erfolgs. Wenn sie ihr von Investoren, die alle auf ein ›Einhorn‹ hofften, anvertrautes Kapital einer jungen Firma gaben, wussten sie, so erklärten sie es ihren Geldgebern, wo sie hinleuchten mussten, um festzustellen, ob der Laden ein Investment wert war. Oder ob es eben nur eine jener Blasennummern von unbegabten BWlern mit Hang zum schnellen Geld war.

Nina hatte mit sechzehn vor der Frage gestanden, ob sie ihre Karriere im Leistungszentrum der deutschen Skiprofis fortsetzen sollte. Sie entschied sich für eine Laufbahn bei einer Investmentbank.

Ferdi sollte die Übernahme einer französischen Firma abschließen. Gleichzeitig hatte er in Biarritz bei einem Wettbewerb im Wellenreiten mitmachen wollen. Er war nachts mit einem Mietwagen von Paris losgefahren und hatte es noch am Morgen in die Wellen geschafft.

Laura hatte ihr Studium bis zu ihrer Promotion in einem Rekordtempo durchgezogen, als Klimaaktivistin quasi auf der anderen Seite gestanden, ehe sie das Leben von Geld und Einfluss kennengelernt hatte.

Sie alle liebten schnelle Entschlüsse, quick and dirty. Keine Kompromisse, wie sie sich immer wieder gegenseitig versicherten. So war auch die Entscheidung für den Kauf dieser Fabrikhalle zustande gekommen. Alle vier kletterten professionell, liebten das Bouldern, das Klettern ohne Sicherung. Einen Steinwurf von ihrer Firma entfernt hatte vor Jahren eine Kletterhalle eröffnet. Sie hatten sie gesehen und kurzerhand gekauft und sie wieder an den Betreiber verpachtet. Danach hatten sie mehrere solcher Kletterhallen aufgebaut und dafür ein Franchisesystem entwickelt, bevor ihnen ein größerer Investor ein Angebot unterbreitet hatte und sie damit wieder neues Geld für andere Projekte gehabt hatten. Es war so einfach. ›Work hard, play hard‹ – das war ihr Motto.

Sie saßen in ihrem provisorischen ›War Room‹, dem ehemaligen Büro des Werkleiters, das, über eine eiserne Treppe erreichbar, oberhalb all der fleißigen Nerds am Kopfende wie ein Adlernest lag. Ihr offizieller Firmensitz befand sich aus steuerlichen Gründen achtzig Kilometer östlich in Österreich. Aber hier war ihr Maschinenraum, hier hackten ihre Krieger in die Tasten, programmierten, schufteten Tag und Nacht. Hier sahen sie ihre Arbeit jenseits von Algorithmen und Big Data.

Ferdi begann mit einer kurzen Einführung zum Stand der Dinge. »Antrum Coeli: fünfzehn Humantests, fünfzehnmal erfolgreich. Wirkstoff wurde positiv von unserem Partnerlabor in Südafrika analysiert. Er ist bislang unbekannt, ebenso Vergleichsstoffe. Es gibt Ähnlichkeiten mit bisherigen Medikamenten, das war es auch schon. Dein Freund, Laura, hat die Hand auf der Location und damit auf der Lieferung. Solange er an unserer finanziellen Leine ist, bleiben alle cool, haben wir alles im Griff.« Er wollte abgeklärt wirken, doch er war es nicht. Wenn dieses Ding fliegen würde, wären sie nicht nur irgendwelche Wagniskapitalgeber, die zufällig aufs richtige Pferd gesetzt hätten. Sie wären Bayer 4.0. Sie wären Götter.

Nina kam mit den Zweifeln – natürlich.

»Das ist der Starter«, sagte sie. »Allerdings sind wir nicht annähernd im Bereich der Zulassung von Antrum Coeli. Unser Freund kann nur der erste Schritt sein. An einem Punkt müssen wir sagen: ›Okay, das war’s. Thanx, du bist raus.‹«

Alle nickten. So etwas tat weh. Aber wer in ihren Höhen agierte, musste auch Kollateralschäden hinnehmen.

»Wie cashen wir dann ein?« Ferdi legte den Finger auf seine Lippen. Er war der Paranoiker in der Truppe, behaupteten die anderen, der immer an Überwachung anderer, feindlicher Mächte glaubte.

»Ich kümmere mich«, antwortete Nina, die für die Finanzierung des Projekts zuständig war.

»Wir sind in der Erprobung. Noch läuft unser ›Affe‹ unter ›frei empfangbar‹, weil pflanzlich und harmlos. Also sind klinische Tests nicht so reguliert. Das wird noch kommen. Wir müssen irgendwann das Patent einholen. Das ist der Turning Point. Da geht es um die Wurst. Da haben wir ganz gute Firewalls, das machen unsere Experten in Asien. Bis wir den Wirkstoff nicht selbst extrahiert bekommen, ist das noch ein Stochern im Nebel.«

»Okay, Ferdi. Und wie sieht zum jetzigen Zeitpunkt das Risk-Reward-Profile aus?«, fragte Nina.

Er verdrehte die Augen. Warum mussten immer die Frauen die Probleme sehen und nicht die Chancen? Er schwieg – wie die anderen auch.

»Gehen wir noch an die Wand?«, fragte Laura in die Stille.

Alle nickten und zogen sich im Büro um. Sie kannten keine Scham voreinander, hatten auf gemeinsamen Trips in die Berge dieser Welt alles voneinander gesehen, inklusive der Angst jedes Einzelnen. Sie waren jung und dennoch vertrauter miteinander als manches Ehepaar zur silbernen Hochzeit. Auf dem Weg hinaus verteilten sie noch Aufträge, rüffelten mit genervter Stimme einige Langeweiler, die »nicht ihre Skills ausspielten«, und lobten andere für das Erreichen »erster Milestones«.

»Ich habe was Besseres«, sagte Ferdi auf dem Weg zur Kletterhalle. Statt rechts hineinzugehen, winkte er sie weiter auf einen Kiesweg, der auf die Autobahn zuführte.

Immer lauter wurde das Dröhnen der Fahrzeuge, das Rattern, wenn Tonnen über Spurrillen bretterten. Hier spannte sich ein Monstrum über das Tal der Mangfall, ein Fluss, der vom Tegernsee kommend nordöstlich seine Bahn zog und in einem tiefen Gebirgseinschnitt lag. Dieses Tal, unscheinbar und dunkel, versorgte die Stadt München mit Wasser. Ferdi erinnerte sich an diese Fakten, als er hinunterblickte und den Wasserspeicher sah, der an einem Hang lag. Wasser – das ist eine andere Zeit, dachte er für einen Augenblick und schüttelte sich.

Die Brücke hatte eine dämonisch schöne Ästhetik. Die Konstrukteure hatten sich unter der Fahrbahn eine weitere Strecke für Fußgänger und Radfahrer ausgedacht. So ersparten sie vielen Wanderern das mühsame Hinab- und Hinaufsteigen der Talhänge. Der Preis war eine Orgie aus Beton, aus Streben und Pfeilern, zweiundsechzig Meter hoch. Die Brücke glich einem in der lieblichen Natur des Oberlands vergessenen Steindrachen.

Es dämmerte schon, als sie in die dunkle, laute Unterführung traten. Am linken und rechten Rand führte der Weg auf die andere Seite des Tals. In der Mitte hatten die Erbauer ovalförmige Öffnungen von mehreren Metern eingelassen, sodass man, nur von Metallzäunen getrennt, hinab in die Tiefe auf den kleinen Fluss sehen konnte.

Sie hatten einen Teil des Zauns herausgenommen und so den Blick auf zwei Betonpfeiler freigegeben, die quer durch das Oval auf die andere Seite führten. Sie waren maximal einen Meter breit und fünfzehn Meter in der Länge, aber sie boten keinerlei Halt.

Sie verstanden, was Ferdi wollte. Jeder sollte auf den Pfeilern auf die andere Seite laufen, gesichert durch einen Gurt, ein Seil und eine Winde.

»Jasper, du mit Laura links, ich gehe mit Nina auf den rechten Pfeiler.«

Ferdi hatte schon den Gurt um seine Beine und seinen Leib geschlungen, war mit einem Karabinerhaken gesichert, als er sich ein Stück weit vorbeugte, um zu prüfen, wo er auf den Pfeiler zu treten hatte. Laura rief etwas, Ferdi drehte sich um, trat auf ein am Boden liegendes Seil, geriet in Schieflage und wollte nach Nina greifen, die reflexartig einen Schritt nach hinten wich. Er verlor den Halt, schrie, fiel, tiefer.

Drei Sekunden dauert es, bis man nach der gültigen Physik aus zweiundsechzig Metern den Boden erreicht. Viel Zeit, um über das Leben nachzudenken.

Quercher und der Totengraben

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