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Kapitel 2

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Ostin am Tegernsee

Der Trick war einfach. Max Quercher stand mit dem Sonnenaufgang auf. Seine Hunde streckten sich und torkelten mit ihm in den frühen Morgen, sahen mit ihm nach den Hühnern, denen er Futter hinwarf und deren Eier er mitnahm. Bis die ersten Menschen aus ihren Häusern krabbelten und Krach machten, hatte er sein Frühstück längst genossen und sich ans Ausbessern der Regenrinne gemacht. Am frühen Nachmittag lief er mit dem Dackel und der Schweißhunddame den Höhenweg bis zum Hotel. Auf dem Rückweg kamen ihm schon wieder die agilen Rentner entgegen, die das Tal wie auf Patrouillengang abwanderten. Einer herrschte ihn mit rheinischem Akzent an, die Hunde gefälligst anzuleinen. Quercher reagierte nicht. Selbst als der Mann schimpfend hinter ihm herlief, pfiff er nur seine Hunde zu sich.

Otto, der Dackel, war mittlerweile fast vier Jahre alt. Quercher hatte ihn von seiner alten Lehrerin Frau Huttinger übernommen. Dann war Gertrud in sein Leben gekommen, eine Schweißhündin mit leichten ADHS-Zügen. Niemand nannte sie so. Er rief sie »Trudl« oder »das narrische Viech«. Sie schien das Konzept der vier Beine mit einem Jahr noch nicht ganz verinnerlicht zu haben. Ständig sprang sie an ihm hoch, stolperte über die Wiese, rempelte rüpelhaft den Zwergdackel über den Haufen und hörte nur auf Querchers Pfeifen. Dann setzte sie sich wie die Unschuld vom Lande auf ihre Hinterpfoten und legte den Kopf schräg. Er konnte ihr einfach nicht widerstehen.

Sie passierten eine Wiese mit Alpakas, die neugierig am Zaun weideten. Trudl hielt Abstand. Die Tiere der Familie Reifenstuhl hatten dem Fräulein vor wenigen Wochen eine Lektion erteilt und es in die Enge getrieben. Quercher setzte sich auf eine Bank, griff nach seiner Thermoskanne, nahm einen Schluck Pfefferminztee und sah hinüber auf die andere Seeseite zu seiner alten Heimat. Vom Fuß des Hirschbergs im Süden über den Gasthof Bauer in der Au weit nach Holz hatte ihm der Wald gehört. Damit war er im Tal der größte private Forstbesitzer gewesen. Er, der Sohn eines Schusters, der sich im Tegernsee ertränkt hatte. Er, der Polizeibeamte mit Pensionsanspruch, hatte sich unter den Top Ten der reichsten Männer in Bayern wiedergefunden. Am Flughafen München hatte ein privates Geschäftsflugzeug auf ihn gewartet. Ferienhäuser, überall dort, wo es schön und teuer war, hatten ihm gehört. So war das gewesen – für sechs Monate. Dann war alles wieder weg gewesen. Eben reich, jetzt normal. Eben der Held im Tal, jetzt der Idiot.

Quercher versuchte vergeblich, das Gefühl dieser Zeit nicht an sich heranzulassen. Der Sohn des Schusters, der mühsam aus der Unterschicht im Tal emporgeklettert war, hatte für Monate erlebt, wie richtiger Reichtum war, verschwenderisch und praktisch nicht ausgebbar. Und dann war er auf die Schnauze gefallen.

Menschen hatten Quercher im Supermarkt angestarrt, unverhohlen und sekundenlang, weil er solch ein schönes Beispiel für Häme gewesen war. Eben die halbe Milliarde, jetzt wieder am Kühlregal auf die Preise achten. Eben noch Learjet, jetzt Smart fahren. Letztlich war auch seine Beziehung zu Regina am Geld gescheitert. Es war nicht Erschöpfung, die ihn zur Aufgabe gebracht hatte, es war Scham. Scham darüber, nicht wie Regina eine dicke Haut in der Auseinandersetzung mit der anderen Seite gehabt zu haben. Sie war mit Reichtum groß geworden, kannte das ganze Besteck am Tisch, er wusste nicht einmal, wie man ein Wertpapierdepot anlegte. Er erinnerte sich, wie sie während des Rechtsstreits zufällig im Freihaus Brenner auf Rattlers Erben getroffen waren. Er hätte ihnen direkt dort aufs Maul hauen können. Regina aber hatte höflich gegrüßt, sich lächelnd an den Tisch gesetzt und für die Gegenpartei eine Flasche Prosecco bestellt. Er hatte keinen Bissen essen können. So groß war die Scham gewesen, dass er sein Leben beenden wollte.

Schließlich hatte Quercher das tiefe Tal durchschritten, dank anderer Menschen, die auf ihn aufgepasst hatten. Im Laufe der Monate war die Scham schwächer geworden, doch sie war immer noch präsent.

Vertraute Stimmen waberten zu ihm herüber.

Von Weitem sah er zwei Frauen auf seiner Bank vor dem Haus sitzen. Beide kannte er. Beide würden seinem Wunsch nach Stille nicht nachkommen. Der Tag wird nicht besser, dachte er mürrisch.

»Also gut, Quercher ist jetzt zum selbstversorgenden Ökoschrat geworden?«, fragte Constanze Gerass, als sich Arzu Ahishali mit einem leichten Stöhnen auf die Bank an der Hauswand setzte. Sie konnten von hier aus Arzus Sohn beim Toben auf der Wiese beobachten.

Arzu sah ihre einstige Chefin beim Landeskriminalamt Bayern mit einer Mischung aus Bewunderung und Mitleid an. Constanze Gerass’ Blick auf Arzus Sohn Max Ali war, so schien es ihr, von Wehmut begleitet. Kein Kind, aber eine Bombenkarriere, immer noch der Preis, den Frauen zahlen mussten, wenn sie in einer Männerdomäne aufsteigen wollten. Die Gerass war vor anderthalb Jahren auf eine neue Position nach Berlin ins Innenministerium versetzt worden. Sie war der heimliche Star der dortigen Politszene. Die Gerass war weiblich und hart, wusste Intrigen und Netzwerke zu spinnen und gab gute Interviews. Sie hatte ihre Ex-Mitarbeiter zwei Jahre nicht mehr gesehen. Am Abend hatte sie Arzu angerufen, da Quercher nach Sonnenuntergang grundsätzlich nicht mehr an sein Handy ging. Ob sie vorbeikommen könne, nur auf ein Glas Wein, aus alter Verbundenheit. Arzu hatte zugesagt, schon aus schierer Neugierde. Eine Gerass bittet sehr selten.

»Wie geht es dir?«, fragte Constanze und setzte bewusst die persönliche Anrede ein.

Sie hatte ihrer ehemaligen Mitarbeiterin nie das Du angeboten. So war es allerdings einfacher und sollte sofort Vertraulichkeit herstellen. Arzu verstand es, kommentierte es jedoch, ganz entgegen ihrer sonstigen Art, nicht. Auch etwas, was sie sich von Quercher abgeschaut hatte. Lass die anderen sich ins eigene Grab reden, lieber schweigen und genießen, hatte er ihr auf dem Höhepunkt der eigenen persönlichen Krise geraten. Quercher würde sie siezen. Garantiert.

»Okay, ich mache meine Arbeit als Digitalermittlerin und passe auf den Pflegefall Quercher auf, der es seit der Krise im letzten Jahr vorzieht, nur noch eine begrenzte Menge an Silben von sich zu geben. Kurz, er redet ungern.«

Constanze schmunzelte. Was für ein Paar. Arzu, die gern vor sich hinplapperte, und der schweigsame Schrat Quercher. Kein Liebespaar, aber in so etwas wie einer Ehe steckend.

»Also, was ist da passiert? Ich meine, man gibt doch nicht so einfach ein Vermögen her, speziell dieser Dickkopf. Das passt nicht zu Quercher«, insistierte Constanze.

Arzu stöhnte und rief ihrem Sohn zu, er solle nicht in den Federn der toten Hühner baden, die Quercher am Tag zuvor im Schuppen ins Jenseits befördert hatte. »Also seine alte Lehrerin hat ihm das Erbe von Rattler in ihrem Testament zugestanden. Quercher wurde zum Multimillionär – über Nacht.«

»Ich weiß, Arzu, ich war dabei. Damals. Drei Bürgermeister mussten gehen, sechs Gemeinderäte sitzen im Knast.«

Arzu nickte. »Das Erbe vom Rattler war natürlich viel interessanter. Am Ende belief es sich auf sechshundertachtzig Millionen Euro, inklusive aller Wertanlagen. Das erzeugt Neid.«

»Das ist mir klar. Das habe ich in der Zeitung gelesen. Doch was hat ihn bewogen, irgendwann auf das alles zu verzichten?«

Arzu lachte bitter. »Max wollte mithilfe seiner Ex, der Regina – die kennst du ja?«

»Ja, Regina von Valepp«, Querchers Ex-Freundin, »die Dame aus dem Hochadel, die er immer noch …« Sie brach ab, weil sie ahnte, wie sehr Arzu den Holzkopf liebte, auf eine seltsame Weise. Es war Arzu nur nicht klar, ob sie ihn wie einen größeren irren Bruder oder wie einen Mann liebte.

»Na ja, die wollten ja eine Stiftung gründen, so wie es im Testament verfügt worden war. Die anderen Erben, also die von Rattlers Ehefrau, haben so ziemlich alles aufgefahren, was ging, um das zu verhindern und selbst an das Vermögen heranzukommen. Das waren schlimme Monate. Quercher hat sich sauunwohl in seiner neuen Rolle als millionenschwerer Mäzen und Stiftungschef gefühlt. Er hat sein Privatleben verloren, musste in ominösen Sitzungen mit Anwälten und Bankern sitzen. War laufend in der Presse. Dazu immer die Angriffe der Gegenpartei, dieser Familie Dumpfer, schlimme Leute. Die haben üble Gerüchte im Tal verbreitet. Alles stand auf wackeligen Füßen.«

»Dumpfer? Das sagt mir was«, grübelte Constanze.

»Ja, die Familie stammt aus Mönchengladbach. Böse Leute, sehen wie die Landschaft da oben aus, fad halt.«

»Ach? Mir war nicht bewusst, dass der Niederrhein bei türkischstämmigen Bayern so unbeliebt ist. Aber man lernt ja nie aus im Tal.«

Sie lachten.

»Plötzlich tauchte durchaus erwartet ein neues Testament von Rattler auf. Das musste auf Echtheit geprüft werden. Und was für ein Wunder, es schien echt zu sein. Na ja, am Ende hat ihm Regina den Arsch gerettet. Quercher war kaum mehr in der Lage, irgendetwas zu entscheiden. Hat nur den Imker und Hühnerhalter gespielt. Irgendwann hat er hier oben das Schreien angefangen und drei Tage durchgesoffen, in der Scheune da drüben.«

Constanze schüttelte den Kopf. »Ich nehme an, das hat nicht bei dem Rechtsstreit geholfen.«

Arzu schnaufte. »Überleg mal, du hast von jetzt auf gleich über eine halbe Milliarde Euro zur Verfügung und dann ist plötzlich alles weg. Er hat mit einem Typen, den er aus dem Tal kennt, angefangen, den Hof umzubauen, den Brunnen instand zu setzen, so ein Kram. Der Typ heißt Paul, ist ein völlig verschrobenes Kerlchen, quasi Quercher in jung. Aber sehr klug.«

Querchers Dackel Otto hatte sich eine Hühnerkralle aus einem Eimer stibitzt und rannte damit über die Wiese, verfolgt von Max Ali, dessen Haare nun voller Federn waren.

»Wie hat sie ihm geholfen?«, fragte Constanze.

»Es gab einen Vergleich. Quercher hat die Leitung der Stiftung an Regina und ein Mitglied der Gegenseite übergeben und war damit völlig frei, dafür eben auch ohne Kohle.«

»Hat man euch überhaupt nicht bedacht?«

»Er und ich erhielten jeweils einen Betrag, dessen Höhe wir beide auf Wunsch von Quercher nicht kennen, der jedoch von Regina verwaltet wird. Wir werden also monatlich mit einer bestimmten Summe versorgt. Brauchen wir mehr, wird Regina, die das Geld angelegt hat, es uns zur Verfügung stellen.«

»Ihr seid also quasi wieder Angestellte, diesmal von Regina«, frotzelte Constanze, die sich an Querchers besonderes Verhältnis zu der vermögenden Ex-Freundin erinnerte.

»Jaja, das ist alles etwas kompliziert. Ich arbeite weiter und Quercher macht in Bio und löst lokale Fälle.«

Constanze lachte. »Lokale Fälle? Was ist das denn? Wer ist der Eierdieb von Ostin?«

»Ja, so in etwa.« Arzu verdrehte die Augen.

»Was ist passiert?« Constanze ahnte, dass jetzt eine wirre Quercher-Nummer folgte, schenkte sich ein Glas Weißwein ein und lehnte sich zurück.

»Er hat den Dackeldieb von Enterbach gefasst.«

Constanze verschluckte sich fast. »Wie bitte?«

»Im Winter ist der Dackel der Gräfin von Gmund in Wildbad Kreuth verschwunden. Die Gräfin ist mit einem Feuerwehrler aus Ostin verbandelt, der wiederum ist der Bruder von einem Bergwachtler, der mit Quercher Musik hinten in der Scheune macht.«

»Okay, etwas sehr detailliert, Arzu. Komm zum Kern.«

Trudl, die Schweißhunddame, hüpfte mit scheinbar unkoordiniert herumwirbelnden Beinen auf die Bank neben Arzu und verlangte, sofort und ausgiebig gekrault zu werden.

Arzu sah Constanze gespielt empört an. »Das ist wichtig für die Story. Quercher ist der Sache mit vollem Engagement nachgegangen. Es stellte sich heraus, dass die Gräfin Ärger mit einem Jagdpächter hatte, dessen Aufseher zu wenig Futter an das örtliche Wild verteilt hatte. Der hat den Dackel entführt, Quercher hat Freunde von der KTU in Miesbach gebeten, ihm in der Freizeit zu helfen. Es wurden Wagenspuren identifiziert, der Aufseher von Quercher eine Woche observiert und bis an die slowakische Grenze verfolgt, dort in einer wilden Verfolgungsjagd gestellt und aus dem Wagen geholt. Der Dackel war gerettet, Querchers Auto wurde komplett geschrottet und Regina hat ihm zur Strafe einen rosafarbenen Smart mit Herzen auf den Türen als Ersatzauto hingestellt.«

»Vermutlich gehört dieser Dackelraub zu den größten bayerischen Kriminalfällen der letzten Jahrzehnte.«

Quercher war durch die Küche nach draußen gekommen und stand nun auf der Terrasse neben den Frauen. Max Ali lief auf ihn zu.

Quercher lachte. »Was bist du denn für ein Huhn? Bist du ein Ali-Huhn?«

Der Junge lachte ebenfalls und schüttelte den Kopf, sodass die Federn wie Satelliten um seinen Kopf wirbelten.

»Der Mann vom Tegernsee, der Dackel befreit«, frotzelte die Gerass.

»Die Staatssekretärin aus Berlin, die Menschen im Mittelmeer ertrinken lässt.«

Arzu rollte mit den Augen. »Max Quercher, wollen wir schon wieder unfreundlich werden?«, fragte sie drohend.

Er sah Constanze Gerass schweigend an. Sie trug die übliche Businessfrauenrüstung: Hosenanzug mit weißer Bluse, diskreter Schmuck. Alles strahlte Sachlichkeit aus.

»Ein schlimmes modisches Erbe der Merkel-Jahre«, hatte Regina den Stil einmal spöttisch kommentiert.

Klar, mit einem schmal geschnittenen Gucci-Anzug und den Chanel-Schuhen würde man im auf Bodenständigkeit schauenden Politbetrieb auffallen. Wenigstens trägt sie Schuhe mit Absätzen, dachte er und merkte, wie alt ihn der Spruch machen würde, hätte er ihn ausgesprochen.

»Hallo, Dr. Gerass. Wie geht es Ihnen?«, spielte die Gerass einen möglichen Dialog mit Quercher nach. »Ach, mir geht es gut. Berlin ist nicht wirklich schön. Aber es geht. Ob ich Innenministerin werden will? Ach nein. Ich bin ganz zufrieden, doch man soll nie nie sagen. Und Sie so? – Ja, ich lebe hier mit Hühnern, Hunden und Arzu. Alles läuft. Die Hüfte zwickt nicht mehr so sehr. Haare fallen aus. Nachts muss ich nicht raus – noch nicht.«

Arzu bog sich vor Lachen.

Selbst der Schrat schmunzelte, stand auf und rupfte Max Ali die letzten Federn aus dem Haar und die Reste der Hühnerkralle aus Ottos Maul. An einem Wassertrog wusch er sich die Hände. Constanze sah sich den Fünfzigjährigen an. Sie waren gleichaltrig. Während in ihrem Gesicht das harte und zuweilen bösartige Politikleben zu sehen war, tat ihm das Landleben dagegen gut. Er war braun gebrannt, sehnig, hatte ein dem Alter angemessenes Bäuchlein und breite Schultern. Das blonde Haar wurde langsam lichter und grauer, aber das war in der Kombination mit den blauen Augen ein Hingucker. Wäre da nicht seine fehlende soziale Geländegängigkeit. Jeder sardische Esel war kompromissbereiter. Das hatte sie in all den Jahren als seine Chefin schmerzhaft erleben müssen. Sie wollte etwas von ihm, doch er durfte nicht spüren, wie sehr sie das wollte. Dann machte er zu oder forderte unrealistische Zugeständnisse.

Das hatte ihr Arzu schon am Telefon erklärt. »Der macht keine Fälle mehr, die mit vielen Menschen zu tun haben. Wenn ein Tier im Spiel ist, lässt er sich vielleicht überreden. Tiere oder tolle Frauen. So in etwa lässt sich Querchers Motivation erklären.«

»Okay, Quercher, vergessen wir den formalen Kram. Der liegt Ihnen eh nicht. Sie ahnen, ich komme wegen einer Sache, die heikel ist.« Sie trank einen Schluck Wein.

»Wäre sie das nicht, hätten Sie als verbeamtete Staatssekretärin ja genügend Beamte, die das für Sie regeln könnten.«

Constanze nickte und ließ die Spitze ins Leere laufen. Sie griff in die Handtasche, zog ihr Tablet heraus, tippte und wischte auf dem Display.

»Kein Neuland? Dieses Internetz?«, zog er ihr am Bein.

»Bin ja nicht die Ex-Kanzlerin. Das ist Professor Hans Klockenhoff. Seine Fachgebiete waren die Chemie und die Neurobiologie. In beiden Fächern hat er promoviert. Er hat in Harvard studiert, an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und im Sommer in Princeton, USA, gelehrt. Er ist ein enger Freund von mir, so etwas wie ein Mentor gewesen …«

Etwas berührte sie, ließ sie ihren Redefluss für einen Bruchteil unterbrechen.

»Hans saß über mehrere Jahre im deutschen Ethikrat. Hat über Themen wie Sterbehilfe und Fragen zur Genetik nachgedacht, beraten und empfohlen. Er ist … also … jedenfalls wurde er vor einigen Monaten anonym im Netz beschuldigt, über Jahre Studentinnen sexuell belästigt und sogar vergewaltigt zu haben.« Sie zeigte ihnen Screenshots von Posts auf Facebook. »Man warf ihm vor, seine Position bei der Zuteilung von Forschungsarbeiten ausgenutzt zu haben. Der Dekan wurde informiert.«

Auf den nächsten Bildern waren Ausschnitte von Zeitungsartikeln zu sehen.

»Seine Frau glaubte ihm anfangs, zog dann jedoch aus. Vor zwei Wochen begann die Staatsanwaltschaft mit den Ermittlungen gegen ihn. Er entzog sich ihnen durch Freitod.« Sie wechselte zu Bildern vom Tatort. Ein Mann lehnte, als wollte er draußen etwas auf der Straße beobachten, über dem Fensterrahmen. »Er hat sich beide Halsschlagadern aufgeschnitten.«

Quercher hob die Brauen und Arzu atmete hörbar aus. Das war ungewöhnlich.

»Er muss sich entsetzlich gehasst haben«, murmelte Arzu. »Wer sich so zurichtet. Als Biologe wusste er sicher, wie qualvoll so ein Tod ist.«

Constanze nickte.

»Okay, also Ihr alter Freund hat kleine Studentinnen angepackt …«

Constanze unterbrach Quercher. »Das eben ist nicht der Punkt. Natürlich glaube ich ihm. Aber das hat Gründe. Seit Hans tot ist, gibt es keinerlei Posts, keine Briefe, nichts mehr. Stille. Die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren eingestellt. Bis zu seinem Tod wollten sich mehrere Frauen bei der Polizei melden, es gab Aufrufe. Petitionen. Am Ende haben alle wieder zurückgezogen …«

»Was nicht ungewöhnlich ist«, unterbrach Arzu sie. »Der mögliche Täter ist tot. Viele Opfer wollen abschließen, sehen keinen Grund, die Sache zu vertiefen. So eine Stimmung dreht ganz schnell gegen die Opfer. Von wegen, ihr habt den guten Mann in den Tod getrieben.«

Constanze sah die zwei mit einem gelangweilten Blick an. »Herrschaften, ich war auch einmal im Polizeidienst und weiß, wie die Dinge in Sachen Missbrauch und Opferschutz laufen. Das ist immer noch nicht der Punkt. Ich glaube, der Suizid ist kein Suizid gewesen!«

»Der Herr Professor wurde getötet?«, fragte Quercher ungläubig.

»Ja«, antwortete sie und sah ihm direkt ins Gesicht.

»Beweise?«

Constanze schüttelte den Kopf. »Ich kann als nahe Freundin nicht einmal offiziell Einsicht in die Ermittlungsakten nehmen, das sind Unterlagen, die ich von seiner Anwältin erhalten habe. Es wäre auch angesichts meiner Position nicht ratsam, hier aktiv zu werden.«

Stille trat ein. Quercher schien zu ahnen, was Constanze wollte. Ein neuer Fall, der ihn ablenkte, ihn aus dem Tal lockte.

Er sah zu Arzu, die mit den Schultern zuckte, wohl wissend, dass Begeisterung bei dem Schrat gleich wieder Ablehnung seinerseits hervorrufen dürfte.

Quercher nickte. »Es gibt nur ein Problem«, warf er ein.

»Na?«, erwiderte Constanze.

»Sie sind mit uns sehr nah verbunden. Jeder, dem wir auf die Füße treten, wird die Verbindung herausfinden. Da Sie mit dem Ermittlerpöbel nicht in Verbindung gebracht werden möchten …«

Constanze hob beruhigend die Hand.

»Hans’ Witwe, Justine, ist ebenso an einer Aufklärung interessiert. Sie werden mit ihr alles Weitere besprechen. Sie wird Sie beauftragen. Sie ist Ihre Ansprechpartnerin und wird Sie ganz offiziell morgen kontaktieren. Wir werden also zukünftig über Justine zu diesem Fall kommunizieren. Ihre Tagessätze sind mir bekannt. Ich habe mit Frau von Valepp darüber gesprochen.«

Constanzes Smartphone klingelte. Sie sah auf die Nummer, erhob sich, murmelte eine Entschuldigung und ging mit dem Telefon am Ohr auf die Wiese, wo sich die Hunde sonnten.

Sie sackte mit dem linken Schuh in den Boden, stolperte, hielt aber stoisch das Telefon am Ohr.

»Das nenne ich Einsatz«, hörte sie Arzu flüstern.

»Ist bestimmt der Kanzler.«

»Bestimmt. Oder noch wichtiger: der Ministerpräsident.«

Beide lachten.

Quercher und der Totengraben

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