Читать книгу Quercher und der Totengraben - Martin Calsow - Страница 11
Kapitel 4
ОглавлениеMünchen
»Ich übernehme die Professorenwitwe, du die alten Kollegen vom Kriminaldauerdienst.« Arzu fuhr und bestimmte.
Quercher kraulte den Dackel und widersprach. »Warum? Geht doch auch andersherum.«
»Weil sich Frauen bei Frauen besser öffnen, speziell in der Phase der Trauer. Da will keiner einen Besuch von einem schratigen Mann mit Dackel haben«, erklärte Arzu und betätigte die Lichthupe, weil vor ihr »ein Rentner-Zombie mit Mutti«, wie sie ärgerlich murmelte, schleichend um den See herumgondelte und die Landschaft genoss. »Fahr halt, früher seid ihr still vor euch hingestorben. Jetzt müsst ihr in den rollenden Keksdosen den Verkehr aufhalten«, meckerte sie.
»Ja, ich bin mir sicher, du bist die Richtige für die Witwe«, bemerkte Quercher sarkastisch.
Arzu hatte, das wusste er, einen blöden Vormittag gehabt. Es hatte Stress in ihrer WhatsApp-Müttergruppe gegeben. Das hatte anfangs für Quercher völlig unbedeutend geklungen, aber mittlerweile wusste er, dass diese Form des Austauschs für junge Mütter extrem wichtig und nützlich war. Wer konnte schnell das Abholen des Kindes übernehmen? Wer wusste, wo man günstig Schuhe für die Kleinen bekam? Es war eine virtuelle Tausch- und Infobörse von Gleichgesinnten. Das war die positive Seite. Nur wehe, jemand kam auf die Idee, gegen bestimmte Überzeugungen und Ängste zu argumentieren. Aktuell ging es um das Thema Impfen und irgendeine besorgte Mama hatte komische Seiten aus dem Netz verlinkt. Arzu hatte sich darüber lustig gemacht und gefragt, ob sie auch an eine flache Erde glaube. Ein Mutti-Shitstorm war die Folge gewesen. Die anderen Mütter bezichtigten Arzu, sich nicht um die Kinder zu sorgen, sich über die Gefahren des Impfens nicht genauer zu informieren und überhaupt nur das nachzuplappern, was »Big Pharma« wolle. Eine durchgeimpfte und kranke Kindergesellschaft. Arzu hatte sich nach einer Stunde Lektüre und Tipperei aus der Gruppe verabschiedet. So schnell geht Ausgrenzen heute, hatte Quercher gedacht und sich angeboten, wenigstens den Vätern »aufs Maul zu hauen«, was Arzu abgelehnt hatte.
»Du, ich reiß mich nicht drum. Ich habe im Gegensatz zu dir meine Hausaufgaben schon in der Früh gemacht. Da hat der feine Herr ja die Vierbeiner lüften und mit der Frau Staatssekretärin im Café Wagner in Gmund frühstücken müssen.«
Arzu schien es zu missfallen, wie eng Quercher mit der einst so verhassten Ex-Chefin parlierte. Es war nicht Eifersucht, doch sie wollte wohl nicht wieder in die alten Hierarchieverhältnisse zurück. Da die Chefin, die direkt alles mit Quercher besprach, und dort sie, die sie nur zu einer Zuarbeiterin verkommen ließen.
»Weißt du, es gibt Dinge hinterm Mond, von denen das Kälbchen nichts weiß«, bohrte er nun erst recht in ihrer Wunde.
»Okay, du fährst zur Witwe. Die hat übrigens als Ärztin praktiziert. So eine Naturheilerin. Ich wollte dir den Stress mit so einer Nymphenburg-Trulla ersparen. Aber bitte, ein Mann mit Dackel kommt besser an.«
Er streichelte ihr zart über die Wange, was sie sich sogar gefallen ließ, und erzählte ihr von dem Gespräch mit Constanze Gerass.
»Es ist komisch, wir kennen die Frau schon sehr lange. Von ihrem Hintergrund haben wir dagegen nie was erfahren. Klar, die Gerüchte über ihr Sexleben mit dem komischen Manderl aus der Staatskanzlei … Woher sie stammt, was ihr elterlicher Hintergrund ist, wusste ich nicht. Du?«
»Nö, ist aber in einem polizeilichen Betrieb ja auch nicht notwendig. Nicht jeder war mit Pollinger so dicke wie du, na ja, und ich«, erwiderte sie, sichtlich dankbar, dass er nicht ruppiger reagierte.
Dr. Ferdinand Pollinger, der alte Chef und Freund von Quercher und für einige Zeit Arzus Lebenspartner, war vor vier Jahren verstorben. Dennoch schwebte er noch immer über ihnen. Er hatte Quercher damals bei seinem Umzug zurück in die Heimat prophezeit, dass »der See und das Tal dich schlucken werden, du wirst wieder Teil dieser seltsamen Gemeinschaft, die du so ablehnst«.
»Also Witwe Klockenhoff ist in ihren Kreisen so etwas wie die Chefkräuterhexe. Sie ist offiziell Ärztin, Pharmakologin und Pharmazeutin, frag mich nicht nach den Unterschieden. Wird Madame sicher erläutern. Wie ihr Mann war sie jahrelang der Star der Alternativmedizin. Er war der unbequeme Forscher, der gegen viele Regeln verstieß und sich mit der Pharmaindustrie anlegte, sie war diejenige, die auf allerlei natürliche Heilmittel setzte. Klappte alles prima. Er war in irgendeiner Biotechfirma in Martinsried. Da lief irgendwas falsch und auch bei seiner Frau war wohl ein Kraut nicht ganz so heilsam. Er hat mit Mühe wieder an der Uni Fuß gefasst. Sie machte als Ärztin mit Privatpraxis in Nymphenburg weiter. Sie muss extrem schlau sein, die Gerass hat mich gewarnt, bei ihr keine Mätzchen zu machen.«
Arzu grinste. »Daran wirst du dich bestimmt halten.«
Er tat überrascht. »Für mich sind intelligente Frauen in meiner Umgebung eine willkommene Abwechslung.«
Sie bremste abrupt ab, um wieder Gas zu geben.
Quercher, der Otto auf dem Schoss gekrault hatte, rumste nach vorn und fluchte. »Arzu, bitte. Der Dackel mag das Autofahren eh nicht. Musst du ihm das jetzt noch durch deine anatolische Fahrweise erschweren?«
Sie sah ihn säuerlich von der Seite an, ehe sie einen weiteren Schleicher vor sich mit Schwung überholte.
In Bogenhausen überquerten sie die Isar, die wenig Wasser führte. Schon jetzt saßen und lagen Menschen auf den weißen Steinen und sonnten sich. Vor dem Haus der Kunst mussten sie an einer Ampel halten. Arbeiter schwitzten auf einer Baustelle.
»Arme Schweine«, murmelte Quercher, froh, zwar in einer Smart-Keksdose zu sitzen, dafür mit einer Klimaanlage. Der Sommer war schon jetzt kein Spaß mehr für jene, die draußen arbeiten mussten.
Arzu hielt in der Ettstraße in der Münchner Innenstadt. »Magst du auf einen Kaffee mit zu den alten Kollegen hochkommen?«
Er betrachtete die grüne Fassade, die Büropflanzen auf den Fensterbänken, die müden Gesichter der Polizisten in Zivil und Uniform, die ein und aus gingen, und schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe Angst vor Ansteckung«, frotzelte er.
Sie verdrehte die Augen. »Die tun dir nichts. Einige, weniger Frauen als Männer, würden sich freuen, dich mal wiederzusehen. Und nein, die werden dich nicht wegen der Millionen, die du mal hattest, verspotten, auch nicht bemitleiden.«
»Darum geht es mir nicht.«
Arzu grinste. »Klar, du bist als hauptamtlicher Talschrat nicht mehr mit diesen armen Beamtenbienen auf einer Linie, du Freigeist von Ostin.«
»Ich hole dich ab, wenn ich bei Witwe Klockenhoff fertig bin und genügend Sauerkraut gegessen habe.«
»Sauerkraut?«
Er schüttelte den Kopf. »Wilhelm Busch?«
Noch immer sah sie ihn verwundert an.
Er schloss die Augen und rezitierte:
»Mancher gibt sich viele Müh
Mit dem lieben Federvieh;
Einesteils der Eier wegen,
Welche diese Vögel legen,
Zweitens, weil man dann und wann
Einen Braten essen kann.«
»Aha, kenne ich nicht«, kommentierte Arzu trocken.
»Klar, weil du nur Atatürk-Gedichte lernen musstest.«
»Okay, du Rentner-Rezitator. Wir treffen uns in Klockenhoffs altem Institut in der Nußbaumstraße.«
Sie schlug die Tür zu, er wechselte auf den Fahrersitz und fuhr weiter nach Nymphenburg.
Dr. Justine Klockenhoff wohnte in einer Gründerzeitvilla nicht weit vom Nymphenburger Schloss, wo sich jetzt die üblichen Touristenbusse drängelten, um die Massen an Besuchern aus Fernost hinaus in die stickig trockene Sommerluft zu kippen.
Ein kleines Messingschild wies darauf hin, dass die Frau nicht nur Medizinerin, sondern auch Psychotherapeutin und Osteopathin war und nur Privatpatienten empfing. Irgendwie musste das Haus ja finanziert werden. Er klingelte an einer aufwendig installierten Sicherheitsanlage mit Kamera und sofort surrte es, ein grünes Licht glomm auf. Bitte lächeln, dachte er missvergnügt.
»Frau Doktor ist zurzeit noch beschäftigt. Würde es Ihnen etwas ausmachen, eine Viertelstunde zu warten?« Die Frau, die sich an der Haustür als Dr. Klockenhoffs Hausdame vorstellte, sah missmutig auf den Dackel zu Querchers Beinen und dann auf ein Schild mit der Aufschrift Hunde bitte draußen bleiben.
»Kann der lesen?«, fragte sie spitz.
»Er schon, ich nicht.«
Sie schüttelte den Kopf und schloss die Tür.
Quercher stöhnte. Gib Menschen ein Amt.
Kaum hatte er das Auto in der Nähe des Schlosses abgestellt, jaulte der Kobold neben ihm.
»Klar, du nutzt jede Gelegenheit des Herumschnüffelns, aber in diesem Park wirst du von Amis mit Mundgeruch überrannt oder von gierigen Chinesen verfolgt, die dir das orangefarbene Fell über die Löffel ziehen wollen.« Er musste grinsen, weil ihm jetzt bei Arzu garantiert eine längere Erklärung über Kulturrassismus bevorgestanden hätte.
Otto jagte Schwäne, bis Gevatter Schwan fand, dass er um einiges größer war als der Zwergdackel, und ihn mit wildem Flügelschlagen von der Brut vertrieb. Der Dackel quiekte, Quercher nahm ihn auf den Arm, hielt die bösen Blicke der Anwesenden gelassen aus und ging in den Park. Er hielt es für richtig, vor dem Termin seinen Geist mit ein wenig Cannabis zu beruhigen. Wenn schon die Hausdame solch ein Drache war …
Er sah sich um, drehte sich in einen Busch und zündete sich eine Selbstgedrehte an.
Kurz darauf saß er, den Dackel kraulend, auf der Bank und blinzelte in die Sonne. Kein so schlechter Tagesbeginn, dachte er. Fehlte nur noch Musik. Wie er überhaupt fand, dass der Weltgeist oder der liebe Gott für solche Situationen gute Musik einspielen lassen könnte.
Bellen, der kleine Körper vor ihm wuselte sich aus seinen Armen. Sie waren nicht mehr allein.
»Sie sind Maximilian Quercher. Ich möchte Ihnen helfen!«
Er war eingedöst und wachte jetzt abrupt auf. Neben ihm auf der Bank saß ein junger Mann. Adrett, dunkelhaarig, Anzug, Brille. Dezentes Rasierwasser, eine Warze an der linken Wange.
»Was wollen … Sie?«, fragte Quercher verdutzt, das Dope lähmte ein wenig seinen Sprachfluss.
»Mein Name ist Dr. Trittbett. Ich bin Rechtsanwalt und vertrete einen Mandanten. Wir haben Kenntnis davon erlangt, dass Sie sich als Privatermittler um den Fall Klockenhoff kümmern.«
Schweigen. Quercher ließ ihn kommen, was den jungen Mann ein wenig verunsicherte.
»Äh, Sie sind doch Max Quercher …?«
Er ließ sich Zeit mit einem bestätigenden Nicken.
»Nun, mein Mandant hat lange mit dem Ehemann von Frau Dr. Klockenhoff zusammengearbeitet. Nach seinem plötzlichen Tod ergibt sich jetzt für meinen Mandanten eine heikle Situation.«
»Von wem wissen Sie, dass ich so einen Auftrag haben könnte?«
»Von Frau Dr. Klockenhoff selbst. Sie drohte mit Ihnen. Sie seien ein schlimmer Hund …« Der junge Mann lachte leise. »Schlimmer als der wohl«, ergänzte er und zeigte auf Otto, der sofort knurrte.
»Unterschätzen Sie nie kleine Wesen«, murmelte Quercher und zog den Dackel zu sich.
In einer Art Übersprunghandlung sah der Anwalt auf sein Smartphone, vielleicht nach einer Antidackel-App.
»Also, was wollen Sie denn genau? Setzen Sie mich doch mal ins Bild«, versuchte sich Quercher in Jovialität.
»Nun, mein Mandant und Herr Doktor …«
»Wer ist Ihr Mandant?«
»Eine Dame vom Tegernsee. Frau Weng.«
»Klassischer Name vom See. Herr Trittbett, strengen Sie sich mal an, Ihre Mandanten zahlen Ihrer Kanzlei wahrscheinlich ein Heidengeld, das ist gerade etwas unzusammenhängend. Und zu Ihrem Namen mache ich auch noch keine Witze.«
Der junge Mann wand sich. »Es handelt sich um die Kollegin Frau Dr. Weng, Expertin auf dem Gebiet der Neurobiologie. Sie hat mit Dr. Klockenhoff zusammengearbeitet, ist jetzt an der Universität in Shanghai tätig, lebt aber offiziell am Tegernsee.«
»Und was will Ihre Mandantin jetzt?«
»Den Zugriff auf die gemeinsamen Forschungsergebnisse von«, antwortete der Anwalt schnell und musste in sein Smartphone schauen, »Antrum Coeli.«
»Herr Trittbett, ich bin Ermittler und kein Anwalt. Ich denke, dass Sie eine juristische Frage zu klären haben. Frau Dr. Klockenhoff hat eine anwaltliche Beratung. Wenden Sie sich bitte an diese Kollegen«, wies Quercher ihn ab, auch weil er bemerkte, dass die Viertelstunde längst vorbei war und er zur Witwe zurückmusste.
»Herr Quercher, es geht meiner Mandantin nicht um Geld.«
»Nein, natürlich nicht. Geht es ja nie. Immer nur um das Wohlergehen der Menschheit«, spottete Quercher.
»Gewissermaßen ja. Darum geht es ihr!«, erklärte der junge Mann mit ernster Stimme. Er lehnte sich nah zu Quercher herüber, der das einen Hauch zu nah fand und zurückwich. »Es geht nicht um Geld, es geht um die Linderung von Leid und um die Gesundheit vieler Menschen. Sagen Sie das Ihrer Klientin. Sie muss die Forschungsergebnisse ihres Mannes weitergeben. Nur meine Mandantin kann diese Ergebnisse richtig einordnen. Sagen Sie ihr das bitte!« Er erhob sich und entfernte sich mit schnellen Schritten.
»Komischer Vogel«, murmelte Quercher.
Als er sich wieder zu Otto wandte, der mittlerweile auf der Bank lag, sah er eine Visitenkarte. Sie gehörte dem Anwalt Gundolf Trittbett. Sie verriet, dass er in einer der größten internationalen Kanzleien tätig war.
Die Hausdame öffnete die Tür, geleitete ihn mit einer Handbewegung zu einem Wartezimmer und verschwand danach schnell. An der Wand hingen Bilder mit Naturmotiven, dazu die üblichen Kalenderspruchweisheiten aus der Alternativmedizin. Ein Tisch mit zwei Flaschen ›Mondwasser‹, eine Klangschale. Irgendwo dudelte aus einem versteckten Lautsprecher indisch klingende Musik. Frau Dr. Klockenhoff schien hier Patienten zu empfangen, vermutlich solvente Privatpatienten aus dem Viertel.
Sein Smartphone klingelte. Arzu.
»Und?«
»Die Kollegen haben sich gefreut, mich wiederzusehen. Dürfte ein fremdes Gefühl für dich sein.«
»Arzu, ich hatte eine seltsame Begegnung mit einem Anwalt im Nymphenburger Park. Ich kann jetzt nicht sprechen. Nur eines, er wusste von unserem Job und heißt Trittbett.«
»Max, hast du wieder Rauschmittel genommen?«
»Auch. Aber der Typ war total merkwürdig. Und nein, ich habe ihn mir nicht erträumt. Es ist taghell. Die Sonne scheint. Er war da. Frag Otto.«
»Gut, jetzt zu etwas Realem. Die Kollegen haben bei der Tatortbegehung gute Arbeit geleistet. Alles, wirklich alles unterstreicht die These vom Suizid. Der Rechtsmediziner kann keinerlei Fremdeinwirkung erkennen. Die haben alles dokumentiert, eine zweite Meinung von einem Institut in Nürnberg eingeholt. Also der alte Klockenhoff hat sich ohne Zweifel den Hals aufgeschnitten. Und nun das Wichtigste …«
»Herr Quercher, Frau Doktor wäre jetzt so weit.« Der Hausdrache stand wie aus dem Boden geschossen im Türrahmen und sah erneut missmutig auf Otto, der sie mit einem Gähnen begrüßte.
»Ich nehme den Hund in mein Zimmer«, befahl sie.
Quercher schüttelte nur leicht den Kopf. »Sie gehen wieder in Ihre Drachenhöhle und warten auf den Alberich oder Siegfried und ich finde den Weg allein.« Er lief mit dem Dackel auf dem Arm an ihr vorbei in den Flur auf eine offen stehende Tür zu.
Dr. Justine Klockenhoff erwartete Max Quercher mit gespreizten Beinen und einem Kräutertee.
Sie lag in ihrem Wintergarten auf dem Rücken, die Augen geschlossen, und führte offenbar eine Yoga- mit angeschlossener Atemübung aus. Davon verstand Otto, der Dackel, nichts, sprang stattdessen kläffend von der Tür kommend, wo Quercher ihn unvorsichtigerweise auf den Boden gesetzt hatte, auf die Frau zu und bellte sie nur einen Meter entfernt schwanzwedelnd an.
Statt kreischend auszuweichen, drehte sich die Frau zu ihm, schnaufte, was den Vierbeiner zu weiterem Bellen animierte, bevor sie mit einem fremdartigen Geräusch Otto innehalten ließ. Zwei Sekunden später versuchte er, mit der Zunge ihr Gesicht abzulecken, was sie sich nicht gefallen ließ und ihn stattdessen perfekt an einer Stelle der Brust so kraulte, dass er, kitzelig wie er war, mit seinem rechten Hinterbein zu zucken begann. Weitere Sekunden später räkelte er sich in ihrem Arm.
»Legen Sie sich zu uns. Ihrem Hund wird das gefallen«, flüsterte sie.
Sie drückte auf eine Fernbedienung und sphärische Musik erklang, dazwischen tauchten vertraute Geräusche auf, die Quercher nicht zuordnen konnte. Das musste New-Age-Musik sein, die er zutiefst verachtete. Fahrstuhlmucke. Außerdem nahm ihm eine Duftkerze fast den Atem. Wo war er hier hineingeraten?
»Schenken Sie mir nur wenige Minuten«, flüsterte sie weiter.
Witwe Klockenhoff war dürr wie ein Suppenhuhn. Aber sie hatte eine Art, eine leise formulierte Bitte wie eine Anweisung klingen zu lassen. Quercher kniete sich ächzend zu ihr auf die große Matte, die seltsam angenehm roch, und war sich unsicher, ob er sich wirklich hinlegen sollte. Ihr dürrer Arm mit der ausgeprägten Muskulatur legte sich auf seine Hüfte und tatsächlich drehte er sich auf die Seite, Otto zwischen sich und der Frau, die er genau eine Minute kannte. Sie berührte mit ihrem Daumen eine Stelle an Querchers Brustkorb, was ihn seltsamerweise nicht befremdete.
»Ich bin der Max Quercher«, flüsterte er.
Sie nickte, noch immer die Augen geschlossen. »Ich weiß. Sie sehen ganz anders aus, als ich Sie mir vorgestellt habe.«
»Ach?«
»Ja, ich habe heute Nacht von Ihnen geträumt.«
Das kann ja heiter werden, dachte Quercher. Gleich wird sie mir ihre Träume erzählen und ich bin in einer Yogatantenhölle gefangen, während Arzu bei den alten Kollegen Kaffee und Leberkässemmeln bekommt. Er öffnete ein Auge, sah zu der dicht neben ihm liegenden Witwe und nahm ihren Körper wahr.
Drahtig, wenig Falten. Klar, die üblichen Flecken, die das Alter mit sich brachte. Sport und offenkundig große Disziplin ließen sie sehr schlank erscheinen. Lange Beine, die in einer engen Trainingshose steckten, am Ende bogen sich lange, schmale Füße nach vorn. Sie trug einen Zopf, der ihr dichtes, einst wohl blondes Haar zusammenhielt. Constanze Gerass hatte ihr Alter erwähnt, er hatte es vergessen. Er versuchte sich zu konzentrieren, auf eine unbestimmte Art in dem Raum zu bleiben, aber etwas trug ihn davon, ließ Bilder in seinem Kopf entstehen, die er nicht beschreiben konnte, die ihn jedoch berührten, für Augenblicke. Dachte er.
Er sackte weg und war gleichzeitig bei vollem Bewusstsein. Schien zu fliegen oder wenigstens zu schweben.
Da ist sein Vater. Der Schuster, wie er in seiner Werkstatt mit dem Hammer auf die Sohlen schlägt. Er hört das Knistern des Holzes im Ofen. Er riecht den Leim, das Leder. Es fühlt sich gut an.
Seine Mutter. Sie kocht Arme Ritter. Seine Schwester sitzt neben ihm. Er nimmt ihr etwas vom Teller, spürt die Ohrfeige. Der See. Ein Boot. Sein Vater. Wie er aufsteht, ein Seil um seine Füße, der Mühlstein. Wie er springt. Sein Herz schlägt.
Sie tippte ihm auf die Brust und er kam zurück. Peinlich berührt erkannte er bei einem Blick auf seine Uhr, dass sie ihn fast zehn Minuten hypnotisiert haben musste.
»Was denken Sie jetzt?«, fragte sie in die Stille.
»Wie alt Sie sind«, antwortete Quercher spontan.
Sie lächelte. »Vierundsechzig Jahre, Max Quercher. Als Sie in diese Welt gekommen sind, hatte ich wahrscheinlich schon meine erste Periode.«
Er hustete. Antworten auf Fragen, die nie gestellt wurden. Es wurde immer besser. Immerhin war er wieder im Hier und Jetzt. Spielte sie mit ihm?
»Wann ist das letzte Mal ein Mensch gestorben, der Ihnen wichtig war?«, fragte sie unvermittelt.
»Frau Dr. Klockenhoff, ich bin …«
»Justine. Nennen Sie mich bitte Justine. Das, was wir heute besprechen werden, ist sehr intim für mich. Ich möchte das nicht einem Fremden erzählen, sondern einem Menschen, dem ich vertrauen kann.«
»Gut, Justine. Was ist also passiert?«
Neben ihm lag sein Dackel, hatte sich auf den Rücken gedreht, die prominente Nase in die Höhe gereckt, die Hoden schamlos breitbeinig präsentiert, und schnarchte.
Es war schwierig, das im Raum stehende Thema ernsthaft zu behandeln. Aber es musste sein. Sollte Witwe Klockenhoff zu Beginn die Bedingungen bestimmen. Das würde sich ändern.
Sie räusperte sich und begann. »Mein Mann war ein Genie!«
Eine Pause folgte. Er ließ das Gesagte unkommentiert.
»Ich lernte ihn in einem Begabtenprogramm der Bundesregierung kennen. Wir waren uns bald darüber im Klaren, dass wir nicht einfache Studenten, dumpfe Forscher mit Beamtengehalt werden wollten. Wir waren vor vierzig Jahren angetreten, etwas Besonderes zu finden, zu erforschen. Etwas, was der Menschheit dienen und für immer bleiben würde.«
»Ihr Mann war Arzt?«
»Ja, wir beide. Er schloss alle ärztlichen Prüfungen mit Bestnoten ab. Wir gingen nach Harvard, auch dort war er unter den Besten, habilitierte ein paar Jahre später im Fach Neuropathologie hier an der LMU. Er bekam ein Angebot aus der Pharmaindustrie, ein Start-up-Unternehmen aus Martinsried. Das gefiel ihm nicht, er kehrte zurück an die Uni, wozu ich ihm auch geraten hatte. Wir machten es nicht des Geldes wegen, die Forschung.«
Quercher musste schmunzeln. Schließlich lag er auf dem Boden einer Villa in Nymphenburg mit Wintergarten und ausgesuchter Kunst an der Wand und einer Hausdame, die den Haushalt für Frau Yoga führte.
»An der Universität hat er dann mit den anderen Instituten und Stiftungen seine Arbeiten an der Hirnforschung weiterbetrieben. Irgendwann steckte er in der Sackgasse, es war so um seinen fünfzigsten Geburtstag herum. Wissen Sie, Forschung im neuronalen Bereich, das ist nie ein schneller Erfolg, das sind immer kleine Schritte. Wie alt sind Sie genau?«
»Fünfzig.«
»Stecken Sie auch in einer Sackgasse?«, fragte sie leise, mit ebenjenem Ton, den Quercher schon immer bei sogenannten achtsamen Menschen gehasst hatte.
In den letzten Jahren meinte jeder bei völlig normalen Gesprächen plötzlich, den Lebenscoach geben zu müssen. Hinter der harmlosen Frage »Wie geht es dir?« steckte ein dringendes Bedürfnis vieler Zeitgenossen, mal eben eine kleine Therapiesitzung abzuhalten. Er wollte nur seine Ruhe. Er war fünfzig, hatte damit zwei Drittel seines Lebens hinter sich. Den Rest wollte er so angenehm wie möglich gestalten.
»Wir stehen jetzt beide mal besser auf.« Er erhob sich.
Der Dackel rannte in die Wohnung auf der Suche nach etwas Ess- oder Quietschbarem. Quercher reichte ihr die Hand, die sie dankend annahm, um sich nah an ihn heranzuziehen. Sie schnupperte an ihm wie ein Tier, ehe sie lächelnd zu einem Tisch ging, wo allerlei Blätter, Akten und gelbe Notizzettel lagen.
»Ich habe den Fall schon einmal für Sie aufbereitet.« Sie deutete auf eine weiße Tafel an der Wand.
Er stellte sich staunend davor. So strukturiert waren nur Naturwissenschaftler. Links waren die Fakten zu einem Wirkstoff, daneben die zeitlichen Abläufe, Namen und Termine. Rechts standen zwei Reihen mit möglichen Querverbindungen. Die Tafel war komplett vollgeschrieben. In seinem Leben war Quercher nie so geordnet an einen Fall herangegangen. Er hatte von Natur aus Respekt vor Wissenschaftlern. Er war im Gymnasium schon am Zitronensäurezyklus gescheitert. Diese Menschen lebten und dachten in anderen Sphären als er. Nie käme er allerdings auf die Idee, diese heimliche Bewunderung zu zeigen.
»Praktisch alle Fakten, Fragen und möglichen Zeugen habe ich mir notiert«, unterbrach sie seinen Gedankenfluss und deutete auf einen in großen roten Lettern geschriebenen Namen. »Antrum Coeli – darum geht es!«
Da war der Begriff, den schon der seltsame Anwalt genannt hatte. Quercher erschien es noch zu früh, von seiner Begegnung im Park zu berichten.
»Aha, das ist was?«, wollte er wissen.
Sie atmete tief ein und mit aufgeblasenen Wangen aus. »Max Quercher, das ist …«
Wieder eine Pause.
»Daran hat mein Mann geforscht. Es ist ein Wirkstoff. Er kann sehr viel in unseren Köpfen verändern. Mein Mann hat außerdem Kreuzverbindungen mit anderen Wirkstoffen wie Rizin getestet. Es ist ein hochpotentes Mittel.«
Fein, das deckte sich mit den Ausführungen des Anwalts.
»Gut, dazu später.« Quercher wollte ihr ein wenig Dramatik nehmen, sie wirkte auf ihn, als hätte sie eine Inszenierung geplant, warum auch immer. Das wollte er brechen. »Fangen wir von vorn an. Ihr Mann starb, sagen wir es so, vor vier Wochen in seinem Institut hier in der Nußbaumstraße, richtig?«
Sie nickte.
»Vor seinem Tod gab es schwere Vorwürfe von diversen Studentinnen. Standen diese in Zusammenhang mit seinem Tod?«
Die Witwe lächelte. »Nein, so werden Sie die Geschichte nicht verstehen. Sie muss von Anfang an erzählt werden.«
Ihre Augen spießten ihn förmlich auf. Gut, sie zahlte. Er war die Ermittlerhure. Hörte er halt dem Witwendrama zu und kraulte derweil Otto.
»Vor sechs Jahren bekam Hans einen Wirkstoff aus der Natur in die Hände. Jemand hatte es ihm zugespielt, behauptete, er habe es irgendwo in den Bergen gefunden.«
»Wie darf ich mir das vorstellen?«, fragte Quercher. »Kommt da jemand in die Uni, fragt sich zu Ihrem Mann durch und legt ihm einen Fund in einer alten Schachtel vor?«
Justine Klockenhoff lächelte milde. »Nicht ganz, es läuft über Hörensagen. Sie müssen wissen, dass es Jahre dauert, um Wirkstoffe und ihre Eigenschaften zu erkennen und anzuwenden. Die Forschung im Labor beruht darauf, dass der Wirkstoff isoliert und erst einmal die Struktur durch Versuche aufgeklärt werden muss. Das machen meist kleine Helferlein, Doktoranden, die sich einen Namen machen wollen.«
»Aha.«
»Anschließend geht es in die Versuchsreihen, erst an Tieren, dann am Menschen. Erst dann wird die Strukturformel verändert. Das Anflanschen einer OH-Gruppe kann die Eigenschaften des Wirkstoffs verändern, die Wirkung verlängern oder verkürzen, verstärken oder abschwächen, weil sich zum Beispiel die Bindungseigenschaften am Rezeptor verändern.«
»Sie verlieren Ihr Publikum, Frau Dr. Klockenhoff«, unterbrach Quercher sie und gähnte ostentativ.
»Justine, aber gut. Hans hat den Wirkstoff quasi ›nebenbei‹ untersucht, bis ihm die ersten Testerfolge gelangen und er …«
»Halt, Ihr Mann hat Wirkstoffe nebenbei untersucht, so in der Mittagspause?« Quercher hatte ein untrügliches Gefühl für Logiklücken, speziell wenn Menschen so schnell über Details hinweghuschten wie Witwe Klockenhoff.
Sie hob die Brauen. »Ich verstehe ja, dass Sie als ehemaliger Staatsdiener Regularien unterworfen waren, die Sie geprägt haben, aber an einer Universität gilt das Prinzip der freien Lehre. Professoren sind sehr unabhängig.«
»Hm.«
»Das war jedenfalls vor zwei Jahren so. Ich war gerade von einem TCM-Seminar in Wuhan zurückgekehrt, als mir Hans …«
»TCM?«
»Traditionelle Chinesische Medizin, ich empfehle das sehr.«
»So was wie Vogelgrippe, nur weniger tödlich, nehme ich an.«
»Herr Quercher, ich spüre eine gewisse Verachtung alternativer Medizin gegenüber.«
»Keineswegs. War nur ein blöder Scherz, bitte fahren Sie fort.«
»Mein Mann hat diesen Wirkstoff erstmals an Affen getestet und erstaunliche Ergebnisse erzielt. Draußen in Martinsried, auf dem Campus der Ludwig-Maximilians-Universität. Das hat er mir an einem Abend erzählt.« Sie machte eine Pause, atmete tief durch. Tränen standen in ihren Augen. »Das war der letzte Abend, an dem für uns alles normal gewesen ist, wir ein glückliches Paar waren. Antrum Coeli hat unser Leben zerstört, wenn Sie so wollen, und kann doch so viele andere Leben besser machen.«
Quercher stutzte. »Warum? Was ist dann passiert?«
»Hans erklärte, dass Antrum Coeli massiv und schnell auf Plaques wirke. Das allein wäre schon eine Sensation.« Sie sah in sein fragendes Gesicht und nickte müde. »Sie haben von der Alzheimerkrankheit gehört?«
Er nickte. »Ja, schon, aber wieder vergessen«, kalauerte er.
Sie ging nicht darauf ein. »Alzheimer ist eine neuronale Erkrankung. Maßgeblich sind bestimmte biochemische Prozesse an der Krankheit beteiligt. Alzheimer-Plaques, wir sprechen auch von Amyloid-Plaques, sind Hauptmerkmale von Alzheimer. Bei Amyloid handelt es sich um ein stark verändertes Protein, das sich als sogenannte Alzheimer-Plaques, also Ablagerungen, an der Außenseite von Nervenzellen ansammelt.«
Sie zeigte ihm eine Grafik, auf der er links gesunde Nervenzellen, rechts befallene erkannte.
»Weiterhin können sich die Eiweißablagerungen an Blutgefäße heften, sodass es zu einer verminderten Sauerstoff- und Energieversorgung des Gehirns kommt. Bislang gingen wir von zwei Behauptungen aus. Zum einen sind die Ablagerungen giftig und schädigen die Neuronen lange vor dem eigentlichen Ausbruch der Alzheimer-Erkrankung, demnach in einem sehr frühen Stadium der Demenz. Dabei müssen die Betroffenen nicht mal geistige Einschränkungen bemerken. Zum anderen könnte man nicht gezielt gegen diese Amyloide vorgehen, denn eigentlich gehören sie zum Stoffwechselprozess des Menschen. Nur die Ablagerungen sind das Problem. Antrum Coeli hat, und das ist die Sensation, diese Ablagerungen verändert. Es hat sie sich zu eigen gemacht. Hans beschrieb es so: ›Antrum Coeli durchbricht die normale Blut-Hirn-Schranke.‹«
Quercher zuckte mit den Schultern. »Sorry, meine Biolehrerin war mir sehr unsympathisch. Sie hatte viele Haare im Gesicht. Ich habe da nie aufgepasst. Sie müssen es mir so erklären, als wäre ich ein Golden Retriever.«
Die Witwe atmete tief ein. »Die Blut-Hirn-Schranke ist eine Barriere zwischen dem Blut und der Hirnsubstanz. Sie wird aus Endothelzellen, Perizyten und Astrozyten – für Sie: Zellen – gebildet. Über enge Verbindungsstellen sind die Endothelzellen in den kapillaren Hirngefäßen so eng miteinander verknüpft, dass keine Stoffe unkontrolliert zwischen ihnen hindurchkommen können. Um ins Gehirn zu gelangen, müssen alle Stoffe durch die Zellen hindurch, was streng kontrolliert abläuft.«
»Okay, verstanden. Das Hirn hat eine strenge Tür bei fremden Stoffen. Kann man ja für Doofe wie mich in einem Satz erklären«, nörgelte Quercher.
Justine Klockenhoff seufzte. »Ich glaube, Ihr Dackel hat es schon früher verstanden. Antrum Coeli drang hindurch, nutzte die Ablagerungen und wirkte auf, wenn Sie so wollen, das Gedächtnis, also auf die Nerven ein, die unsere Erinnerung eigentlich nur sind.«
»Wow, dieses Antrum Coeli ist also ein mögliches Heilmittel gegen Alzheimer?«, fragte Quercher, ein wenig Verstehen vortäuschend.
Sie nickte.
»Das muss für Sie und vor allem für Ihren Mann ein unglaublicher Erfolg gewesen sein. Das ist doch fast nobelpreisverdächtig.«
»Ja, das könnte es sein. Es gab nur einen Haken.«
»Jetzt bin ich gespannt.«
»Hans forschte an Affen«, sagte sie leise.
»Okay, das ist nicht schön, aber …«
»An Menschenaffen!«
Quercher atmete durch, sah vor seinem inneren Auge Käfige mit leidenden Tieren und wiegte den Kopf. »Das ist ein Dilemma.«
»Nein, das ist eine Straftat. Denn seit Anfang der Neunzigerjahre sind Versuche mit Menschenaffen in Deutschland strengstens verboten.«
»Ja, aber …«
Die Witwe schüttelte den Kopf. »Hans begann erst legal. Er untersuchte die Funktionsweise des Wirkstoffs auf das Gehirn mit Makaken, also keinen Menschenaffen. Dummerweise bekamen Tierschützer davon Wind. Vor zwei Jahren geriet er wegen dieser Affenversuche öffentlich in Verruf, nachdem eine Boulevardsendung Aufnahmen der Tierschützer ausgestrahlt hatte. Die Bilder aus dem Inneren des Labors wirken auf Laien verstörend. Da trifft das Emotionale auf das Rationale. Und Letzteres verliert dabei immer.«
Das konnte er sich vorstellen.
»Es gab Anzeigen, Pöbeleien im Netz. Hans wurde bei einem Opernbesuch mit Schweineblut übergossen.«
»Aber er musste doch nur sagen, woran er forschte und wie wichtig das für die Menschheit ist«, unterbrach Quercher die lauter werdenden Ausführungen der Frau.
»Es war illegal und seine Ergebnisse waren nicht an Menschenaffen oder Menschen getestet. Hans wollte nicht nur Grundlagenforschung betreiben. Er wollte das Mittel, das Endrezept entwickeln! Bei diesen Vorwürfen stand einiges auf dem Spiel. Der Dekan zwang Hans, die Forschungen an Antrum Coeli sofort einzustellen. Man fürchtete um den Ruf der Exzellenzuniversität.«
Quercher schwieg.
Der Dackel schnarchte.
»Lassen Sie mich raten, er machte weiter.«
»Ja, Hans suchte heimlich eine Kooperation mit einer chinesischen Uni in Shanghai, reiste privat, verabreichte den Wirkstoff persönlich und ließ die Chinesen die Probanden, also die Affen, beobachten und nach ihrem Tod untersuchen. Kurz vor seiner letzten Reise dorthin haben die Chinesen aus seiner Sammlung eine kleine Probe entnommen und sie an Menschen getestet. Das muss eingeschlagen haben. Hans wusste, er war auf dem richtigen Weg. Jetzt ging es nur noch darum, wie er der deutschen Kollegenschaft, der akademischen Welt seine Forschungsarbeit möglichst legal darstellen konnte. In diesen hysterischen Zeiten müssen Sie sich als Forscher die Frage gefallen lassen, ob ein Heilmittel für Menschen wirklich wichtiger ist als das Leben von Affen. Wir zerhacken männliche Küken für unser Frühstücksei, aber wir zetern bei Affen. Das alles ist so bigott. Ich bin Alternativmedizinerin, doch diese selbst ernannten Tierschützer agierten wie die Taliban, Bilderstürmer mit einem überschaubaren Intellekt und einem großen Emotionsspeicher. Hans war sich sicher, dass man ihm den Wirkstoff genommen hätte, ihn persönlich für die unethische Forschung in der Versenkung hätte verschwinden lassen und ein großer Pharmakonzern das Geld damit gemacht hätte. Antrum Coeli wäre urplötzlich bei einem multinationalen Konzern aufgetaucht und Hans wäre eine Fußnote bei Wikipedia geworden.«
Quercher nickte stumm.
»Also suchte er nach einem jungen Unternehmen, einem aus Deutschland. Ehemalige Studienkollegen vom Tegernsee hatten ihren Kindern so ein Start-up quasi als Spielwiese geschenkt. Mit denen wollte er zusammenarbeiten. Dann kamen die Vorwürfe des Missbrauchs, der sexuellen Belästigung. Das war sein Todesstoß.«
Quercher verstand.
»Hören Sie, Max Quercher, mein Mann wurde getötet. Mir ist als Medizinerin sehr wohl klar, dass es sich bei diesem Tod um einen Suizid handelt. Er ist in seiner schieren Verzweiflung zu dem Schluss gekommen, dass sein zukünftiges Leben ohne Sinn und Zweck gewesen wäre. Sie hatten ihm alles genommen. Er stand ohne Forschungseinrichtung, ohne Gelder da. Er war ein Frührentner mit dem Stigma des Frauenbelästigers. Das hat er nicht mehr ausgehalten.«
»Okay, das ist schlimm. Aber was wollen Sie nun?«, fragte Quercher.
Sie machte eine lange Pause. »Es gibt keinerlei Hinterlassenschaften meines Mannes. Wenige Stunden nach dem Tod hat die Universität veranlasst, sein Büro und sein Labor komplett in Kisten zu packen und wegräumen zu lassen.«
»Aha, und wo sind diese Kisten?«
»Die hat eine Spedition übernommen. Seltsamerweise ist ausgerechnet dieser Lkw, der alle Akten, alle Dokumente wegtransportieren sollte, auf einer Raststätte auf der Ostumfahrung in München in Brand geraten. Völlig ausgebrannt. Zufällig? Ich glaube kaum.«
»So ein Lkw-Brand passiert schon mal. Ist sonst nichts mehr da?«
»Nun ja, es gibt laut Inventarliste der Spedition noch drei Umzugskisten, die jemand mit einer gefälschten Vollmacht auf dem Unigelände mitgenommen hat. Sie müssen einen Wert gehabt haben. Keiner weiß, wer das gewesen sein könnte. Von der Spedition erinnert sich niemand mehr. Mein Mann ist tot, seine Forschung verschwunden. Zu mir in die Praxis kommen nach den Tierversuchsvorwürfen keine Patienten mehr. Ich bin nicht mittellos, im Gegenteil. Doch ich will wissen, wer dahintersteckt. Das ist das Vermächtnis meines Mannes.«
»Gut, das sind die Hintergründe. Es gibt also Motive für eine mögliche Verschwörung …«
»Herr Quercher, das ist keine Verschwörung. Hier geht es um Geld, um Ruhm, jenseits eines Zuckerersatzstoffs oder eines obskuren Erkältungsmittels aus einer kenianischen Knolle. Wer diesen Wirkstoff zur Marktreife bringt, wer damit vielleicht noch ganz andere Effekte entdeckt, wird auf einer Stufe mit dem Entdecker des Penicillins stehen.«
»Verstehe. Nur wieso ist das nicht ein großes Thema für Zeitungen und die gesamte Forschungswelt? Ich meine, Alzheimer, das ist doch die große Story schlechthin.«
Die Klockenhoff grinste spöttisch. »Wer soll das denn an die Öffentlichkeit tragen? Es weiß keiner. Es gibt keinerlei Kopien. Die Chinesen in Shanghai bestreiten jede Zusammenarbeit. Klar, sie haben ja auch nichts in der Hand, wollen vermutlich selbst in aller Stille an ihren Probanden weiterforschen. Aber es wird ihnen das Wissen um die Herkunft des Stoffs fehlen. Also begraben sie es vermutlich oder geben es einer Grundlagenforschungseinheit und warten ab.«
Das Treffen im Park mit dem Rechtsanwalt brauchte ein wenig Aufklärung. »Geht gleich weiter mit der Pharmaverschwörung, Frau Doktor. Wer ist der Anwalt Trittbett?«
Sie stutzte, wollte etwas erwidern, behielt es jedoch für sich und dachte nach. »Wie kommen Sie auf den?«
»Den? Ach, der kam im Nymphenburger Park auf mich zu. Ich solle auf Sie einwirken. Er habe eine Mandantin, irgendeine Frau …«
»Weng. Dr. Weng. Hans hat mit ihr gearbeitet.«
»Und?«, fragte Quercher.
»Dieser Anwalt ist ein Kriegsgewinnler. Er arbeitet für eine Kanzlei, die einen Vertrag zwischen Dr. Weng und meinem Mann über eine mögliche Gewinnbeteiligung ausgearbeitet hat. Dumm nur für diese Geier, dass mein Mann starb, bevor er diesen Vertrag unterzeichnen konnte. Nun will die Frau dennoch einen Anteil haben. Es gibt allerdings nichts, was sie haben könnte. Wie gesagt, die Aufzeichnungen sind verschwunden, mein Mann tot, der Wirkstoff nicht auffindbar.«
»Hätten diese Chinesen ein Interesse am Tod Ihres Mannes?«, wollte Quercher wissen.
»Sie schüttelte den Kopf. »Es sei denn, sie hätten entweder den Wirkstoff selbst oder ihn im Blut der Probanden entschlüsselt. Das wage ich zu bezweifeln. Der Anwalt ist ja mit seiner Forderung Beweis genug, dass die Chinesen nichts haben.«
»Steht diese Kollegin Weng für die chinesische Regierung? Wenn dem so ist, kann ich mir vorstellen, dass so ziemlich alles möglich ist. Die gehen mit ihren Regimegegnern ja nicht gerade zimperlich um.«
»Meinen Sie? Na ja, in China forscht kein Mensch privat. Speziell im Pharmasektor sind die staatlichen Stellen über jeden Schritt informiert.«
Quercher atmete tief ein. Langsam nahm die Geschichte Fahrt auf. Wenn die Witwe mit dem Antrum-Coeli-Wirkstoff recht hatte, wäre das für jeden, ob Privatperson oder Staat, ein unglaublicher Schatz, den man unter allen Umständen heben müsste.
»Gut, wo setze ich an? Ich frage mal in der Uni …«
»Brauchen Sie nicht. Da stoßen Sie auf taube Ohren. Die wollen von meinem Mann nichts mehr wissen. Für die ist er der Tierquäler und Grabscher, den man am liebsten totschweigen will.«
Er verstand, würde trotzdem hinfahren.
»Es gibt nur einen Ansatzpunkt: Relaxando!«, rief sie.
»Klingt wie eine Seife aus dem Osten«, lästerte Quercher.
»Das ist der Name eines Start-up-Unternehmens in Weyarn. Nicht weit von Ihnen, nahe der Autobahn. Laura Binsinger wird Ihnen da sicher weiterhelfen. Sie ist einer dieser Start-up-Haifische.«
»Warum sind die wichtig?«
»Mit ihnen hat Hans zum Schluss zusammengearbeitet. Sie wissen um die Wichtigkeit und die Wirkungsweise. Wenn Sie anfangen wollen, dann bei denen.«
Sagen Sie, dieser Wirkstoff, das ist doch der Schlüssel zu allem. Woher hatte Ihr Mann den noch gleich?«
»Jemand hat ihn ihm vor Jahren ins Institut gebracht.«
»Wer war das?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Das wusste nur mein Mann. Er fürchtete, als er die Ergebnisse sah, um sein …«
»Um seinen Ruhm?«
»Ja, vielleicht auch das. Kann sein. Als der Ärger begann, habe ich ihn mehrfach nach diesem Menschen gefragt, aber da kam immer von ihm die Angst, dass mir mit diesem Wissen etwas zustoßen könnte.«
»Und woher stammte dieser Stoff?«
Sie lachte bitter. »Na, dreimal dürfen Sie raten.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Der- oder diejenigen, die das Mittel zu meinem Mann brachten, nannten es ›Tatzelwurmdreck‹. Dreck vom Tatzelwurm. Da liegt es nahe, dass es …«
»Klar, Tatzelwurm, das ist ein Ort bei Oberaudorf. Ist bei mir um die Ecke. Da gibt es auch Wasserfälle«, erinnerte sich Quercher.
»Nicht weit von Ihrer Heimat. So sind Constanze und ich auf die Idee gekommen, dass Sie der beste Mann wären, sich um diesen Wirkstoff zu kümmern, die verschwundenen Kisten zu finden und die Hintermänner, die meinen Mann in den Tod getrieben haben, aufzuspüren. Ich will die völlige Wiederherstellung des Rufs meines Mannes.«
Quercher erhob sich, folgte dem Dackel, der mit einem Massageball spielen wollte, und hob ihn hoch. »Wissen Sie, Justine, Frau Gerass ist zu mir gekommen. Sie bat mich in Ihrem Namen, mögliche Täter ausfindig zu machen, die für den Tod Ihres Mannes verantwortlich sind. Gut. Ich fahre also bei schönstem Wetter vom Tegernsee ins brütend heiße München, meine Kollegin stiehlt ihren Ex-Kollegen bei der Kripo die Zeit. So, und nun erfahre ich, dass Sie auch an einen Suizid glauben. Denn was Sie wirklich wollen«, er sah ihr direkt ins Gesicht, »das ist dieser Wirkstoff, dieser Tatzelwurmdreck, aus dem Ihr Mann, Gott hab ihn selig, dieses Antrum Coeli hergestellt hat. Wenn ich also meinen Job machen soll, kommen Sie mir nicht mit dem Ruf Ihres Mannes, das sind Räuberpistolen über mörderische Hintermänner. Dann«, er stand jetzt direkt vor ihr, »dann sagen Sie mir die Wahrheit und eiern hier nicht herum. Sie wollen den Stoff. Sie wollen den Ruhm. Sie wollen das Geld.«
Die Witwe hatte ihn ausreden lassen, war gelassen geblieben. Jetzt kam sie in Fahrt. »Ja, vielleicht das alles. Aber Sie werden mir dabei helfen. Denn für Sie hat dieser Fall ja auch eine größere Bedeutung.«
»Ach, sehe ich schon so dement aus?«, ätzte Quercher.
»Vielleicht sollten Sie etwas weniger überheblich auftreten. Sie sind in Ihrem Tal gescheitert, waren mal der große Ermittler und sind jetzt die Witzfigur, die auf einem Biobauernhof vor sich hinvegetiert und von den Alimenten der Ex-Freundin lebt. Sie sind fünfzig. Wenn es gut für Sie läuft, leben Sie noch dreißig Jahre dort mit dem Stigma des Verlierers. Ein Verlierer wie Ihr …«
»Sagen Sie das nicht«, flüsterte er.
»Sie werden wie Ihr Vater auf dem Grund des Sees landen, wenn Sie sich nicht befreien. Er sitzt auf Ihrer Schulter. Sie spüren ihn jeden Tag. Er sagt Ihnen: Du schaffst das nicht. Fang es nicht an. Du wirst scheitern.«
Er wollte etwas erwidern. Doch da war wieder der Geruch von Leim und Leder in seiner Nase. Er vernahm das Klopfen des Hammers, sah die schwielige Hand seines Vaters, spürte, wie der gebrochene Mann ihn traurig ansah. Er würde nicht in die Knie gehen. Nicht vor ihr. Doch diese verdammte Witwe war der erste Mensch, der so tief in sein Innerstes blicken konnte. Wortlos rannte er hinaus, vorbei an der erstaunten Hausdame, Otto lief auf seinen kurzen Beinen bellend hinter ihm her über das Kopfsteinpflaster der Stielerstraße und überquerte mit ihm die Straße zum Kanal, wo Menschen joggten. Sie sahen Quercher ärgerlich an, als er ihnen in den Weg trat, stolperte und auf den Kies fiel. Die Stimme seines Vaters im Ohr. Der Dackel, der neben ihm saß und ihn mit großen braunen Augen anschaute, winselte.
Sein Smartphone klingelte. Arzu.
»Wo bist du?«
»Vor der Praxis der Klockenhoff, am Kanal. Mir geht’s …«
Er konnte kaum weiterreden. Wieder traten die Bilder aus seiner Kindheit in seine Welt, wenn er die Lider schloss. Er beobachtete vom Ufer aus, wie das Boot mit seinem Vater immer kleiner wurde, wie er hinausruderte. Quercher hielt sich an einem Schilderrohrpfosten fest, in der Hoffnung, so etwas wie Kälte zu spüren. Aber das Metall war ebenso warm wie die Umgebung. Er hätte nicht sagen können, dass diese Erinnerungen extrem schmerzhaft waren, sie waren nur sehr intensiv. Als erlebte er sein Leben von einst gerade in Echtzeit.
Er schwitzte, das Herz raste, dennoch war der Kopf klar, die Gedanken purzelten nicht, sie schienen sich zu sortieren.
»Als würde jemand mein Archiv aufräumen …«
»Was redest du da?«
Arzu stand über ihm, griff unter seine Arme und versuchte, ihn auf die Füße zu ziehen. Otto sprang an Querchers Bein hoch, bellte, schien ihn aufzufordern, wach zu werden.
»Die Alte hat mich hypnotisiert«, brachte er mühsam hervor. »Hast du Wasser?«
Sie rannte zu dem pinkfarbenen Smart, mit dem sie herangebraust sein musste, und stolperte fast über Witwe Klockenhoff, die plötzlich vor ihr stand, als sie sich aus dem Wageninneren zurückwand.
»Was haben Sie mit Max gemacht?«, fauchte Arzu.
»Ihr Partner hat seine Leine bei mir vergessen«, erwiderte sie lakonisch.
»Soso, und deswegen liegt er da?«
Justine Klockenhoff ging auf Quercher zu. »Ist Ihnen unwohl?«, fragte sie und beugte sich zu ihm herunter.
»Das sieht man wohl doch. Oder hängen in Nymphenburg gern Menschen auf dem Kiesweg und fragen nach Wasser?«, keifte Arzu und wollte die Frau beiseiteschieben.
»Nein, mir geht es gut. Ich bin nur …« Er griff nach der Wasserflasche und trank gierig. »Was ist das?«, fragte er an die Witwe gewandt.
»Das ist Antrum Coeli …«
»Sie haben mir …?«
»Tausendfach verdünnt!«
Er konnte es nicht fassen. Sie hatte ihn benutzt. Wie eine Laborratte hatte er dieses Zeug verabreicht bekommen, als er bei ihr auf dem Teppich gelegen hatte. Das war schlimm, aber nicht das, was er erlebt hatte. Das war – einzigartig.
»Okay, Frau Dr. Klockenhoff, Sie können sich andere Ermittler suchen«, rief Arzu aufgebracht.
Quercher griff nach Arzus Arm. »Nein, nein. Im Gegenteil.«
Arzu sah ihn verdutzt an. Sie war gerade in Schwung, hätte, wie er sie kannte, der Witwe am liebsten eine Ohrfeige verpasst und wäre mit großer Geste mit Quercher im Smart davongerauscht.
»Arzu, wir finden das Kraut. Wir finden denjenigen, der weiß, woher es kommt. Das wird unser größter Fall!«
Sie sah ihn an, reichte ihm Ottos Leine und zog die Luft ein. »Oder unser letzter …«