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Er kommt am Tag, wenn jeder wacht

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Beim Schreiben kann man verschiedene Richtungen unterscheiden. Es gibt da die „Konstruktionisten“ und die „Treibtäter“. Beide Formen lassen sich auch vermischen und das ist eigentlich das sinnvollste, aber oft genug gibt es Vertreter, die fast schon religiös der einen oder anderen Seite angehören.

Ein Konstruktionist plante alles, was er zu schreiben gedachte, haarklein im Voraus. Bevor er auch nur den ersten Buchstaben zu Papier brachte, hatte er für jede Figur einen Lebenslauf und eine ausführliche Biographie entwickelt – und sei es auch nur für den Postboten, der auf Seite 57 unten volltönend „Post!“ rufen würde. Denn es musste ja einen Grund haben, dass er an genau dieser Stelle auftauchte. Und dass er volltönend rief. Jeder andere Postbote, z.B. sein Kollege, der auf Seite 211 in der Menge der Schaulustigen hinter der Frau mit dem Haarnetz steht, hätte vielleicht nur ein dünnes „Post“ in den Hausflur gehaucht. Oder gar nichts gesagt. Hätte seine Ladung einfach in die Briefschlitze geschoben und wäre seiner Wege gezogen. Doch nicht dieser Postbote. Er rief volltönend, und er hatte seine Gründe dafür. Und wenn auch in einer Szene des Buches 12.000 Arbeiter vorkommen, die vor ihrer Fabrik demonstrieren und mit Spruchbändern stumm vor sich hin stehen, während die Hauptperson des Romans mit einem Zug an ihnen vorbeirast, einem ungewissen Schicksal entgegen, dann hatte der Konstruktionist für jede dieser Figuren Stammbaum und Leben vorherbestimmt und aufgeschrieben.

Dann kamen die Orte. Hierfür waren intensive Recherchen vonnöten. Selbstverständlich konnte man einen Roman an einem Ort spielen lassen, den man kannte. Aber das wäre zu einfach. Und es würde dem ganzen zu viel Leben einhauchen. Ein Ort in der Zukunft oder der Phantasie schloss sich auch aus. Science Fiction und Fantasy waren doch keine Gebiete für einen ernsthaften Schriftsteller. Nein, so etwas verbot sich von selbst. Viel anspruchsvoller war da doch ein historischer Roman. Streikende Fabrikarbeiter, rußverschmierte Kumpel die unter Tage um ihre Existenz kämpften und an der Staublunge scheiterten, das war der Stoff aus dem man anspruchsvolle Literatur zimmerte, für den man Literaturnobelpreise bekam und mit dem man sich als Schriftsteller von einem Autor abheben konnte.

Intensive Durchsicht alter Fotos gehörte genauso dazu, wie kapitellange Beschreibungen eines einzigen Dachgiebels, der zwar in der Handlung keinerlei Bedeutung hatte, aber dessen Beschreibung einfach irgendwie in die Zeit gehörte. Damals hatte man noch so gebaut. Damals sahen die Häuser noch so aus. Damals nahm man sich noch die Zeit, wenn man von der Schicht in der Zeche zurückging in die Arbeitersiedlung, innezuhalten und einen Giebel zu betrachten. Es gab ja auch kein Fernsehen, also was hätten die Kumpel sonst tun sollen? An der Trinkhalle stehen und sich gegenseitig was husten?

Allein 370 der insgesamt 850 Seiten würden die Orte beschreiben. Nicht nur die malerischen Giebel, auch die rauen Schornsteine der grauen Fabrik, die Fördertürme der Bergwerke, die schwarzen Gesichter der Kumpel, in denen sich die Kohle (doppeldeutig, aber bitte herausarbeiten welche gemeint ist, um den Scherz herauszunehmen) als Triebfeder dieser Menschen widerspiegelte, eine Art Metapher für die Menschheit selbst, denn dort wo diese Menschen arbeiteten, würden sie auch nach einem langen, harten, arbeitsamen Leben wieder enden: unter der Erde.

Hier haben wir ein wenig vorweg gegriffen und schon auf die Aussage des Buches hingewiesen, ohne die ein solches natürlich schon überhaupt gar nicht in Angriff genommen werden kann. Eine Aussage muss einfach sein, denn sonst ist es keine wirkliche Literatur. Sonst ist es nicht bedeutend. Nicht wichtig. Nicht lesenswert. Unterhaltung war etwas für die Massen. Die kleinen Schreiberlinge. Nichtssagende Nullen, die ihre Zeit mit Populärtexten wie Krimis verbrachten. Solche Leute hatten keine Klasse. Und keine Aussage. Hier dagegen stand die Aussage im Vordergrund. Und wenn man 768 Seiten benötigte, um zu sagen: „Krieg ist schlecht“, dann war es das wert. Denn die Aussage stand im Vordergrund. War das Wichtigste. War das Buch!

Aber das waren nur kleine Teile eines viel größeren Puzzles. Blieb immer noch ein anderer Punkt. Die Handlung. Ohne die konnte der Konstruktionist weder mit der Beschreibung der kohleschwarzen Gesichter oder der großen Augen der Kinder beginnen, die sahen, wie ihre Väter nach getaner Arbeit und mit dunkler Arbeitskleidung aus dem großen Tor der Zeche herauskamen, noch mit der des Giebels. Denn all das musste sich der Handlung unterordnen. Musste seinen Platz im Gesamtwerk finden. Die Stelle im Leben, an die es gehörte. So wie im richtigen Leben. Also wurde getüftelt. Nein, Verzeihung. Es wurde konzipiert. Haarfein. Die Hauptfigur mit Lebenslauf. Was würde ihr wann geschehen? All dies wurde fein säuberlich zu Papier gebracht. Der gesamte Faden, von A nach B nach C nach D. Keine Abkürzungen, keine Umleitungen. Eine ganz klare Linie. Und alle Personen, die ihr begegneten. Die Kinder, die Arbeiter, der Postbote... der Giebel! Auch er war eine Person, denn er stand für etwas. Er wurde personalisiert. Es gab ein komplettes Dossier über ihn, wann er gebaut worden war und von wem, wer unter ihm gewohnt hatte, wer sich unter ihm geliebt hatte, wer unter ihm gespielt hatte, wer seine starken Balken genutzt hatte, um sich daran zu erhängen. All diese Ereignisse hatten den Giebel geformt, ihn zu einer Persönlichkeit werden lassen. Zu dem, was er jetzt ausstrahlte. Und dann die Bombardements im Krieg. Die Bomben, die um ihn herum niedergingen und die Nachbargiebel zerstörten. Der Blindgänger, der durch seinen Dachfirst schlug, aber nicht explodierte. Die Bergungsarbeiten, die den Blindgänger aus den Tiefen seiner Eingeweide entfernten. Der Versuch, die Bombe zu entschärfen... und der Tod des Entschärfers bei diesem Versuch, weit weg, in einer Deponie am Rande der Stadt. Oder... war der Krieg erst viel später gewesen? Lange nach der Zeit, in der das Buch spielt? Recherchieren!!!

So wurde in langer und intensiver Arbeit (ca. 3 Jahre, vielleicht auch 5) die Handlung Stück für Stück zusammengesetzt. Jedes kleine Teilchen wurde notiert und an ein anderes kleines Teilchen gesetzt, die Personen wurden eingefügt, die Orte, die Geschehnisse. Bis alles passte. Bis das Gesamtbild ein ganzes war. Und man beginnen konnte. Mit etwas schwierigem. Heiklem. Bedeutsamen. Wichtigen. Unerlässlichen. Dem ersten Satz!

Genau genommen dem ersten Wort! Denn bereits hier setzten die Probleme ein. Was sollte das erste Wort sein? Ein Artikel? Auf keinen Fall ein Artikel! Niemand, der etwas auf sich hielt begann ein Werk der Weltliteratur mit einem Artikel. Ein Artikel am Anfang war vulgär. Primitiv. Schlampig. Eines Schriftstellers nicht würdig. Man konnte nicht einfach schreiben „Die Sonne schien.“ Das war unmöglich. Auch wenn es zutreffend war. Natürlich schien die Sonne! Es war ein herrlicher Tag. Vogelgezwitscher erfüllte die Luft. Kein Lüftchen regte sich und die Leute saßen auf den Bänken im Stadtpark und ließen sich die Sonne aufs Gesicht scheinen. So war es. Aber das konnte man doch nicht so schreiben! Und auf keinen Fall konnte man das Buch so anfangen. „Die Sonne schien“ war banal, flach und belanglos. Es brachte den Leser in die völlig falsche Stimmung, gab ihm eine völlig falsche Einstellung zu dem, was in ca. 400 Seiten passieren würde. Da konnte man ihn nicht mit so einer Profanität behelligen. Außerdem durfte man den Leser nicht unterschätzen. Man musste ihm nicht sagen, dass die Sonne schien. Das würde er auch so merken. Aus dem Zusammenhang. Aus der Beschreibung der Menschen, der Umgebung. Dafür brauchte man ihm nicht mit dem Holzhammer klarzumachen, dass „die Sonne schien“. Jeder, der einen solchen Tag schon einmal erlebt hatte, konnte das ohne viele Worte nachvollziehen. Und, das war das Schöne daran, auch wenn das Buch in einer anderen Zeit spielte. Der Leser würde sich trotzdem so vorkommen, als wäre er dabei gewesen. Auch wenn er damals noch nicht mal geboren war. Nur, weil er sich in das Gefühl hineinversetzen musste. Selbst wenn auf den ersten 90 Seiten noch nicht viel mit Gefühl oder Menschen passieren würde, immerhin ging es erstmal darum, dem Leser die Umgebung zu beschreiben, den Ort des Geschehens.

„Grelles Sonnenlicht durchflutete die Vorhänge.“ Nein, das war völliger Blödsinn. Es gab ja gar keine Vorhänge. Nirgendwo hatte er etwas von Vorhängen stehen. Gardinen bestenfalls, aber die waren total verblichen. Wie das damals eben so war. Aber würde das Sonnenlicht durch verblichene Gardinen fluten? Wohl eher nicht. Und schon gar kein „grelles“ Sonnenlicht. Grell war ein so vulgäres Wort. Grell waren die Lippen der Hure auf Seite 623, aber doch nicht das Sonnenlicht. War „durchflutete die Vorhänge“ überhaupt richtiges Deutsch? Müsste es nicht eher heißen „flutete durch die Vorhänge“? Aber das klang ja überhaupt nicht gut. Und es waren ja auch Gardinen.

Eine Woche hin und her feilen und der erste Satz stand noch immer nicht. Verschiedene Ansätze kamen auf:

„Es war hell.“ – Unverständlich, flach, platt.

„Sonnenschein erfüllte das Zimmer.“ – Die Gardinen waren zugezogen, das war wichtig für das Zusammentreffen auf Seite 243, und überhaupt welches Zimmer?

„Der kleine Junge mit der Eistüte lief die Straße hinunter.“ – Das würde viel Arbeit bedeuten, denn bislang gab es keinen kleinen Jungen, hier wäre eine komplette neue Biographie notwendig... und außerdem stand ein Artikel am Anfang!

„Eistüte lief die Straße hinunter.“ – Was war eine Eistüte? Gab es die zu der Zeit, in der das Werk spielte überhaupt noch? Oder schon? War hier nicht eher ein Eis am Stiel angemessen? Und führte das Auslassen des Artikels wirklich zum Erfolg?

„Eis lief die Straße hinunter.“ – Besser, aber missverständlich. Eis könnte eine der Personen des Buches sein und der Leser würde sich fragen, warum er ganz am Anfang die Straße herunter lief und wieso er danach nie wieder auftauchte. Vielleicht doch eher irgendwas mit der Sonne?

„Sonne schien.“ – Zu ungenau. Welche Sonne, und wohin?

„Sonne schien hell vom Himmel.“ – Tautologie. Woher sollte die Sonne sonst scheinen wenn nicht vom Himmel? Und hell sowieso.

„Sonnenstrahlen strahlten durch die Straße.“ – Wieder doppelt gemoppelt. Vielleicht etwas klinischer?

„Sonne am Himmel.“ – Zu abgehackt. Zu wissenschaftlich. Aber nur drei Wörter! Im Gedächtnis behalten!!!

„Sonnenschein in der Straße der Glückseligkeit.“ – Der Satz entstand nach etwas zu viel Wein. Die Straße hieß nicht „der Glückseligkeit“ und korrekte Angaben waren wichtig. Aber ein guter Ansatz!

„Die Sonne schien in der Walterstraße 31 bis 53.“ – Da war wieder dieser verdammte Artikel.

„Die Walterstraße 31 bis 53 wurde von Sonne beschienen.“ – Etwas holpering... und der Artikel!

„Sonne schien – in der Walterstraße 31 bis 53.“ – Keine Gedankenstriche! Sowas war niedriges Niveau!

„Sonnenschein in der Walterstraße 31 bis 53.“ – Ja, schon sehr gut.

„Sonne beschien die Häuser der Walterstraße 31 bis 53.“– Perfekt!

Hier sehen wir die Arbeit von gut zwei Wochen intensiven Feilens. Und das war nur der erste Satz. Das würde jetzt noch etwa 3 bis 7 Jahre weitergehen, bis man die erste Fassung des fast 900 Seiten langen Werkes zusammen hatte. Dann wurde noch mal 2 Jahre lang intensiv überarbeitet, bis der Text jegliches Leben und Gefühl verloren hatte. Dafür war es jetzt Kunst. Unlesbar, aber Kunst.

Was den Stil anging... tja, das war meist der einzige Punkt, an dem der Konstruktionist sparte. Auch wenn er das selbst nicht so sah, hatte er doch jahrelang an einzelnen Sätzen, ja sogar Wörtern gefeilt, hatte in Lexika Synonyme herausgeschrieben und welche verwendet, die genau zu dem Selbst seiner Hauptfigur passten... oder dem Giebel. Andererseits war das aber auch nicht so wichtig. Ein Buch, besonders eins mit Aussage, musste ja auch nicht gut lesbar sein. Es stand für sich selbst und wenn sich der Leser quälen musste durch die langatmigen und nicht leserfreundlich geschriebenen Passagen, dann empfand er damit genau die Qual nach, die diese Männer in ihren Stollen unter der Erde Tag für Tag erleben mussten. Mangelndes Formulierungstalent als Mittel der literarischen Rezeption. Das war originell. Oder wäre es gewesen, wenn die Konstruktionisten so viel Selbsteinschätzung hätten, das zu erkennen und so viel Humor, es so zu formulieren. Beides waren Punkte, die hier nur spärlich besetzt waren.

Die Treibtäter dagegen waren anders. Sie setzten sich hin und schrieben drauflos. Sie sorgten dafür, dass sich die Handlung irgendwann verselbständigte. So etwas funktioniert manchmal. Man ließ sich treiben und ließ sich dabei überraschen, wohin einen das führte. Wenn dabei Dinge herumkamen, mit denen man selbst nicht gerechnet hatte, wenn einen das, was passierte selbst überraschte... das war spannend!

Ich war einer dieser Treibtäter und ich mochte es, wenn beim Schreiben Dinge passierten, mit denen ich nie gerechnet hätte. So musste das sein. Alles andere empfand ich als relativ langweilig. Denn wenn die Handlung mich als den Autor noch überraschen konnte, so war meine Theorie, müsste sie den Leser doch eigentlich auch überraschen. Beim Konstruktionisten war alles so sehr konstruiert, dass man sich rein mathematisch ableiten konnte, was als nächstes passieren würde... falls etwas passierte, was nicht garantiert war. Ich dagegen wusste oft nicht, was im nächsten Kapitel auf mich zukommen würde. Gut, bei einem Krimi sollte man ab einem gewissen Punkt wissen, wo einen das hinführen würde und wer der Täter war. Aber im Zweifel hat man ja immer noch die Überarbeitung, um im Nachhinein ein paar Hinweise zu legen und sich das ganze logisch zurecht zu biegen. Aber eigentlich reichte es, wenn man seine Hauptfigur kannte – und man sollte sie intensiv kennen, intuitiv, nicht nur auf dem Papier. Wenn man nur ihre Biographie auswendig wusste, fehlte meist das Leben und die Figur blieb im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Papier. Als Autor sollte man aber mit seinem Hauptcharakter auf du und du stehen, es sei denn, das Konzept des Buches verlangte etwas anderes. Dann brauchte man bei einem Krimi nur noch einen Mord und man konnte sich als Detektiv ins Getümmel stürzen.

Wie gesagt, auch hier sind Überraschungen durchaus möglich. Bei einem Buch wusste ich die ganze Zeit, dass der Täter eine Figur namens Hastell sein würde und wenn man so etwas schreibt, arbeitet man natürlich darauf hin, den Täter zu finden. Und wie gesagt, bei einem Krimi sollte man wissen, wer es war. Nur, dass ich irgendwann etwas feststellte. Hastell war nicht der Täter. Nicht, weil er ein Alibi hatte oder so etwas. Schlicht und ergreifend, weil er bis zu einem gewissen Zeitpunkt überhaupt nicht aufgetaucht war. Und es jetzt blödsinnig gewesen wäre, ihn noch auftauchen zu lassen. Und es ohnehin mehr Sinn machte, wenn ein anderer Charakter der Mörder war. Also tauchte Hastell in dem Buch nicht auf und jemand anders bekam die Morde in die Schuhe geschoben. So kann’s gehen! Wenn man wie ich ein Treibtäter war.

Die Konstruktionisten mochten die Treibtäter nicht, denn alles, was nicht von vorne bis hinten geplant war – und letzten Endes meist konstruiert wirkte, machen wir uns da nichts vor – war für sie keine wirkliche Literatur. Nichts Anspruchsvolles. Gehaltvolles.

Ich persönlich hielt auch nicht so viel von den Konstruktionisten. Wie üblich war eine gesunde Mitte sinnvoll. Eine Mischung als dem Sich-treiben-lassen und der Konstruktion und Überarbeitung. Wenn man beides ineinander fließen ließ, konnte dabei etwas Vernünftiges rumkommen. Aber was wusste ich schon? Ich war doch nur eine traurige Figur, die in ihren Rechner heulte und nie darüber wegkommen würde, dass sie niemals veröffentlicht wurde!

+ + +

Blut tropfte.

Langsam.

Tropfen für Tropfen.

Platsch.

Platsch.

Platsch.

Wie ein defekter Wasserhahn.

Das Leben wich aus dem Körper.

Das Ende nahte.

Der Tod.

Endlich!

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