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Er kommt bei Regen, Sturm und Wind

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Das Angenehme am Schreiben war, dass man damit eine Menge erreichen konnte. Zum Beispiel Aggressionen abbauen. Manch einer besorgte sich eine Knarre und zog wild um sich ballernd durch die Fußgängerzone. Auch wenn ich manchmal durchaus den Drang genau danach verspürte, half das Schreiben doch dabei, ihn zu unterdrücken. Wie das ging? Ganz einfach.

Wenn einem auf der Arbeit irgendjemand auf den Sack geht, was macht man dann? Sagen wir... nehmen wir eine Geschichte aus der Werbung. Ich war damals ein kleines Licht in einer Agentur und schreib an irgendeinem Mist rum und während ich das tat, rief mich einer meiner beiden Chefs aus dem Nachbarbüro an. Sie waren nicht die Herren der Agentur, aber für den bereits erwähnten „kreativen“ Bereich zuständig. Sowas nennt man Kreativdirektoren oder, weil alles in der Werbung natürlich irgendwie englisch sein muss, weil es wenn es irgendwie englisch ist nämlich irgendwie frisch und irgendwie jugendlich und irgendwie hip wirkt, Creative Direktoren. Es gab da einen für den Text und einen für die Grafik. Und der Mensch für den Text, den ich schon von früher kannte, rief mich an und wir sprachen über irgendwas, an dem wir auch gerade arbeiteten. Ich weiß nicht mehr in welchem Zusammenhang und auch nicht mehr, um welchen Begriff es dabei ging, aber ich sagte in dem Gespräch irgendein Wort, keine Ahnung mehr, was es war, sagen wir einfach mal „Luchsbrötchen“. Ich hörte, wie mein Textchef lachte und dieses Wort laut aussprach und dann hörte ich durch das Telefon, wie der Grafikchef ihm gegenüber „Luchsbrötchen“ zurück echote und lachte. Wenig später, ich hatte das ganze schon mehr oder weniger verdrängt, kam ich dann rüber ins Büro zu den beiden Cheffen und da grinste mich der Grafiktyp an und erklärte mir „Luchsbrötchen“, als wäre es seine Idee gewesen, was ich daran erkennen konnte, dass er später sagte: „Luchsbrötchen – das war meine Idee.“. So läuft das in der Werbung. Ich dachte erst, ich würde verarscht, aber im Laufe der Zeit geschah es öfter, dass er über Dinge, die ganz offensichtlich und fraglos von anderen Leuten waren, sagte: „Das war meine Idee.“ So auch bei den „Luchsbrötchen“. Das war seine Idee.

Die Frage ist nun: Was macht man mit so einem Typen? Einfach umlegen? Sicher, nur zu gerne. Aber da kommt dann der Gesetzgeber an und sagt einem, dass das so nicht geht. Aus irgendeinem Grund ist das verboten. Kaum vorstellbar eigentlich, gerade wenn man solche Leute kennt. Aber nichts zu machen. Der Gesetzgeber ist da nicht besonders offen für eine etwas freiere Gestaltung der Gesetze.

Also was tun?

Ins Fitnessstudio gehen und auf Sandsäcke einprügeln. Als Frau kann man sich nachts in schlimmen Gegenden rumtreiben, darauf warten bis einer einen vergewaltigen will und es dem dann so richtig heimzahlen. Natürlich kann man sich auch einfach an seinen Rechner setzen und mit dem Ego-Shooter Aggressionen abbauen. Aber das ist auch gefährlich. Jedenfalls, wenn man den Medien glaubt. Denn Leute, die brutale Computerspiele spielen, sehen sich meist auch Horrorvideos an. Oder nehmen sie Klassenkameraden als Geiseln und laufen in Schulen Amok? Irgendwas in der Art. Auf jeden Fall ist man nach Meinung der Medien in einem solchen Fall schon so gut wie im Knast, denn nahezu bei jedem, der in den letzten Jahren a) einen Amoklauf in einer Schule abgehalten oder b) auf satanische Weise jemanden umgebracht hat, hat man hinterher solche Spiele gefunden. Böse böse böse!

Also sollte man diese Spiele lieber lassen und gleich jemanden umlegen. Das hätte zumindest den Vorteil, dass die Leute, die bei diesen Spielen ihre Aggressionen sinnvoll und gefahrlos abbauen, nicht immer in einem Atemzug mit Amokläufern und Kinderschändern genannt werden.

Oder sie sollten es machen wie ich. Die Leute umbringen, die sie nerven. In... einer Geschichte. Wer es schafft, kann sie auch totdichten, aber ich habe noch nie davon gehört, dass man beim Dichten Aggressionen abbauen kann. Versuch wär’s wert. Ansonsten reicht völlig eine normale Kurzgeschichte, in der man eine Figur wie diesen erwähnten Grafikkreativdirektorarsch einbaut, sie mit seinen Eigenschaften versieht und dann schlicht und ergreifend umbringt. Statt schlicht und ergreifend kann man hier natürlich auch alle Freundlichkeit ausleben, die einem Möglichkeiten wie Folter, mehrfaches Überfahren, das Herausreißen von Fingernägeln oder sonstiges bieten. Und danach fühlt man sich etwas besser. Er lebt zwar immer noch und man sieht ihn am nächsten Arbeitstag wieder, aber... ich habe nie behauptet, dass das Leben irgendwie gerecht wäre.

Das war es nicht. Ist es nicht. Würde es nie sein. Dagegen ließ sich nicht viel unternehmen. Auch nicht mit Schreiben. Aber man konnte es ein wenig einschläfern. Mit etwas anderem. Alkohol!

Gläser klirrten gegeneinander. Wurden zum Mund geführt. Geleert. Neu bestellt. Zigaretten aus Packungen genommen. Zum Mund geführt. Angesteckt. Geraucht. Ich rauchte auch. Aber nur beim Trinken. Mochte den Geschmack im Mund nicht. Wenn ich nüchtern war. Mit Alkohol wurden verschiedene Wahrnehmungen eingeschränkt. Der Geschmack im Mund schien dazu zu gehören. Ich qualmte und trank, als hing mein Leben davon ab. Oder mein Ableben. Oder... was auch immer.

Trinken, rauchen, trinken... und den lieben Gott gerade sein lassen. Irgendwas in der Art. Ich war mit Hagen unterwegs. Kannte ihn aus dem Comicladen. Er arbeitete da nicht. Hing dort nur rum. Samstags. Genau so wie ich. Trug immer schwarz und meistens Leder. Arbeitete bei einer Versicherung. Ich hatte mir solche Leute immer anders vorgestellt. In Anzug und Krawatte. Aber ich ließ mich gern eines besseren belehren.

Der Abend floss dahin, ohne dass wir uns auch nur einmal über Comics unterhielten. Taten wir eigentlich nie. Das war mir irgendwann aufgefallen. Ich hing schon seit einiger Zeit in Comicläden herum. In verschiedenen. Abwechslung. Man sprach über Filme, Fernsehen, Pseudo-Talente, denen das Zeug zum Sänger fehlte, so dass man sie gezwungenermaßen gleich als „Superstars“ bezeichnen musste, all sowas. Aber nie über Comics. Vielleicht sprach man über die an anderen Orten? Wahrscheinlich in Videotheken.

Eine neue Runde gesellte sich zu uns. Sie hielt nicht lange durch. Das Zippo klongte auf und die Zigarette rauchte.

Wir philosophierten über Leben, Tod, leere Gläser und abgebrannte Kippen, über Filme, Serien und die Bestellung einer neuen Runde. Ich schaffte es, meine Theorie des Schreibens als Therapie in das Gespräch einzubringen.

Er hob die Schultern.

„Hilft das wirklich?“

Ich unterdrückte ein Rülpsen und schaffte es mit jahrelanger Übung, es in ein Nicken zu verwandeln.

„Auch, wenn man so richtig scheiße drauf ist?“

Das konnte ich bestätigen. Denn das war ich öfter.

Er nickte.

„Klingt ja nicht schlecht.“

Bier kam und floss Kehlen herunter.

Bläschen im Magen fanden sich zu einer Tagung zusammen. Sie stimmten ab. Die Gewerkschaft der Kohlensäurer kam mit einer Resolution. Eine Abordnung wurde zusammengestellt. Es gab eine große Verabschiedung. Die Abordnung, begleitet vom Applaus der Zurückbleibenden, machte sich auf den Weg. Ein langer Marsch stand ihnen bevor. Durch unwegsame Territorien, glitschige Kanäle, enge Korridore. Immer einer Bestimmung folgend. Immer ein Ziel ansteuernd. Mutig. Furchtlos. Machtvoll. Sie würden ihre Aufgabe erfüllen. Fanden ihren Weg. Erreichten ihr Ziel. Ich rülpste.

„Uuups, sorry“, murmelte ich, während die Gewerkschaft irgendwo in den Tiefen meines Körpers bereits zu einer neuen Kampfabstimmung aufrief.

„Könnt ich auch manchmal gebrauchen.“

In Windeseile wurden Spruchbänder hergestellt.

„Häh?“

Ich sah auf, während Vertreter des Bieres und der Magensäfte überlegten, ob sie sich der Reise nicht anschließen sollten.

„Also du kannst damit auch Stress abbauen? Schreiben anstatt... wahnsinnig zu werden?“

Die Bierianer schienen der Möglichkeit, dorthin zurückzukehren, woher sie kamen nicht abgeneigt zu sein.

„Mh hm“, nickte ich, in einem inneren Kampf versunken.

Immerhin waren sie den Weg doch gerade erst gekommen. Sie kannten ihn. Fühlten sich dort heimisch. Konnten dem Bläschenvolk zeigen, wo es lang ging.

„Das hilft ganz gut“, murmelte ich und hielt mir den Handrücken vor den Mund.

Während sich der Führer des Bieres mit seinen Beratern absprach, begann auch der restliche Inhalt des Magens zu rebellieren. Bereits seit einiger Zeit hatte er Neuankömmlinge freundlich empfangen und aufgenommen. Auch Kameraden des Bierklans. Sie hatten hier neue Freunde gefunden, ja mit Angehörigen des Mageninhalts sogar Familien gegründet. Doch eines war ihnen immer bewusst gewesen: dass sie hier nur Gefangene waren!

„Also mir jedenfalls.“

Und nun eröffnete sich für den Führer des Mageninhalts die Möglichkeit, diesem Gefängnis zu entkommen und sein Volk in die Freiheit zu führen. Die Bläschen hatten ihnen gezeigt, dass es Hoffnung gab. Die Bierianer wollten nun folgen. Dies war der Moment, auf den er sein ganzes Leben gewartet hatte, dies war die Chance zur Flucht – für sie alle!

„Ich meine, wenn man so richtig scheiße drauf ist...“

Es war eine Rebellion. Es war eine Befreiung. Sie konnten es schaffen. Durch die engen Kanäle, die klebrigen Winkel, hinauf, hinauf. Doch was... was, wenn der Weg nirgendwohin führte? Was, wenn die Späher der Bläschen nur deshalb nie zurückgekehrt waren, weil sie tot waren?

„...dann is das ganz okay, weil man sich einfach hinsetzen...“

Der König des Bieres versuchte ihn zu beruhigen. Natürlich gab es dort draußen etwas. Sie waren doch von dort gekommen. Vor gar nicht all zu langer Zeit. Sie hatten es gesehen. Durch die langen Schächte hatte man sie hinunter getrieben hier in die Verliese. Dort, wo sie her kamen, gab es Wolken aus Schaum, Wände aus Glas und Schläuche, mit denen man sie aus den riesigen Fässern, in denen sie heimisch waren, herausgesaugt, entführt hatte.

„...und den ganzen Mist rauslassen kann.“

Und warum waren die Blasianer dann nicht zurückgekehrt? Der Anführer des Mageninhalts war skeptisch. Immerhin hätten sie jemanden schicken können. Um zu sagen, dass es ihnen gut ging. Dass sie die Freiheit erreicht hatten. Dass es für sie alle einen Ausweg gab. Und... was war das für ein furchtbares tosendes Geräusch gewesen, nachdem sie ihr Verlies hier unten verlassen hatten? Ein Nachhall wie von einer Explosion. Bedeutete das nicht, dass man mit dem schlimmsten rechnen musste?

„Aha.“

Der Bierkönig wollte den Anführer beruhigen. Wahrscheinlich sei dies ein Ausruf der Freude über die wieder entdeckte Freiheit gewesen, mutmaßte er. Man dürfe nicht gleich mit dem schlimmsten rechnen. Es gab Hoffnung. Und es gab einen Weg. Das Bier würde ihn gehen, soviel stand fest. Und der Inhalt des Magens konnte es dabei gerne begleiten. Der Anführer rief sein Volk zusammen.

„Ja, echt.“

Das Volk war in Aufruhr. Die Stimmung schwappte fast über vor Aufregung. Der Anführer sprach beschwichtigend auf die bewegten Massen ein. Sie stünden an einem Wendepunkt. Es wäre an der Zeit, wichtige Entscheidungen zu treffen. Ob sie, wie so viele ihres Volkes vor ihnen, ihren vorherbestimmten Weg gehen würden. Oder ob sie umkehren wollten. Dorthin zurückgehen, woher sie gekommen waren. Aus ihrem erzwungenen Verließ ausbrechen.

„Könnt ich auch manchmal gebrauchen sowas“, murmelte Hagen.

Es gab eine Abstimmung. Die Meinungen sprudelten nur so hervor. Das Volk entschied. Freiheit! Die Zeit der Gefangenschaft sollte vorüber sein. Jetzt würde es zu neuen Ufern aufbrechen.

„Wieso?“ ich sah ihn fragend an. „Wie deprimierend ist denn dieser Versicherungsjob?“

Das Bier preschte hervor. Mutig und kühn lief es die verwinkelten Pfade hinauf. Einer unsicheren Zukunft entgegen. Und einem Ausgang. Sie waren hierher gekommen. Sie wussten, dass es einen gab. Und sie würden ihn finden. Koste es, was es wolle.

„Ach, das ist es nicht“, meinte er.

Das war das Zeichen. Der Inhalt des Magens hatte sich verbündet. Sie würden gehen. Alle zusammen. Würden nicht hinabsteigen in die ungewissen Tiefen, in denen unbekannte Gefahren auf sie warteten, sondern würden mutig vorstoßen in die Höhen, aus denen sie dereinst gekommen waren.

„Was denn sonst?“ fragte ich grinsend, obwohl ich plötzlich ein ungutes Gefühl hatte.

Sie folgten den Bierianern. Durch unwegsames Gebiet, steile Klüfte hinauf, auf glitschigen Faden, kaum sehend wohin sie unterwegs waren. Bald, bald würden sie es geschafft haben. Bald waren sie am Ziel.

„Arbeitest du nebenbei noch als Profikiller?“

Die Vorhut des Biers näherte sich dem Ausgang. Dort vor ihnen befand sie sich. Eine sich ständig öffnende und schließende Formation, gesäumt von kleinen scharfen Felsen. Dort mussten sie hindurch, dann hatten sie es geschafft. Vor ihnen lag die Freiheit. Einen Augenblick noch und es war so weit. Sie sahen, wie der Spalt sich öffnete. Und stürmten hervor!

„Ja.“

Das Bier erreichte die Pforte seines Gefängnisses.

Ich rannte zur Toilette und musste kotzen.

Und fühlte mich befreit.

+ + +

Ich wurde müde.

Die Pulsadern waren weit geöffnet.

Der Atem ging immer langsamer.

Mir fielen die Augen zu.

Ich gähnte.

Das Ende kam immer näher.

War in greifbare Nähe gerückt.

Sah mich an.

Wartend.

Lauernd.

Lächelnd.

Nicht mehr lange...

...und es war vorbei!

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