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6. Kapitel (2000)

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Mittlerweile bin ich zwei Jahre alt und schon lange kein Welpe mehr. Ich wiege stolze 38 Kilogramm und bin wesentlich größer als ein Schäferhund. Ich habe ein weißes, glattes, langhaariges Fell, schwarze Mandelaugen und eine schwarze Nasenspitze. Meine Ohren hängen in der Regel nach unten, nur bei starkem Gegenwind richten sie sich auf. Bei Aufregung rolle ich meinen Schwanz nach oben zu einem Kringel. Am Hals habe ich einen dicken Fellkragen, der mich vor Hunde- oder Wolfsbissen schützt. Mein gewaltiger Kopf, der fast so groß ist wie Rudis Schädel, passt ausgezeichnet zu meinem dickköpfigen Charakter. Mein riesiges Gebiss mit den langen Reißzähnen zeige ich gerne mal anderen Hunden, damit sie keinen Angriff gegen mich wagen. Meine Drohgebärden kombiniere ich immer mit zischenden Warngeräuschen, die die Gegner absolut beeindrucken. In den Parks bin ich eigentlich immer die Chefin unter den Hunden. Nur wenige wagen es, sich mir in den Weg zu stellen. Wenn jemand Streit will, soll er ihn haben, weil ich keiner Auseinandersetzung ausweiche. Ich habe schon eine Menge Hundekämpfe gehabt, deswegen habe ich unzählige Narben am Hals, die aber niemals beim Tierarzt behandelt werden mussten. Fremden Leuten gegenüber bin ich normalerweise sehr freundlich, weil es durchaus möglich ist, dass sie etwas Essbares in der Tasche haben.

Mein Rudel besteht nachwievor aus Rudi, Franzi und meiner Wenigkeit. Wir wohnen immer noch in der Dachwohnung in Kreuzberg. Allerdings haben meine Bezugspersonen häufig Streit. Meine Sorge ist, dass sie sich bald trennen werden, wenn das so weiter geht. Franzi schmollt wochenlang nach irgendwelchen Auseinandersetzungen und bestraft Rudi dann mit völliger Missachtung seiner Person.

Heute Abend bin ich mit Rudi und Franzi in einem Kreuzberger Gartenlokal. Wir haben einen warmen Frühsommertag, die anderen Gäste an den Nebentischen sind in ihre Gespräche vertieft. Hier wird eine Menge Bier getrunken, deswegen ist die Stimmung gut. Nur an unserm Tisch herrscht dicke Luft. Den Grund dafür kann ich nicht richtig einschätzen. Momentan bin ich angeleint, weil ich nicht alleine durch das Lokal laufen soll. Es gibt hier auch noch ein paar andere Hunde, die aber alle an anderen Tischen in sicheren Abstand von mir verweilen.

„Ich finde dein ewiges Schweigen furchtbar, das ist doch keine Konfliktlösung! Kannst du nicht mal eine andere Platte auflegen. Man kann doch über alle Probleme reden!“ meint Rudi genervt.

Franzi nimmt ihr Bier und trinkt einen Schluck, aber eine Antwort bekommt Rudi nicht. Als Mann würde ich so eine Frau nicht aushalten. Meines Erachtens hat Franzi einen Haufen Probleme, jedoch wird durch ihr Schweigen alles immer schlimmer. Scheinbar will sie ihn bestrafen, aber warum?

Nachdem Rudi die Rechnung bezahlt hat, gehen wir schweigend zu Fuß zurück zur Wohnung. Als ich an einem Baum pinkele, wartet Rudi geduldig. Franzi läuft dagegen weiter ohne auf uns zu warten. Egal, sie kann ruhig schon mal vorgehen. Wenig später steige ich mit Rudi die Treppen hinauf zu unserer Dachwohnung. Rudi schließt das Türschloss auf und betritt den Flur. Ich folge ihm, gehe zum Wassernapf und trinke etwas. Rudi bereitet mir mein Futter vor, stellt mir die Schale auf den Boden und setzt sich danach auf einen Barhocker am Küchentresen. Franzi befindet sich im Bad. Gierig fresse ich meine Portion und lege mich anschließend in meiner Lieblingsecke auf meine Decke. Hier habe ich alles gut im Blick. Franzi kommt aus dem Bad ohne Rudi anzuschauen, geht ins Wohnzimmer und setzt sich dort auf die Couch.

„Ich finde dich wirklich total zum Kotzen!“ ruft Rudi ihr zu und schaut ins Wohnzimmer.

Franzi erhebt sich von der Couch und geht schnellen Schrittes zurück zum Bad. Kurz bevor sie Rudi passiert, der immer noch auf dem Barhocker sitzt, wendet sie sich ihm plötzlich zu und stößt ihn kraftvoll mit ausgestreckten Armen vom Hocker, sodass er rückwärts auf die Küchenfliesen stürzt. Leider konnte er sich beim Aufprall nur eingeschränkt mit dem linken Ellbogen abstützen. Der Sturz war fatal und bestimmt sehr schmerzhaft. Franzi geht ohne sich um Rudi zu kümmern weiter ins Bad, während er sich langsam wieder aufrichtet und seinen linken Ellbogen mit der anderen Hand festhält.

„Bist du Wahnsinnig geworden? Du hättest mich umbringen können!“ schreit Rudi entsetzt. Geschockt schaut er sich seinen Ellbogen an, der schnell mandarinengroß anschwillt. „Vielleicht ist der jetzt gebrochen!“ brüllt er mit schmerzverzerrtem Gesicht.

Franzi kommt kommentarlos aus dem Bad heraus, greift die große, schwarze Porzellanschüssel mit von ihr zubereiteten Erdbeeren, hebt sie hoch und schmettert sie kraftvoll auf den Fliesenboden in der Küche. Es gibt einen gigantischen Knall, danach fliegen tausende von Scherben über den Boden in alle Wohnungsecken. Beim Aufprall der schwarzen Splitter an den Wandleisten prasselt es laut.

„Du bist vollkommen irre geworden! Du bist gemeingefährlich und gehörst in eine Anstalt!“ schreit Rudi entsetzt.

Wie zuvor antwortet sie nicht, weil sie erstarrt und quasi weggetreten ist. Was ist nur mit Franzi los? Als Hund verstehe ich das Geschehen wirklich nicht. Der Knall und die danach fliegenden Scherben waren für mich furchtbar, weil ich die Lautstärke mit meinen sensiblen Ohren nicht ertragen kann. Ich habe große Angst vor Knallgeräuschen jeglicher Art. Silvester ist für mich jedes Jahr der blanke Horror. Ich hasse diese Knaller auf der Straße und würde am liebsten in sie hineinbeißen. In der letzten Silvesternacht bin ich einem auf der Straße rollenden Böller hinterhergelaufen, um ihn zu schnappen. Zum Glück ist er explodiert, bevor ich ihn erreicht habe. Von meiner Aktion waren Rudi und Franzi wenig begeistert.

Rudi beginnt in der gesamten Wohnung mit einem Besen die Scherben zusammenzufegen, damit ich mir meine Füße nicht verletze. Mit Hilfe eines Handbesens schiebt er den entstandenen Haufen auf ein Kehrblech und entsorgt ihn im Mülleimer. Franzi schweigt weiterhin, geht später wortlos ins Schlafzimmer und legt sich schlafen. Rudi setzt sich nach der Kehraktion wieder an den Tresen und trinkt ein Bier. Er sieht völlig fertig aus und ist an diesem Abend um Jahre gealtert.

„Mein Ellbogen tut verdammt weh! Hoffentlich ist er nicht gebrochen“, sagt Rudi verzweifelt zu mir.

Schade, dass ich ihm nicht antworten kann. Ich würde ihm gerne helfen, weil er mir wirklich leid tut. Aber wie soll ich das anstellen?

Der mit dem Wolf heult

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