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»Seine Ichheit auch in der Musik heraustreiben« – Mit der Sturm-Sonate auf »Neuem Weg«

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Der Vorrede zum dritten Heft seiner Musicalischen Rhapsodien gibt der Komponist Christian Friedrich Daniel Schubart die Überschrift »Klavierrezepte«, obwohl es sich um Vokalmusik handelt. Doch ganz im Sinne der Gattung »Rhapsodie«, die sich ja der gestalterischen Freiheit verschrieben hat, heißt es dort:

Um aber deine Ichheit auch in der Musik herauszutreiben, so denke, erfinde, fantasire selber. Dein eigens, dir so ganz anpassendes Gemächt wirst du immer am besten herausbringen. Ewiges Kopiren, oder Vortrag fremden Gewerks ist Schmach für den Geist. Sei kühn, schlag an Brust und Schedel, ob nicht Funken eigner Kraft dir entsprühen.7

Beethoven ist damals 18 Jahre alt, und es werden noch 16 Jahre vergehen, eher er – wenn die Erinnerung seines Schülers Carl Czerny stimmt, nach Abschluss seiner Klaviersonate op. 28 verkündet: »Ich bin mit meinen bisherigen Arbeiten nicht zufrieden; von nun an will ich einen anderen Weg beschreiten.«8 Die Beethoven-Forschung hat die erste Verwirklichung dieses »neuen Weges« im Anschluss an Czerny vor allem in den Klaviersonaten op. 31 und speziell in der Sturm-Sonate op. 31,2 gesehen, jedoch auch in der Eroica. Unter den Strukturanalytikern war namentlich Carl Dahlhaus bestrebt, den »neuen Weg« vor allem im Sinne einer »Formidee« zu beschreiben, die den »radikalen Prozesscharakter« der Musik zur Geltung bringe. Nach seiner Auffassung treibt Beethovens neue Intention »Paradoxien« und »Ambiguitäten« aus sich heraus, die sich etwa darin zeigen, dass man den Anfang der Sturm-Sonate in einer paradoxen Mehrdeutigkeit zunächst als Introduktion hört, die sich mit Takt 21 als thematische Antizipation erweist, um dann – wenn das ›Thema‹ sich zur Überleitung wandelt – rückwirkend den Charakter einer Exposition anzunehmen.9

Dahlhaus’ Bemühen, die Prozesshaftigkeit des Kopfsatzes der Sturm-Sonate im Sinne einer anspruchsvollen immanenten Logik zu erklären, macht vor einer formalen Deutung der auffälligen Rezitative in Takt 143–148 und Takt 155–158 der »Reprise« nicht halt. Diese enthalten harmonisch die Sequenz A-d/C-F, die bereits im Sonatenbeginn angelegt ist, und lassen sich aus dem den Satz eröffnenden Adagio ableiten. Fazit:

Die rätselhafte Auskomponierung des Largo zum Rezitativ bildet also, funktional betrachtet, einen Widerpart zur ebenso rätselhaften Reduktion des [dem zweiten Rezitativ folgenden] Allegro: Im einen Vexierbild steckt die Lösung des anderen.10

Solches erklärt Dahlhaus jenen »Analytikern«, die dem »Dilemma« der komplizierten Struktur mit »verlegener Ratlosigkeit« begegnen. Aus Respekt vor seinen scharfsinnigen, hier notgedrungen verkürzt wiedergegebenen Analysen übersieht man gern, dass sie Deutungen darstellen, die der Absicht Beethovens entsprechen können, jedoch nicht müssen. Ich will diesen Deutungen nicht widersprechen, ihnen jedoch – gemäß der Intention meines Buchs – Beethovens Suche nach einem »neuen Weg« aus einem anderen Blickwinkel nachzeichnen, nämlich im Zeichen der Empfehlung Schubarts, ein Komponist müsse die Ichheit aus sich heraustreiben. Und bewusst übergehe ich hier die Beethoven in den Mund gelegte, von mir jedoch oben kommentierte Äußerung »Lesen Sie nur Shakespeare’s Sturm!«. In diesem Kontext geht es mir nämlich nicht um eine programmatische Deutung von op. 31,2, wie immer diese auch aussehen könnte.11

Natürlich kann ein Künstler auch im Zuge prozesshaften Komponierens seine Ichheit aus sich heraustreiben. Gleichwohl spricht aus Beethovens Werken eine »Ichheit«, die von Musikhörern deutlicher und mit mehr Identifikation wahrgenommen wird als verborgene motivisch-thematische Zusammenhänge.

Es würde Sinn ergeben, dieser »Ichheit« schon in Werken, die der Sturm-Sonate vorausgehen, nachzuspüren, da es sich ja um einen höchst dehnbaren Begriff handelt. Drei Gründe sprechen jedoch dafür, mit diesem Werk einzusetzen. Zum einen bezieht sich Czernys Erinnerung auf die Klaviersonaten op. 31. Zum anderen nimmt Schindlers Frage nach einem »Schlüssel« ausdrücklich Bezug auf die Sturm-Sonate und die Appassionata op. 57. Zum dritten – und das ist das Wichtigste – zeigt vor allem der 1. Satz der Sturm-Sonate merklicher als alle anderen Werke Beethovens zuvor Momente eines »neuen Wegs«. Diese manifestieren sich in zwei Erscheinungen, auf die ich mich hier konzentriere und unter dem Aspekt »die Ichheit aus sich heraustreiben« betrachte. Es geht um den charakteristischen Satzanfang:


und um die beiden aus dem Rahmen fallenden Rezitative aus der »Durchführung«:



Die Vorstellung eines vorab sich selbst repräsentierenden Rhapsoden, die Schubarts Appell an die Ichheit des Komponisten nahelegt, wird am Anfang der Sturm-Sonate eindrücklich umgesetzt: Vor Beginn seines Vortrags spielt sich der Sänger auf seinem Instrument ein, im Arpeggio des Largos prüft er dessen Stimmung, im anschließenden Allegro die Geläufigkeit seiner Finger. Es besteht kein Anlass, diese Deutung einfältig und eines Beethoven unwürdig finden; sie ist vielmehr eine plausible Basis für tiefer gehende Deutungen.

Diese könnten bei der Vorstellung einsetzen, man müsse den Beginn des Satzes nicht zwangsläufig als feste Themengestalt wahrnehmen, könne ihn vielmehr als ein in kürzester Zeit sich veränderndes Ereignis deuten – oder präziser: als Abfolge zweier auf einander bezogener, jedoch höchst unterschiedlicher Ereignisse. Auf engstem Raum dehnt sich und hastet die Zeit. Das gleicht einer Erinnerungsspur, die ich in einer älteren Arbeit metaphorisch als das Augenaufschlagen und anschließendes Strampeln des Säuglings gedeutet habe, also als eine Art elementarer Erfahrung von Zeit.12

Um etwas konkreter zu werden, könnte ich an den kleinen Ludwig van Beethoven denken, der von einem Nachbarn dabei beobachtet wird, wie er sinnend aus dem Schlafzimmerfenster schaut und dem Besucher mitteilt, er sei gerade mit »so schönen, tiefen Gedanken beschäftigt«, dass er sich nicht stören lassen wolle.13 Und ich könnte dazu fantasieren, dass der Junge im nächsten Augenblick zum Klavier rennt, um diese Gedanken in Töne zu fassen.

Solche Fantasien darf nach common sense nur ein Literat äußern, aber kein zünftiger Musikologe. Indessen liegt es mir fern, Beethoven hier eine äußere Realität zu unterstellen; nicht einmal seine innere Realität wage ich zu rekonstruieren. Vielmehr nehme ich die Haltung des Hörers ein, dem entsprechende Assoziationen – oder auch andere – kommen und der deshalb erlebt: Hier äußert sich ein Individuum in einer Weise, die markante Spuren menschlichen Verhaltens abbildet, also für die »Ichheit« des Komponisten steht.

Schon die gelegentlich »Raketenthema« genannten Anfangstakte von Beethovens erster gezählter Klaviersonate op. 2,1 stehen für eine solche Ichheit. Bereits auf sie könnten Schumanns Worte vom »jungen Beethoven« zutreffen, dem es »im Ballsaal […] zu eng und zu langweilig« geworden und der »lieber in’s Dunkle hinaus durch Dick und Dünn« gestürzt sei.14


Jedoch bleibt dieser Anfang trotz aller Charakteristik im Rahmen des Erwartbaren. Und es ist kein Zufall, dass man Beethoven ausgerechnet nach dem »Schlüssel« zur Sturm-Sonate und zur nicht viel später entstandenen Appassionata und somit zu Werken fragte, die in ungewohnter Weise ›gedankenvoll‹, für die Zeitgenossen vermutlich geradezu rätselhaft beginnen.

Zwar ist es unnötig, deshalb das mehr als ein Jahrhundert alte Beethoven-Buch von Paul Bekker zu bemühen, der angesichts des Arpeggios die Vorstellung einer »mystischen Tiefe« bemühte, der »eine gespenstische Erscheinung mit leisen Schritten nach oben tappend« entsteige.15 Sinnvoll ist es jedoch, den anthropologischen Horizont dieser Geste wahrzunehmen – schlicht deshalb, weil diese Geste nicht im Rahmen gewohnter musikalischer Gesten bleibt und sich darin deutlich von dem Beginn der Sonate op. 2,1 unterscheidet: Der Künstler schöpft nunmehr aus den Tiefen seiner Erfahrung; er stellt ein »Ich« nicht einfach vor, treibt es vielmehr in fast buchstäblichem Sinn aus sich heraus. Das ist der neue Weg; und dieser lässt sich gut mit dem Wort »prozesshaft« beschreiben, wenn man dabei nicht nur das abstrakt kompositionstechnische Moment im Auge hat, sondern den leib-seelischen Gesamtzusammenhang des In-der-Welt-Ankommens. Diesen kann und darf jeder Hörer für sich und gegebenenfalls ohne entsprechende Angebote von außen erleben.

Solches nenne ich – wie in dem Dialog mit Peter Schleuning ausgeführt – ein ganzheitliches Verständnis von Musik. Dieses impliziert auch ein Abrücken von der Vorstellung, man könne musikalische Verläufe verdinglicht wahrnehmen, wie es das Fachvokabular der Musikanalyse leicht suggeriert. Anstatt nur (!) von »Satzteilen« und von »Formverläufen« zu sprechen, müsste man sich klarmachen, das unser Laien-Ohr ganz anders hört, nämlich in Abfolgen, die es vor allem im Sinne leib-seelischer Prozesse wahrnimmt.

Wie noch merklicher an der Komposition der Eroica zu sehen, verweigert sich Beethovens »neuer Weg« zunehmend der Verdinglichung musikalischer Vorgänge. Und geradezu im Wortsinn gilt das für die beiden Rezitative, die der Komponist in den Kopfsatz der Sturm-Sonate einschaltet. Bezeichnet man die Formteile »Exposition«, »Durchführung« und »Reprise« hypothetisch als Dinge, so bricht in diese ›Dingwelt‹ die menschliche Stimme ein. Man muss nicht wissen, was diese Stimme sagt. Man muss meines Erachtens nicht einmal mit Laurence Kramer darüber spekulieren, ob sie feminin besetzt sei16, oder mit Christian Thorau, ob sie eine Reaktion des Subjektes auf »Negation des Subjekts durch die übermächtigen ›Sturmmusik‹« darstelle.17 Denn wir wissen nicht, was Beethovens Anspielung auf Skakespeares Sturm letztendlich bedeuten sollte.

Wesentlich ist hingegen Kramers Hinweis auf Rousseaus Protest gegen eine gnadenlose, subjektfeindliche Spielart der Aufklärung. Denn mit Rousseau hat der »neue Weg« unzweifelhaft etwas zu tun. Und es ist mehr als eine Marginalie, zu wissen, dass eben jener Carl Czerny, dem wir Beethovens Ausspruch über seinen »neuen Weg« verdanken, über den Komponisten als »jungen Mann« sagte: »Sein Charakter glich sehr dem von Jacques Rousseau.«18

Von Rousseau her gedacht, erhält der Sonaten-Satz in Gestalt der Rezitative eine persönliche Stimme; dieser gelingt es, das bedrohlich-straffe »Haupt«(?)-Thema, das ja in der Reprise nicht mehr auftaucht, aus seinem Gesichtsfeld zu verbannen. Man muss das nicht unbedingt so deuten; und schon gar nicht sollte man Beethoven unterstellen, es so gesehen zu haben. Zudem bleibt festzuhalten, dass hier kein erzählbares Programm zur Diskussion steht, dass es vielmehr um Denkformen musikalischer Gestaltung geht, die unmittelbare Entsprechungen im leib-seelischen Bereich haben.

Über Rousseau hinaus könnte man an Goethes Verständnis von der ebenso produktiven wie unberechenbaren Kraft des Dämonischen denken. Das Dämonische ist für Goethe ein gesetzmäßig nicht zu erfassendes Seinsmoment, nämlich »eine der moralischen Weltordnung wo nicht entgegengesetzte, doch sie durchkreuzende Macht, so daß man die eine für den Zettel, die andere für den Einschlag könnte gelten lassen«.19 Ein Vergleich aus der Webersprache, der sich mit der nötigen Phantasie auf die Situation im ersten Satz der Sturm-Sonate anwenden lässt: Dem »Zettel« – also dem längs in den Rahmen eingespannten Garn – entspricht das Schema des Sonatensatzes; die »Einschlag« genannten Querfäden stehen für die spontanen körpersprachlichen Impulse.20

Letztlich hinkt der Vergleich; denn das Notenbild von Beethovens Sonate erinnert an alles andere als an eine schlichte Webarbeit: Sie gleicht vielmehr einer aufwendigen Textur, deren Kompliziertheit einem Hörer, der vor allem auf die narrativen Züge der Musik, also auch auf den »Einschlag« achtet, freilich gar nicht bewusst wird. Doch so aufwendig die kompositorische Textur auch ist: Vor allem hinsichtlich der oben diskutierten Momente – Satzeröffnung und Rezitativeinschübe – ist ein Sich-zu-erkennen-Geben des kompositorischen Ichs festzustellen, das die Struktur des Sonatensatzes nicht nur formal, sondern auch gestisch angreift. Die herausragenden Ereignisse des Satzes sind diejenigen Elemente, die sich nicht oder nur schwer ins übliche Schema integrieren lassen. Und eben das ist der »neue Weg«: seine Ichheit akzentuiert gegen die Konvention durchsetzen. Und das Geniale an dem Satz ist, dass Beethoven diese Konvention nicht etwa ignoriert, sondern das Thema ›Ichheit heraustreiben versus Regeln befolgen‹ geradezu auskomponiert: Er macht die Norm sichtbar und unterläuft sie zugleich. Das hat kein anderer Komponist auch nur annähernd so überzeugend geschafft. Man ist an Tischsitten erinnert: Nur wenn die anderen manierlich speisen, fällt es auf, dass einer aus dem Rahmen fällt.

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