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Epiphanie: Das e-Moll-Thema im 1. Satz der Eroica

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Genauso wenig, wie es bei der Betrachtung der Sturm-Sonate um den Sturm ging, soll es sich im folgenden um das Thema »Napoleon« drehen, obwohl solches in anderem Zusammenhang seinen guten Sinne hätte. Ich führe stattdessen das Thema »Die Ichheit in der Musik heraustreiben« weiter. Mein Ausgangspunkt ist eine Äußerung des zu seiner Zeit angesehenen Musiktheoretikers August Halm, der auf die zitierte programmatische Deutung der Sturm-Sonate durch Paul Bekker mit der polemischen Frage reagierte:

Kann mir jemand sagen, wieso ein C-dur, und käme es noch so überraschend, den Ernst der Lage oder der Mahnung erhöht? Will man schon ein Gleichnis, so werfe man es nicht mit dem Sachlichen durcheinander. Ich bitte: ein Gespenst mit einer C-dur-Wendung!21

Derselbe Halm, der mit seinen Musikanalysen unbedingt bei der Sache bleiben will, nennt zur Zeit dieser Veröffentlichung in anderem Kontext das e-Moll-Thema aus dem 1. Satz der Eroica unverhohlen einen »Fremdkörper«. Zwar hält er seine Bemühungen, motivische Zusammenhänge zwischen diesem Thema und dem Hauptthema festzustellen, für erfolgreich genug, um von nichts anderem als einer »neuen und unerwarteten Erscheinung« ebendieses Thema sprechen und den Begriff »neues Thema« somit gar nicht in den Mund nehmen zu müssen. Doch trotz alledem »stört« ihn die e-Moll-Passage selbst nach wiederholtem Spielen und Hören: Der Eindruck »von etwas irgendwie Schadhaftem« will nicht weichen, »die Form […] ist nicht ganz in Ordnung«.22 Mit leichtem Schmunzeln registriert man, dass Halm dieses Statement ausgerechnet unter der Überschrift »Über den Wert musikalischer Analysen« abgibt; und man darf vermuten, dass heutige Analytiker sich kaum ähnlich respektlos über den Komponisten Beethoven äußern würden.


Gleichwohl sind sie deshalb nicht aus der Bredouille. So hat der Autor des Eroica-Kapitels im 2009 erschienenen Beethoven-Handbuch einige Mühe, das Erscheinen des e-Moll-Themas als schlüssige Konsequenz eines übergeordneten »Gestaltungsprozesses« nachzuweisen. Vorsichtshalber vermeidet er den Begriff »Thema«, um stattdessen von einer »lyrischen Zone« mit einer neuen »Motivgestalt« zu sprechen.23 Und in der Tat gelingt es Konrad Küster plausibler als einst August Halm, diesbezügliche Zusammenhänge darzustellen. Das ist im Blick auf Beethovens musikdenkerische Potenzen nicht verwunderlich; auch muss es die nachschöpferische Leistung des Analytikers nicht schmälern, dass man vieles so, aber auch anders deuten kann. Unfassbar ist für mich jedoch, dass bei all dem Begriffsgeschiebe das Momentum, das die e-Moll-Szene darstellt, vollkommen aus dem Blick gerät.

Keine Hörerin, kein Hörer muss sich bei dieser Stelle etwas denken; unser Unbewusstes mag mit ihrem emotionalen Gehalt auch ohne intellektuelle Reflexion klarkommen. Doch wenn man schon über diese Stelle reflektiert, so wäre es unangemessen, sich ihr lediglich mit taktischem Wissen nähern zu wollen, anstatt ihre Funktion im Satzganzen auch von der emotionalen Seite her zu betrachten. Hier soll das unter dem Aspekt der »Epiphanie« geschehen. Umberto Eco hat als Beispiel für »Epiphanie« auf eine Szene aus James Joyce’ Ein Porträt des Künstlers als junger Mann verwiesen, in der sich Stephen mit einem Daedalus identifiziert, der falkengleich über den See der Sonne entgegenfliegt: »Die sinnliche Assoziation, zunächst durch die Stimme, die von ›jenseits der Welt‹ zu kommen scheint, gegeben, ereignet sich in einer ›zeitlosen‹ Zeit.«24

Mit der Vorstellung einer »Stimme, die von ›jenseits der Welt‹ zu kommen scheint«, sind wir bei dem e-Moll-Thema der Eroica. Nach Ausweis der Skizzen zählte dieses zu den frühen Einfällen Beethovens, der den Kopfsatz der Eroica womöglich – zugespitzt und hypothetisch formuliert – auf dieses Ereignis hin konzipieren wollte. Es ist zweitrangig, ob man das Thema mit der »innerlich vernommenen höheren Stimme« identifiziert, von der das potenzielle Libretto zu dem von Beethoven vertonten Ballett Die Geschöpfe des Prometheus spricht, ob man die Eroica somit als Prometheus-Sinfonie deutet. Wesentlich ist vielmehr, dass man überhaupt vom Auftritt einer Stimme spricht, die das Continuum der Erzählzeit aufsprengt. Diese Stimme ist den oben beschriebenen Rezitativen aus der Sturm-Sonate vergleichbar – mit dem Unterschied – dass es sich im Fall der Eroica um die Stimme der Oboe handelt, die man seit jeher dem Orgelregister vox humana zugeordnet hat (dazu mehr im folgenden Abschnitt über die Fünfte). Und dass es sich diesmal nicht um einen Ausdruck der Klage, sondern um den des Trostes oder des Zuspruchs handelt.

Um August Halms Metapher vom »Fremdkörper« aufzugreifen: Handelt es sich womöglich um einen »Fremdkörper« ganz anderer Art, nämlich um die Stimme aus einer anderen Welt?

Wolfgang Robert Griepenkerl schildert in seiner Novelle Das Musikfest oder die Beethovener von 1838 eine Probe des 1. Satzes der Eroica, in der sich die Musik für die anwesenden Hörer als nicht beherrschbar erweist. Kurz vor dem Eintritt des e-Moll-Themas (T. 248 ff.) ziehen die tiefen Streicher unter Führung des Kontrabassisten Hitzig

von ihrer A Saite ein so ungeheures H herunter, während die zweiten Geigen mit der None trotzten, daß das ganze Auditorium mitten hinein in diesen Riß durch die Rechnung eines Jahrhunderts ein brausendes Hurrah schrie […] dies war Pindar, der dithyrambisch stürmende Pindar des neunzehnten Jahrhunderts.25

Obwohl Griepenkerl sich hier vor allem für die herben Dissonanzen interessiert, die dem e-Moll-Thema vorausgehen, ist seine fantastische Darstellung höchst aufschlussreich: Er beschreibt keine schlichte dramatische Steigerung, sondern – mit dem Hinweis auf Pindar – Zustände höchster seherischer Erregung, die sich in den Sforzato-Schlägen des Orchesters als geradezu körperlich spür- und sichtbare Zuckungen äußern. Diese Erregungen spiegeln ein Außer-sich-Sein, das der erlösenden Epiphanie des e-Moll-Themas vorangeht – mit Karl Heinz Bohrer gesprochen: dem Eintritt in eine »zeitlose Zeit«. In diesem Kontext muss man nicht wissen, was geschieht, sondern dass es geschieht.

Dieser Gedanke führt zurück zur Metapher vom »neuen Weg« Beethovens. Dessen Konversationshefte enthalten die Frage eines unbekannten Besuchers: »Heißt das nicht Handeln bey Ihnen: Componiren?«26 Natürlich lässt sich jederart Komponieren als Handeln verstehen. Vor dem Hintergrund des »Heiligenstädter Testaments« geht es jedoch um mehr. Zugespitzt gesagt: Komponieren ersetzt Handeln. Der Beethoven des »Heiligenstädter Testaments« gibt sich als ein Verzweifelter, der mit dem Gedanken spielt, sich das Leben zu nehmen. Sinnvoll scheint ihm dieses empirische Leben überhaupt nur, sofern er es in ein »edles, besseres«,27 nämlich in die Kunst einbringen und demgemäß »handeln« kann.

Dies geschieht in einem Werk wie der Eroica auf einzigartige Weise: Der Komponist setzt seine Lebensdramatik – nicht sein empirisches Lebensdrama – in Musik um. Vergleichbares mag man zwar schon in die Musik vor Beethoven hineindeuten; jedoch geschieht es dort, wenn überhaupt, vor dem Hintergrund einer konventionellen Affektenlehre oder musikalischen Charakteristik. Dem gegenüber zeigt sich die neue Ichheit in bestimmten, unverwechselbaren musikalischen Momenten und nicht etwa in einer bloßen Stimmung oder einem typischen Stimmungswechsel. Im sogenannten »Petterschen Skizzenbuch« findet sich eine Eintragung Beethovens folgenden Wortlauts:

d[es] g[leichen] sollten anders als die Miserablen Enharmonischen ausweichungen, die jeder schul Miserabilis machen kann, sie sollen – Wircklich eine Veränderung in jedem [durchgestrichen: wahrnehmenden] hörenden hervorbringen.28

Es lohnt, eine solche Äußerung ernstzunehmen: Dass ein Komponist die Kunst der enharmonischen Ausweichung beherrscht, hat nichts zu bedeuten, wenn diese dem Hörer nicht den Eindruck vermitteln kann, er nehme eine »wirkliche Veränderung« wahr. Das aber lässt darauf schließen, dass der Künstler beim Komponieren »wirklichen« Veränderungen seiner selbst nachspürt. Diese ereignen sich etwa, wenn ein e-Moll-Thema innerhalb einer Es-Dur-Sinfonie auftaucht – übrigens als das erste ›richtige‹ Thema der Sinfonie, jedoch zugleich als eines, das wegen seiner liedhaften Formung kaum für thematische ›Arbeit‹ geeignet ist und sich deshalb unwiderruflich als ›höhere Stimme‹ (»es« erhöht sich zu »e«) empfiehlt. Die Genugtuung des Fachanalytikers darüber, dass er die Prozesshaftigkeit des kompositorischen Kontextes der e-Moll-Szene darzutun vermag, darf dem Hörer nicht das Recht abstreiten, bevorzugt all die Ereignisse wahrzunehmen, die sich solcher Prozesshaftigkeit zwar strukturell fügen mögen, jedoch im Erleben des Hörers quer zu ihr stehen. Wie schon der Terminus »Epiphanie« andeutet, geht es hier um ein Moment von Transzendenz, nämlich um die Überschreitung einer Grenze zwischen rational Erklärbarem und Überwirklichem.

Ein weiteres unter vielen anderen Beispielen aus der Eroica ist der vermeintlich verfrühte Horneinsatz vor Beginn der Reprise des ersten Satzes. Zwar lässt sich beobachten, dass dieser Horneinsatz in den nachfolgenden Takten insofern ›strukturell‹ aufgefangen wird, als sich das Horn nunmehr mit einem erneuten Einsatz in F-Dur, der dann nach Des-Dur abgebogen wird, wichtig tun kann: Die Takte 394 bis 398 als Einheit betrachtet, könnte es so aussehen, als sei das Ganze nur eine wohl kalkulierte Caprice. Hört man jedoch den verfrühten Horneinsatz als solchen, so darf man durchaus von einem Kollabieren des Zeitbewusstseins sprechen – oder mit Jürgen Stolzenberg von einer »Vorwegnahme der ungeheuren Spannung des Durchführungsteils, die wie eine Erlösung oder eine glückliche Befreiung aus den zuvor durchlebten Kämpfen und Antagonismen erfahren wird«.29

Für diesen Vorgang lassen sich unterschiedliche Metaphern finden: Da ist das ungeduldige Kind, das seinen Auftritt nicht abwarten kann und vorzeitig in die Szene platzt. Oder aber, den emphatischen Topos der Transzendenz aufgreifend: Da ist das Horn, das mit seinem pianissimo-Einsatz einer Stimme ›von jenseits‹ gleicht, die ihrerseits ungeduldig die Reprise ›einläuten‹ möchte. Das zum verfrühten Einsatz gedrängte Horn hat freilich nicht mit dem Wächter des Sonatensatz-Schemas gerechnet, der sich das Heft nicht aus der Hand nehmen lässt! Kann man den Konflikt zwischen gewünschter und verordneter Zeit, zwischen Wollen und Sollen, musikalisch besser ausdrücken, als es Beethoven gelingt? Wobei das Geniehafte der kompositorischen Formung darin besteht, dass beides zu seinem Recht kommt.

Das Thema des Hereinbruchs einer ›anderen Zeit‹ wird uns auch im folgenden Abschnitt beschäftigen.

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