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Plötzlichkeit: Vom Furor des Anfangens in der Fünften

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Da fragt sich einer: ›Wie lange noch will ich mich als Sinfoniker zurücknehmen? Wann wage ich endlich den großen Auftritt, den éclat gleich zu Anfang? Erste, Zweite und Vierte: Alle drei beginnen mit langsamen Einleitungen, als müsse ich mir den Auftritt erst verdienen. In der Eroica habe ich zwar schon mit dem ersten Akkord einen fulminanten Auftritt, doch bereits mit dem cis in Takt 7 beginnt der lange Weg bis hin zum sieghaften Finale. Nichts gegen Nummer eins bis vier. Doch in Nummer fünf muss mit dem ersten Ton der éclat her!‹

Und da ist er dann, der éclat:


Mit einer in ihrer Schroffheit unverwechselbaren Geste fortissimo mitten ins Geschehen hinein! Und von dort ohne Aufenthalt gleich weiter? Seit Beethovens Zeiten haben viele Generationen das Ereignishafte dieses Beginns wie auch der ganzen Sinfonie hervorgehoben. Cosima Wagner notierte ihrem Tagebuch:

Richard spricht beim Frühstück von der c-Moll-Symphonie, sagt, er habe viel über sie nachgedacht, es sei ihm, als ob da Beethoven plötzlich alles vom Musiker hätte ablegen wollen und wie ein großer Volksredner auftreten; in großen Zügen hätte er da gesprochen, gleichsam al fresco gemalt, alles musikalische Detail ausgelassen, was noch z. B. im Finale der Eroica so reich vorhanden wäre.30

Vermutlich hat Wagner den Ausspruch »So klopft das Schicksal an die Pforte«, den Anton Schindler als Äußerung Beethovens überliefert, nicht gekannt. Ich selbst halte ihn nicht von vornherein für eine Erfindung des eifrigen Adlatus, plädiere jedoch dafür, ihn in erster Linie als drastischen Hinweis auf die vom Komponisten intendierte Art der Ausführung zu verstehen:31 Das würde dafür sprechen, dass ihm die Dejà-vu-Erfahrung des Klopfens, die der Hörer machen sollte, über die Vorstellung eines sich autonom entwickelnden motivisch-thematischen Prozesses ging, also das körpersprachliche über das strukturelle Moment.

Der musikwissenschaftlichen Zunft deutscher Herkunft darf man mit der genannten Erinnerung des ja in der Tat unzuverlässigen Zeugen Schindler nicht kommen: Man empfindet die Rede vom »Schicksal« dort in der Regel als peinliches Haschen nach programmatischer Gewissheit. Freilich ist die Tatsache nicht aus der Welt zu schaffen, dass Beethoven selbst gern vom »Schicksal« sprach – so auch im »Heiligenstädter Testament«, das in zeitlicher Nähe zu den Vorarbeiten zur Fünften entstand. Schon von daher könnte es Sinn ergeben, diesen »Schicksals«-Kontext ernst zu nehmen. Ich will hier jedoch auf etwas anderes abheben, nämlich auf die im Untertitel meines Buches auftauchende Metapher des »Geistesblitzes«. Wann hat es zuvor in der Musik einen so fulminanten (wörtlich: blitzenden) Beginn eines Musikstücks gegeben? Und wann danach?

Gleichwohl wird man nach einem Studium der Literatur zur Fünften feststellen, dass sich die ›Profis‹ der musikwissenschaftlichen Strukturanalyse für diesen Geistesblitz kaum interessieren, solches vielmehr den ›Laien‹ überlassen. Sie selbst beschäftigen sich vor allem mit den »thematischen Prozessen«, die das »Klopf«- oder »Kopf«-Thema auslöst. Da kann man seine ganze Kunst zeigen, dem Komponisten auf die Schliche zu kommen. Nichts gegen diese Kunst! Peinlich ist höchstens, dass – wie Peter Gülke in der Tradition Richard Wagners bemerkt – »die Identität des Abgehandelten« nicht von Anfang bis Ende des Werks »gesichert« erscheint, dass es vielmehr »Wanderungen ins Ungewisse« gibt, dass die thematische Arbeit gelegentlich »zugunsten des Vorgänglichen«, also des aktuellen Ereignisses, zurückgestellt wird und dass das hymnische Finale eher ein »Auffangbecken« für »zuvor latent vorhanden Gewesenes« als das Resultat folgerichtiger thematischer Prozesse darstellt.32

Zurück zum Anfang der Sinfonie: Es macht Sinn, die Assoziation des Klopfens gänzlich beiseite zu lassen und sich stattdessen einer weiter gefassten Kategorie zu erinnern, die Karl Heinz Bohrer ins Zentrum seines literaturkritischen und ästhetischen Denkens gerückt hat: derjenigen des Jetzt, des Plötzlichen, der Epiphanie, des Schreckens. Wiederum ist nicht entscheidend, was geschieht, sondern dass es geschieht – im Sinne eines Ereignisses, das einen mit der Historie nicht mehr identischen Augenblick darstellt.33 Eines von Bohrers Beispielen ist der unvermutete Auftritt Napoleons vor seinen Generälen, als diese über die Strategie der bevorstehenden Schlacht parlieren. Der Korse habe nur die Worte »Du pain, des olives et du silence« gesprochen, mit der Linken die vor ihm ausgebreitete Landkarte in die passende Richtung geschoben und mit der Rechten auf den Punkt gedeutet, wo der Angriff zu beginnen habe. Damit sei die Sache entschieden gewesen; und in diesem »erhabenen«, von keiner Logik einzufangenden Moment des selbstreferentiell Phantastischen erlebt Bohrer die Größe der Geschichte.34

Man kann diesen Gedanken mühelos auf den Anfang von Beethovens Fünfter übertragen. Ohne der Bewunderung des Komponisten für Napoleon oder seines mutmaßlichen Ausspruchs »So klopft das Schicksal an die Pforte« gedenken zu müssen, nimmt der Hörer eine feldherrnhafte Geste wahr, die Beethovens Vorgängern noch nicht zur Verfügung gestanden hätte: Während die unkonventionellen Anfänge selbst einer Haydn-Sinfonie alsbald in traditionelleres Fahrwasser geraten, setzt Beethoven das mit der Historie nicht mehr identische, vielmehr einzig von ihm selbst herbeigeführte Jetzt in Szene – im Sinne einer letztendlich unerklärten, der Erklärung aber auch nicht bedürftigen Herrschergeste. So aufschlussreich es sein mag, den weiteren Weg des Eingangsmotivs mit den Augen des Strukturanalytikers zu verfolgen und damit der motivisch-thematischen Arbeit des Komponisten die nötige Reverenz zu erweisen, so produktiv könnte es sein, das selbstreferentiell phantastische Moment dieses Beginns als pures Zeichen auf sich wirken zu lassen.

Fraglos wäre Beethovens Genieblitz nichts wert, wenn er nicht als Ausgangspunkt für eine grandiose Komposition diente. Ebenso marginal wäre auch Napoleons Feldherrengeste, wenn sie nicht Auftakt zu einer großen Schlacht gewesen wäre. Ich habe also – noch einmal sei es gesagt – keinerlei Interesse, kluge Analysen des der Eingangsgeste abgewonnenen Tonsatzes abzuwerten. Vielmehr setze ich mich für die Interessen der Hörer ein – und damit für meine eigenen. Es macht einen großen Unterschied, ob ich postuliere: ›Aus einem banalen, viertönigen Einfall macht Beethoven einen gewaltig dahinstürmenden Satz oder gar eine ganze Sinfonie.‹ Oder ob ich mich von einem urplötzlich heranbrechenden numinosen Geschehen überwältigen lasse – zunächst einmal ohne alle weitere Erwartung.

Es gibt für diesen Vorgang ein schönes Beispiel in der klassischen Literatur: Die Peripetie in Schillers Wallenstein wird eingeleitet durch eine hochdramatische Stelle, zu der die Regiebemerkung lautet: »Es geschehen Schläge an die Tür« – »Schicksalsschläge«, wie der Literaturwissenschaftler Alfons Glück sie nennt. Auch im Wallenstein handelt es sich um ein symbolträchtiges Moment, das nicht weiter erklärt, sondern als ein quasi aus der Zeit herausgehobenes Zeichen in Szene gesetzt wird.

Man mag das Klopfen am Anfang der Fünften auch im Sinne Marcel Prousts als Déjà-vu verstehen, nämlich als ein ›Erinnern‹ an kollektiv gespeicherte, in die Existenz eingreifende Vorgänge. Und womöglich ist es nicht einmal unwichtig zu wissen, dass im 19. Jahrhundert das ›Tischrücken‹ oder ›Tischklopfen‹ en vogue war: Robert Schumann interessierte sich höchlichst dafür und forderte bei Gelegenheit von seinem Tisch das Klopfmotiv der Fünften. Dieses wurde »erst etwas langsam«, auf Nachfrage dann im »richtigen Tempo« geliefert.35

Der Komponist und Beethoven-Verehrer Schumann lässt das Klopfmotiv gleichsam aus einer anderen Welt zu uns dringen. Ohne diese fast magische Sicht übernehmen zu müssen, kommt man um das Thema »Weltbezug« nicht herum. Droht uns die Welt mit dem Klopfmotiv? Oder rufen wir mit ihm in die Welt hinein? Jedenfalls handelt es sich um ein besonderes In-Verbindung-Treten mit der Welt, wie es an ›normalen‹ Themen weniger deutlich wird.

Zu den Wundern der Musik gehört es, dass dieses Medium in Noten fest umrissen ist, sich gedanklich oder verbal jedoch nicht eindeutig fassen lässt. Linguistisch gesprochen: Für den Signifikanten, nämlich die genau definierte Tonfolge, gibt es kein eindeutiges Signifikat, also keinen festliegenden Sinn. Was diesen angeht, bleibt uns nur die Metapher.

Das muss nicht die Metapher des Klopfens sein. Wichtiger ist, das übergeordnete Moment an der Eingangsgeste der Fünften wahrzunehmen, nämlich das des Erschreckens in aktivem und passivem Sinne. Damit sind wir sogar als Musikologen wieder auf sicherem Boden, denn es gibt für diese Geste innerhalb der Musikgeschichte sowohl Vorbilder als auch Parallelen: Johann Sebastian Bach bedient sich zur Illustration der Worte »Warum wollt ihr erschrecken« im Weihnachtsoratorium eben dieses Motivs:


Franz Schubert verwendet es im Der Tod und das Mädchen zu den Worten: »Vorüber, ach, vorüber! geh’ wilder Knochenmann!« und in der Forelle zu der Verszeile: »und eh’ ich es gedacht«.



Das numinose Klopfen des Anfangsmotivs – es möge bedeuten, was es wolle – soll man körperlich spüren und als ein unerwartetes Naturereignis wahrnehmen – jedoch vor dem Horizont einer Kunst, die das Materielle zum Leuchten bringt und ihm Einmaligkeit verleiht. Schwärmerisch, jedoch keineswegs unsympathisch, postuliert George Steiner, dass es »Anliegen und Privileg des Ästhetischen« sei, »das Kontinuum zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit, zwischen Materie und Geist, zwischen dem Mensch und dem ›anderen‹ zu erleuchteter Gegenwart zu erwecken«.36 Die mystischen Momente dieser Deutung sind unverkennbar. Doch sind nicht Musik und Mystik einander verschwistert?

Diese Frage stellt sich auch weiterhin, wenn man den Verlauf der Sinfonie betrachtet. So stößt man im Kopfsatz im Umfeld der Reprise auf ein Oboensolo, das diesem Satz – darin dem anfänglichen Klopfmotiv vergleichbar – als gleichsam exterritoriales Wahrzeichen vorgegeben ist und außerhalb des eigentlichen motivisch-thematischen Prozesses steht. Schon Richard Wagner beklagte, dass diese »ergreifende Kadenz« im Orchester üblicherweise »verlegen heruntergeblasen« werde, während ihm selbst von hier aus »ein den ganzen Satz belebendes neues Verständniß« aufgegangen sei.37


Was meint Wagner damit? Augenscheinlich stellt Beethoven den harschen, »von außen« hereindringenden Tönen des Klopfmotivs die Antwort einer »inneren« Stimme entgegen. Diese ist, wie gesagt, der Oboe anvertraut, seit jeher Ersatz, ja Synonym für die menschliche Stimme: Nicht von ungefähr heißt sie als Orgelregister vox humana. In Beethovens Musik vertritt der Gesang der Oboe in unterschiedlichen Nuancierungen die Idee der Humanität – so am Schluss des 1. Klavierkonzerts. Bereits dort ist jener emphatisch an die Menschheit appellierende – erst beseligte, dann festliche – Ton hörbar, den Beethoven künftig immer wieder anschlagen wird.

Mit dem Seufzer der Hoffnung macht der Komponist deutlich, dass er das unerbittlich drängende Klopfmotiv nicht ungeschoren auf die Zielgerade der Reprise schicken, ihm vielmehr einen Antipoden entgegenstellen will. Dieser trägt freilich Züge kreatürlichen Leidens, nicht solche tapferer Selbstbehauptung. Gleichwohl hat der kurze Moment etwas von Steiners Vorstellung einer »erleuchteten« Gegenwart, die sich dem Prozessdenken der traditionellen Analyse entzieht.

Freilich kennt die Fünfte auch einen Prozess: Er führt über das Scherzo zum sieghaften Finale, ist freilich alles andere als ein Musterbeispiel für motivisch-thematische Konsequenz. In dem mysteriös-spannungsvollen Übergang in das Finale, den Louis Spohr das einzig Interessante an der ganzen Sinfonie fand, übernimmt nämlich die Pauke die Rolle eines numinos sprechenden Instruments und damit eine Aufgabe, wie man sie bisher bestenfalls aus der wortgebundenen Musik kennt. Ist das ›Ende des Tunnels‹ erreicht und der Weg zum definitiven éclat triomphal frei, so scheint sich eine Bühne aufzutun, die sich schlagartig solcherart erhellt, dass man die mit Piccoloflöte, drei Posaunen und Kontrafagott zum Orchester hinzutretenden Militärmusiker nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen vermeint.

Schon E. T. A. Hoffmann hat sich 1810 in seiner Rezension der Fünften – der ersten bedeutenden Besprechung dieses Werks überhaupt – für derlei zeichenhafte Momente interessiert. Der Zeitgenosse sieht in Beethoven einen modernen Weltenschöpfer, der seine phantastischen Spuren am Kunsthimmel hinterlässt. Demgemäß spricht er vom »Ungeheueren und Unermeßlichen« dieser Musik und davon, dass sie »die Hebel des Schauers, der Furcht, des Entsetzens, des Schmerzes« bewege. Das dissonierende » der Pauke in der Überleitung vom Scherzo zum Finale erinnert ihn an eine »Geisterfurcht« erregende, »fremde, furchtbare Stimme«, während der Eintritt dieses Finales »wie ein strahlendes, blendendes Sonnenlicht« wirke, »das plötzlich die tiefe Nacht erleuchte«.38

Ich betrachte solche Äußerungen nicht als sachfremde poetische Ergüsse, die bestenfalls einem romantischen Dichter gebühren, sondern als weiterhin aktuelle Beiträge zum Beethoven-Diskurs. Sie bilden das notwendige Korrektiv zu dem Glauben, man könne dem Komponisten durch nackte Formanalysen auf die Schliche kommen. Freilich hat man wenig davon, sie nur zu lesen. Sie müssten sich vielmehr mit dem Musikerleben durchdringen und Hörerinnen und Hörer zu eigenen Fantasien ermutigen.

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