Читать книгу Johannas fliegende Fische - Martin Jaeger - Страница 5
Bulgakov
ОглавлениеDer Mann mit dem blassen Gesicht parkt die dunkle Limousine in einer Nebenstraße. Schwarzer Hut, Sonnenbrille, zwei Blöcke wird er zu Fuß gehen. Er mag das leichte Kribbeln in der Wirbelsäule, jedes Mal vor der Erledigung eines Auftrags überfällt es ihn. In der letzten Zeit rätselt er, woran das liegen könnte.
Ein letztes Mal überprüft er den Sitz des Gummigurts unter seinem Hemd. In Herzhöhe brummt der Taser. Seine geübte Hand berührt die schwarze Anzughose an der Seitennaht, nickt beruhigt, als nach dem Ertasten des Schiebereglers das Lämpchen hinter dem Satin des Oberhemds hellgrün Bereitschaft signalisiert. Gefüllte Akkus, gut. Noch nie haben ihn seine Thorium-Batterien im Stich gelassen. Sie werden auch dann noch funktionieren, wenn er einmal nicht mehr ist.
Die Waffe hat er mit Hingabe entwickelt. Schließlich spielt es keine Rolle, ob das erhebende Gefühl den Kriechströmen der Elektronik geschuldet ist, einer bewusst zarten Isolierung des Gehäuses, oder dem natürlichen Lampenfieber, kurz bevor er den Puls-Schocker benutzen wird. Gelegenheiten, eine Situation zu dominieren, mithilfe des elektronischen Begleiters eine eindringliche Atmosphäre zu verbreiten, hat der Texaner mit dem fahlen Teint nur selten ausgelassen.
Er hält inne, bleibt stehen und dreht sich um. Niemand folgt ihm, außer zwei Passanten, die eilig an ihm vorbeiziehen, eindrucksvoll zur Seite blicken, ihn auf keinen Fall wahrnehmen wollen. Gut so.
Dass er sich auf der Arbeit meistens in einer elektrischen Aura aufhält, erschwert es normalen Menschen, ihn als vollkommenes biologisches Wesen zu identifizieren. Dass er auf Zeitgenossen wirkt wie ein Bestatter – schwarzer Anzug, was sonst? – flößt der Umwelt automatisch Respekt ein, immer noch. Jeder, der seiner auch nur für einen Moment ansichtig wird, zieht es vor, ihn umgehend wieder aus den Erinnerungen zu streichen. Das lief bereits drüben in der Heimat so. Die Antwort auf dieses Kontaktproblem ist ganz einfach und eine Frage:
Wer schaut schon gern dem Tod in die Augen?
Noch ist es still an diesem strahlenden Grazer Montagmorgen. Ein dünnes Lächeln umspielt sein Gesicht beim Anblick der Technischen Universität. Einen Moment lang scannt er das dreistöckige Gebäude mit offenem Mund. Scharf streift die Morgensonne den Sandstein, verleiht der Anlage ein respektables Aussehen.
Der neue Mitarbeiter aus Berlin hatte ein passables Dossier über die TU und den Leiter des physikalischen Instituts vorgelegt. Der Bericht, eine Mischung aus Expertise und anekdotischen Details, hat ihn ausreichend vorbereitet. Es geht einfach nichts über intelligente Fährtensucher. Möglicherweise ist der Deutsche längerfristig von Nutzen. Verlässliche Zuarbeiter erleichtern das stetig anwachsende Arbeitsvolumen.
Die TU hat es in sich. Viele Talente und Genies brachte die Institution in den letzten vier Jahrhunderten hervor, inklusive Nobelpreisträgern. Immer wieder bringt sich das Land in eine Position, die es ermöglicht, den Fluss der Geschichte in eine andere als die vorgesehene Bahn zu lenken. Es gilt nun, dem einen Riegel vorzuschieben. Nach den statistischen Erhebungen der Corporation quillt der kreative Geist hier etwa alle 70 Jahre über, zeugt und gebiert - eventuell unabsichtlich, dafür um so zweckvoller – Wunderknaben.
Man kann sich hier bei Bedarf sehr klein machen, dabei gleichzeitig Erstaunliches zutage fördern, so geduldig wie akribisch Talente und unberechenbare Erfindungen hervorbringen.
Deswegen ist er hier.
Oberhalb des dritten Stockwerks, unmittelbar unter der Balustrade, die auf die Kuppel zuläuft, entdeckt er das erwartete offene Fenster neben der Feuerleiter, die Bibliothek.
Eine Straßenbahn nähert sich quietschend, lenkt seine Schritte in Richtung Eingangsportal. Direkt vor der Tür steht das Fahrrad des Professors. Zielobjekt erfasst.
Er berührt den Ledersattel, erfühlt Restwärme, schließt daraus, dass der Auftrag sich seit maximal zehn Minuten im Haus aufhält. Der Physiker gilt als Frühaufsteher, ist in der Regel zeitig auf den Beinen. Insbesondere, wenn eine Demonstration neuer physikalischer Errungenschaften ansteht, wie in der kommenden Woche, schläft er kaum, wie dem Dossier des Berliners zu entnehmen war.
Zu der nächsten Präsentation wird es aber leider nicht mehr kommen, sinniert der Mann mit der unsichtbaren Strahlenwaffe, lächelt melancholisch. Einen Moment verharrt er unschlüssig an der Pforte des Instituts, horcht noch einmal in sich hinein, vergewissert sich seiner moralischen Integrität und der Notwendigkeit dieses Auftrags. Dann klingelt er.
Durch die Glastür sieht er, wie sich schlurfend eine unscheinbare männliche Person in grauem Kittel nähert. Merkwürdiges Volk in diesem Land. Misstrauisch nimmt ihn einer jener österreichischen Individualisten fortgeschrittenen Alters ins Auge, ein Kauz, ein in die Jahre gekommener Greis mit rotem Vollbart, in Wollsocken und Holzschuhen. Einer für das Altenteil.
«Freundlichkeitsmodus», assoziiert Scheck, berührt den Schieberegler dort, wo die Texaner früher ihren Colt trugen. Während er mit dem linken Arm eine leicht ausholende Bewegung ausführt, um auf seine Armbanduhr zu schauen, zieht die rechte Hand den Regler. Ein wenig mütterliche Atmosphäre wird das Unikum ruhig- sowie kooperativ einstellen.
«Sagen Sie bitte, wo finde ich den Institutsleiter, Professor Bulgakov, ich habe einen Termin.»
Der untersetzte Hausmeister lugt flüchtig zu ihm auf, blickt weg, zupft an seinem feuerroten Bart, mustert ihn nochmals, späht über die Schulter zu dem Fahrrad, tritt einen Schritt beiseite, öffnet die Tür, lässt ihn schließlich ein. Brabbelt Unverständliches. In derben Holzpantinen stapft der bärtige Rentner voraus. Klok, klok, klok, hallen die holländischen Clogs durch das Foyer. Indiskret, viel zu laut. Stumm läuft der Mann in Schwarz hinter dem Faktotum her, bewegt sich zielstrebig auf den Lift zu, beobachtet aufmerksam die Wirkung seines liebenswürdigsten Energiefeldes. Na, nun sag schon.
«Um diese Uhrzeit ist der Professor normalerweise in der Bibliothek, der Herr», nuschelt der Alte mit einem eigenwilligen Akzent.
«Drittes Obergeschoss, bitte sehr. Die Bücherei befindet sich grad‘ am Ausgang des Fahrstuhls, gegenüber.»
Mit einer unwirschen Handbewegung deutet der Portier auf das Schild am Aufzug, tippt sich kurz an die Stirn, dreht auf den Absätzen um und entschwindet dem Blickfeld.
Einen flüchtigen Moment überlegt Scheck, ob der Rotbartgreis zu einem Problem werden könnte, verwirft den Gedanken schnell als abseitig. Auf die Frequenzen des Pulsgeräts ist Verlass. Er erkennt es am Gang der Leute. Der Pförtner schwankt leicht. So ist es richtig.
Dritter Stock. Scheck tritt aus dem Fahrstuhl. Aus der geöffneten Tür der Fachbücherei heraus hört er jemanden hantieren. Performance, jetzt. Den Taser stellt er auf halbe Leistung, betritt leise die Bücherei.
Der Institutsleiter steht vornübergebeugt am Lesetisch. Er wirkt jünger als vermutet. Eine blonde Locke fällt ihm in die Stirn. Konzentriert starrt er auf einen Text in einem kleinen Lederband, blickt irritiert auf, als er den Eindringling bemerkt.
«Ja, bitte. Was kann ich für Sie tun?»
«Herr Professor Bulgakov, einen schön guten Morgen. Mein Name ist Scheck, aber das tut nichts zur Sache. Wir – genau genommen Sie – unternehmen nun einen Gang!»
Mit gemessenen Schritten nähert sich Scheck dem erschrockenen Wissenschaftler, visiert ihn an, zieht dabei den Regler hoch, achtet darauf, ihn frontal in der Herzgegend zu treffen.
Jeden Zentimeter, den er auf ihn zugeht, verfärbt sich das Gesicht des Physikers mehr. Der Kopf wird rot, röter, Bulgakovs Gesichtszüge verzerren sich zu einer Grimasse, er schwankt bedrohlich. Schweißperlen treten auf seine Stirn, er versucht zu sprechen, bringt nur ein Röcheln hervor. Mit jedem Meter, den der Mörder näher kommt, wechselt sein Ausdruck stärker zwischen Schmerz und Erstaunen. Er will sprechen, bringt keinen Ton hervor, weicht beständig weiter zurück in Richtung Fenster.
So ist es recht, denkt Scheck. Bulgakov presst die linke Hand auf die Brust. Ungläubig befühlt er sein schmerzend brennendes Herz, das Schecks Hightech-Strahler in die finale Schockstarre zwingt. Die rechte Hand des Professors streckt sich verzweifelt nach hinten Richtung Fensterkreuz, will durch das offene Fenster das Geländer der Feuertreppe erreichen.
«Tut mir irgendwie leid um Sie …», wispert Scheck wie in einer Gebetsformel. Er sagt es eher zu sich als z seinem Opfer, berührt wie nebenbei die Hosennaht, stellt die Strahlenwaffe auf volle Leistung, «aber nur ein wenig. Es ist nichts Persönliches, verstehen Sie? Nein, wahrscheinlich nicht.»
Von der Wucht der Strahlen getroffen, prallt der Professor gegen den Fensterrahmen.
Scheck denkt noch ein leises «Und jetzt … springen, bitte.»
Im Nu hat die elektronische Welle Bulgakov erfasst. Der Physiker verliert das Gleichgewicht, fällt beim Zurückweichen in einer wie absichtsvoll wirkenden, eleganten Rolle rückwärts seitlich der Feuertreppe aus Schecks Sichtfeld heraus. Der hält nur das Ohr in Richtung Fensteröffnung, die Hand an der Ohrmuschel. Mit einem zustimmenden Nicken registriert er, ein Klatschen und ein gurgelndes Röcheln auf dem Zufahrtsweg des Instituts, gleich neben dem Fahrrad.
Vorsichtig nähert sich Scheck dem Fensterkreuz. Mit sachkundigem Blick begutachtet er das Resultat seiner Arbeit.
Auf dem Asphalt liegt der verendende Leib des Akademikers, alle Viere von sich gestreckt. Wenn Scheck die Augen halb zukneift und blinzelt, kann er sehen, wie die Herzgegend Bulgakovs leuchtet. Wie schön, dass er in die Waffe noch ein Erleuchtungselement eingebaut hat. Da ist das Erstaunen größer als der Schock. Außerdem wird es Analytiker und Kriminologen ratlos hinterlassen. So soll es sein. Er ist zufrieden.
Seufzend raunt er ein «Hmmh» in sich hinein. Dann wendet er sich vom Fenster ab, vergewissert sich auf dem Lesetisch der aktuellen Lektüre des Wissenschaftlers:
James Clerk Maxwell, Private Aufzeichnungen zur Erforschung der Schwerkraft
«Nanana, Professore, wer wird denn? Wer macht denn so etwas? Hier wird nicht geschwebt», schüttelt er den Kopf, schaut auf den Buchrücken mit der Signatur und stellt das dünne Bändchen an die korrekte Stelle in die Reihe der Regale mit den Faksimiles des Mathematikers Maxwell zurück. Für heute hat die Erdanziehung erst einmal gesiegt. Auf jeden Fall.
Durch das Treppenhaus schleicht der Texaner ins Foyer hinunter, verlässt das Institut über den Seiteneingang.
In der Befriedigung über sein Werk entgeht ihm völlig, dass der Portier aus der Hausmeisterkabine ihm mit einem stummen, beinahe trotzigen Ausdruck, hinterherblickt.