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Ramsau

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Ein Überlandbus kämpft sich am Vormittag die Serpentinen bergan. Zweieinhalb Stunden dauert die Reise von Graz Richtung Nordwesten bis in das Gebiet des majestätischen Dachsteins, dem höchsten Gipfel der Steiermark. Je nach Saison ist der Omnibus mit Alteingesessenen oder Urlaubsreisenden besetzt, die einen Ausflug auf den Berg unternehmen wollen, der auf der Spitze in knapp 3000m Höhe selbst im Sommer Schnee verheißt. Feriengäste suchen gern die Nähe des imposanten Berges. Doch nicht jeder, der ihn sucht, findet ihn auch sofort, denn er hat bisweilen die Angewohnheit, sich dem Auge des Betrachters durch einen milchigen Nebelschleier zu entziehen, als ob er gerade nicht zugegen wäre.

Vorn im Bus hocken Touristengruppen; Deutsche, Amerikaner und Japaner, die sich ungewöhnlich manierlich benehmen. Sie unterhalten sich gedämpft, versuchen mit geringem Geschick, wie bei einem Fahrgeschäft auf dem Jahrmarkt, ihre Körper den schlingernden Bewegungen des Transporters anzugleichen. Der Fahrer befährt Steigungen und Senken, breite wie schmale Straßen, mit derselben Gelassenheit, pumpt geschickt auf der ächzenden Kupplung herum, die sich immer nur in den Abfahrten ihrer Blähungen entledigen kann. Die neue Generation von Bussen wird bald kommen, freut sich der Fahrzeugführer, um sogleich wieder schnarrend die Ratschenbremsen zu betätigen, die einer besonderen Aufmerksamkeit bedürfen. Insbesondere in scharfen Kurven purzeln die Fahrgäste durcheinander wie die Kegel.

Heute hat sich ein Einheimischer zwischen die Touristen gemischt. Ganz hinten links in der vorletzten Reihe am Fenster sitzt, mehr, liegt ein alter Mann in seinem Sitz. Den gelben Strohhut auf dem Gesicht, scheint er zu schlafen. Auf der frisch rasierten Glatze kehren gerade die ersten rot-weißen Stoppeln zurück. Früher, so viel kann man an der käsig bis babyroten Gesichtsfarbe erkennen, muss er einen Bart getragen haben. Dort, wo er jetzt hinreist, möchte er einen ordentlichen Eindruck abgeben, korrekt, zivilisiert und vor allem anonym. Verborgen unter dem Sommerhut sucht er zwischen den Lücken des Flechtwerks den Berg, den jeder Eingeborene aus der steirischen Nationalhymne kennt und liebt. … Hoch vom Dachstein, wo der Aar noch haust. Lang nicht mehr gesehen, den Aar, den Adler. Warum nur beschleicht den stummen Alten immer wieder das Gefühl, es handele sich um eine Reise ohne Wiederkehr?

Passagiere steigen in den Bus. Routiniert wendet der alternde Handwerker den Kopf aus der Sichtlinie, zieht den Strohhut tief ins Gesicht, lässt sich weiter in den Sitz sinken, wirkt selbst wie ein lebendes Stück Transportgut.

War die Nachricht, die er Dekan Meyerhof auf dem Anrufbeantworter hinterließ, vielleicht zu lakonisch? Was sollte er denn sagen zum Tod eines Vorgesetzten, der unter den Kollegen und in der Öffentlichkeit so selbstverständlich wie voreilig als Selbstmord gehandelt wurde, obwohl er es wirklich besser wusste? Nein, er hatte der Polizei nichts von dem Mann in Schwarz erzählt, weil niemand ihm geglaubt hätte, überließ das Gerede lieber anderen. Er hatte stattdessen nur monoton wiederholt, er habe hinten im Hof gesessen, bis er Bulgakov hatte fallen hören. So war es ja auch.

Doch er kannte seinen Chef. Sechzehn Lenze lang hatten sie Schulter an Schulter gearbeitet: Bulgakov war die beste Investition des Instituts in die Zukunft gewesen, die man Ende der 60er Jahre machen konnte.

Erst zehn Jahre später, da war er auch schon alt und Hanneken noch nicht auf der Welt, hatte er den begabten Physiker kennen- und schätzen gelernt. Dekan Meyerhof hatte gut daran getan, sie beide zusammen zu stecken, denn nur in erfolgreicher Kooperation bestand eine realistische Chance, die komplexen Entwürfe des aus Osteuropa eingewanderten Erfinders auf die Füße zu stellen: Bulgakov in der Theorie, van Galten in der Praxis.

Vorbei. Hör auf mit der Nostalgie, Cord, spricht es mit ihm. Und wer ist überhaupt Cord? Ab heute heißt du Max.

Krachend schaltet der Fahrer die Gänge herunter.

Der Vergaser muss neu eingestellt werden. Auch die Bremsbacken von den Ratschenbremsen knirschen verbraucht und könnten gut ein paar frische Beläge gebrauchen. Irgendwann benötigen sie neue Busse in der Ramsau, wenn das mit dem Tourismus etwas werden soll.

«Halt den Mund, Max, dich geht das nichts mehr an. Gar nichts. Kümmere dich um deine eigenen Sachen.»

Eine alte Frau mit Kopftuch humpelt durch den Bus, hangelt sich mit beiden Armen an den Sitzen vorwärts ziehend auf ihn zu, platziert sich neben ihn, stellt ihre Einkaufstasche ungefragt zwischen seine Beine, blickt ihn an wie einen Bekannten, erwartet keine Antwort oder Reaktion seinerseits.

Bulgakov war bekannt wie ein bunter Hund. Nicht, dass er sich eitel exhibitionieren wollte, - Grund hätte er gehabt - aber genau dies schien der sicherste Weg zu sein: Je mehr alle wussten von den immer vorhandenen, doch ungenutzten Energien des Äthers, desto besser. So lautete die vollmundige Devise des Querkopfes. Das war der Plan. So hatte Bulgakov in liebreizend österreichischem Dialekt mit Akzent begonnen, Interviews zu geben, sich der Presse und anderen Forschern gegenüber zu öffnen. Cord hatte es aus dem Hintergrund heraus unterstützt. Gekonnt hielt er sich selbst dabei im Hintergrund – feige, wie er war.

Er streift den Hut vom Gesicht. Ein stöhnendes Seufzen entweicht ihm und die Bauersfrau neben ihm zieht ein Augenlid hoch, schaut ihn mit einem fragenden Gesichtsausdruck an. Er linst kurz zurück, nickt, winkt dann ab. Der Omnibus nimmt eine Kurve. Es ist gleichzeitig sonnig und kalt heute Morgen. Heiß oder kalt?

Ein murmelndes Raunen der Touristen geht durch den Bus, als das Dachsteinmassiv in das Blickfeld rückt. Majestätisch und nebelverhüllt wie eine Diva schweben weißliche Schwaden vor dem Gipfel, einer verschleierten Königin gleich, die sich erst zeigen wird, wenn es an der Zeit ist. Bisweilen treibt der Wind Nebelschwaden so dicht zueinander, dass das Bergmassiv völlig verschwindet und die kleinen Häuser mit den Bataillonen an Geranien auf den Balkons nurmehr vor einer milchig weißen Wand existieren. Und jetzt werd ich zum Berg», denkt sich das Gehirn von Cord, der sich gerade in einen Max transformiert.

Als Hausmeister und heimlicher Werkstattleiter hatte er es für besser gefunden, aus der Schusslinie herauszutreten. Warum nicht die eigene Bedeutung für das Institut so weit als möglich herunterfahren? Nur noch als exzentrischer, gutartiger Zausel wollte er sein Leben fristen. Ein Unikum, das tagaus, tagein in einem grauen Kittel über die Flure schlurfte, überall auftauchte, wo es ein Problem zu bewältigen, Rätsel zu lösen gab. Vorbei. Das ging fix.

Niemand hatte dumme Fragen gestellt, als ihn der Dekan 1970 als Hausmeister engagierte, einen vermeintlichen Ausländer, einen holländischen Schlosser mit österreichischen Vorfahren und leicht Wiener Mundart. Und dann der Bart: Jeden historisch bewanderten Einheimischen gemahnte das Ungetüm sofort an den Forstrat, den «Mozart der Wasserphysik», seinen Meister.

«Das war halt Schicksal», pflegte Cord zu sagen, wenn ihn jemand darauf ansprach. Mein Gott, Schauberger besaß einen Genius nach seinem Geschmack: Klar, eindeutig, dabei vielseitig und immer auf Mutter Natur bedacht, deren Regeln er den Tieren, Bäumen und Flüssen abschaute.

Wenn die Leute nur begriffen, dass der Mensch den Gesetzen der Natur entsprechend und ganz ohne Verbrennung Maschinen bauen konnte, wenn er denn nur wollte. Dass es einen gewaltigen Unterschied gibt zwischen Explosion und Implosion, sie aber beide Bewegung bewirken. Dass kein Fluss verschmutzt sein muss. Dass es keinen Kunstdünger braucht, weil alles lebt. Und mit wie wenigen Mitteln die Menschheit sehr glücklich sein könnte, die Äcker das Doppelte herschenken würden und dennoch nicht auslaugten. Das war nun einmal die Erfahrung, die van Galten am eigenen Leib gemacht hatte.

Bei den jungen Studenten aus der Nachkriegsgeneration war es nie eindeutig klar, welche «Natur» sie meinten, wenn sie von Naturwissenschaft sprachen. Mit den Radiowellen und der Atomenergie trat die Welt in ein Zeitalter, in dem die Gesetze der Natur und des Äthers anscheinend nicht mehr viel Wert besaßen. Oder sie erschienen einfach nur überflüssig, weil Geld das wichtigste war. Geld, Geld, Geld. Es war klar, er wirkte nur als Wichtelmännchen, ein Helfer, der selbst immer wieder fliehen musste: erst vor der Langeweile, dann vor dem Krieg, schließlich vor seinen Siegern.

Vor allem Dekan Meyerhof wusste das zu würdigen. «Bei mir haben Sie eine technische Prokura», sagte er häufig, wenn er ihn sah. Was im Klartext bedeutete, dass Cord machen konnte, was er wollte.

Als Schauberger 1958 nur eine Woche nach der Rückreise aus den Staaten unerwartet verstarb, schien es dringend angeraten, kurzfristig nach Holland zurückzukehren. Niemand hatte den Eindruck, dass das Ableben des Forstrates ein natürlicher Prozess war. Er wirkte bei seiner Rückkehr, als habe jemand alle Lebenskraft aus ihm heraus gesaugt.

Zu lange hatte van Galten mit ihm und dessen Sohn in Bad Ischl herumgebastelt. Das Theoretisieren war ja bei weitem nicht alles, schon gar nicht van Galtens Lebenssinn. Naturgesetze entdecken, das war das eine, aber sie anzuwenden, darum ging es doch. Ab 1958 war damit fürs Erste Schluss, aus, Ende! Ab nach Holland – in den Untergrund. Zwölf Jahre schrauben, schweißen und fräsen in Rotterdam, der Meisterabschluss als Werkzeugmacher. Niemals hätte er es sich träumen lassen, dass er noch einmal in sein Heimatland zurückkehren könnte. Doch auf Meyerhof war Verlass. Zeit, man muss warten können.

Wie hatte er sich gefreut, als ihn der Dekan zwölf Jahre später aus Graz anrief und ihm das Jobangebot unterbreitete, als «Mädchen für alles» mit seinem neuen, angeheirateten Namen im Institut für Maschinenbau zu arbeiten. Pförtner, warum nicht? Die Heimat rief.

Mareike, das zarte, blonde Glühwürmchen aus Utrecht, schwanger mit Johanna, war ebenso neugierig wie reiselustig. Eine Luftveränderung würde ihnen beiden guttun, sagte sie. In die Berge wollte sie schon immer. Und vor allem sehnte sie sich danach, das Land kennenlernen, in dem ihr Mann geboren war. So kehrte er heim, dieses Mal offiziell und mit Gattin, nach Graz, um als Faktotum des Polytechnikums zu wirken. Nur eines war essentiell: In Absprache mit den engsten Vorgesetzten war es völlig unmöglich, über die wahren Ereignisse der Vergangenheit sowie seine realen, gegenwärtigen Tätigkeiten irgendjemandem Auskunft zu erteilen. Über genau den Teil seiner Existenz, alles, worauf andere stolz gewesen wären, darüber hatte er Verschwiegenheit zu bewahren. Schließlich hatte man aus dem Krieg gelernt. Das Risiko war zu groß, die Wissenschaft eventuell fröhlich, doch auf keinen Fall frei.

Es war van Galtens langer, roter Bart, tatsächlich noch prächtiger als der Altersbart des Meisters selbst, aber in derselben Art gewachsen und gepflegt, der alle von den Älteren in stillschweigendem Einverständnis an die Optionen und Vorsichtsmaßnahmen für eine sichere Zukunft gemahnte.

In die Hand musste er dem Dekan geloben, niemals über die Vergangenheit zu sprechen, schon gar nicht über die frühen 50er Jahre, in denen er mit dem Forstrat an der Pythagoras-Kepler-Schule in Bad Ischl wirkte und die Heimat bereiste, um nach dem Rechten zu sehen, an verschiedenen Orten in den Bergen zu drehen und zu schweißen. So setzte er am Tag Steine in Flüsse, ließ Kurven einziehen, wo vorher Begradigungen waren, wurstelte in der Fischzucht und an Maschinen zur Wasserlevitation – was den Zustand des Wassers zum Guten veränderte -, zumindest den Stoffwechsel der Leute beförderte, die es tranken. Die Bevölkerung mochte das. Dennoch galt es, diskret zu wirken, bereits damals. Merkwürdig: immer gab es etwas zu verbergen. Doch war es die antrainierte, in die Wiege gelegte Wortkargheit, die der gebotenen Schweigepflicht charmant die Hand reichte.

Der Bergbewohner spricht von Natur aus nicht mehr als unbedingt notwendig, lebt verwachsen mit dem Wesen, dem Berg, den er bewohnen darf wie ein Bazillus auf der Haut. Warum sich Gedanken machen? Vor allen Dingen welche? Sind sie nicht nurmehr Auswurf eines größeren Bewusstseins, dessen Werkzeug der Mensch ist? Vom Berg lernen heißt siegen lernen. Seine atmende Stille wird dich Demut lehren und dir deine ewige Gestalt als Menschenwesen zeigen.

So schaut Menschlein sich immer nur selbst an, selbst, wenn er bergauf fahrend in schlierigen Schwaden einen kahlen Ast oder die Messingglocke am Hals einer braun weiß gescheckten Kuh erkennt, sich dem Geist von Stein, Baum, Wiese und Rind überlässt – inklusive ihrer Vergänglichkeit.

Wenn der Berg es ist, der naturgemäßen Ausdruck gibt über die Beschaffenheit der Welt, muss er dann nicht dankbar sein über den undurchdringlichen Schleier aus Nebel und Dunst, den die Existenz heuer über all dies wirft?

Mein Gott, wie sehr hat er verdrängt, dass ihn der Berg haben will, schon immer haben wollte. Erst jetzt, da die Luft immer dünner wird, spürt er, dass auch er einen Atem besitzt, ein Wesen aus Fleisch und Blut ist, das sein eigenes Wetter schon immer in sich trägt, vielleicht sogar erzeugt, er sich schon immer in Einheit mit all dem befand, ganz egal wie weit Herr Einstein und das Atomzeitalter dies relativieren wollen.

Und was hat er für ein Glück gehabt mit diesem Kind! Das Hanneken hatte die Welt mit ihren blaugrünen, ernsten Augen und winzigen Sommersprossen betreten und das Leben einen neuen Sinn erfahren.

Cord blickt auf die Bäuerin, die dösend neben ihm sitzt und in eine Melange aus Nickerchen und Meditation gefallen ist. Bestimmt fährt sie häufiger auf dieser Strecke. Auf eine eigene Weise gelingt es ihr, sich dem halsbrecherischen Kurvenverhalten des Fahrzeugs anzupassen, wie ein Baby mit dem Körper sanft mitzuschwingen, wenn der Wagen eine Kurve nimmt. Was Touristen eine bewusste Anstrengung kostet, erledigt sie fast im Schlaf. Van Galten entspannt sich und versucht, es ihr gleichzutun. Hinter ihm türmt sich der Hochwald auf.

«Ohne dich ging hier gar nichts!», sagte Bulgakov eines Tages zu ihm, als er den Schweizer Ingenieur und Erfinder Raumer anschleppte, damit sein Chef sich einmal auf Augenhöhe mit einem Gleichgesinnten austauschen konnte.

An jenen Abenden servierte Cord nur Tee, spielte Mäuschen und Diplomat, denn beide Wissenschaftler ahnten, dass sie ohne van Galtens ewig stoischer Ruhe niemals aufeinandergetroffen wären, um sich auszutauschen, ohne zu streiten. Darauf lief es meistens hinaus, wenn sich zwei Wissenschaftsböcke in die Quere kamen. Van Galten konnte nicht immer beurteilen, ob es bei den Streitigkeiten um Eitelkeiten oder tatsächlich um die Naturgesetze ging.

Dabei freute sich über diese Meetings niemand mehr als ihr stummer Gastgeber. Unter Physikern und Ingenieuren ein harmonisches, solidarisches Einverständnis herzustellen, darin bestand die wirkliche Meisterleistung in einer Konkurrenzgesellschaft, wo keiner mehr dem anderen etwas gönnte und jeder nur auf sein Profil und die entsprechende gesellschaftliche Positionierung achtete.

Die Begegnungen besaßen einen konspirativen Anstrich und durchaus revolutionären Charakter: Wenn die Disputanten sich auf neuartige physikalische Regeln verständigten und dabei von so vielem verabschiedeten, was die Grundlage der zeitgenössischen Physik bildete. Etwa den Gedanken, es gäbe nichts Schnelleres als die Lichtgeschwindigkeit. Man kann nicht sagen, dass die Thesen Albert Einsteins oder der Urknall bei den Treffen allzu beliebt waren. Mit Relativität hatten sie nichts am Hut. Es ging um die physikalische Praxis, man wollte nützlich sein und nicht nur Theorien aufstellen, von denen niemand etwas hatte.

Allein die Grundprinzipien bezüglich ihrer gemeinsamen Vorstellungen vom Äther, die sich die Physiker in «Cords Caféhaus» an den Kopf warfen – einem Tisch mit drei Stühlen in der Werkstatt gleich neben der Drehbank – ließen seine innere Repulsine fliegen, diese bedeutendste Ingenieurleistung Schaubergers, an deren Rekonstruktion er mitwirken durfte. Metall will korrekt behandelt sein. Das Meisterstück Schaubergers schwebte ständig im Raum, wie das Gelöbnis, für eine bessere Welt zu arbeiten, für die ausgerechnet er zu stehen schien.

Cord, ahem, Max: ab jetzt.

In Wahrheit waren es wahrscheinlich der Respekt vor dem Alter und der Leistung des Seniorschlossers, der selbstlos für die Wissenschaftler einen toleranten Denkraum bereitstellte, was den Frieden zwischen den hochgebildeten Männern ermöglichte. Am Tage und in der Öffentlichkeit ließen die beiden eigenbrötlerischen Starrköpfe als Konkurrenten und notorische Streithähne kein gutes Haar aneinander, vor allem, wenn van Galten nicht in Reichweite war. Doch er wusste für viele Dinge, die unübersichtlich erschienen, einfache Lösungen. Als Moderator dieses Nachtcafés schien er unabdingbar.

Und, ja, er war Raumer dankbar dafür, dass er ihm gleich nach dem Mord an Bulgakov eine diskrete Zufluchtsstätte angeboten hatte, zusammen mit einem Jobangebot. Wieder so eine Fügung, dass ausgerechnet ein Schweizer Ingenieur eine Zuflucht kannte – in Österreich – wo er jetzt Unterschlupf finden würde, verbunden mit einem Hausmeisterjob.

Woher nur kommt das Gefühl, dass das Leben gerade heute mehr Sinn macht als je zuvor? Es muss mit dem Ort zusammenhängen, den er aufsucht. Schließlich geht die Reise in ein Haus, das normale Menschen in der Regel fürchten.

Die Frau neben ihm hat ihr Schläfchen beendet und starrt ihn lange und durchdringend an. Was schaut sie so? Cord lässt sich in den Sitz zurückfallen, trennt sich von seinen Gedanken, wendet das glatzköpfige Haupt ab, blickt aus dem Fenster. Besser nicht mehr so viel Gesicht zeigen, lieber verstecken, diskret auftreten, eher verschwinden, unsichtbar werden.

Er schließt die Augen, rekapituliert seine Situation, schaukelt mit dem Bus durch vergangene Räume. Wie ein Senior mit Blähungen lässt der Busfahrer bisweilen die Luft aus den Ratschenbremsen, um sie anschließend wieder hineinzublasen.

«Dann wird Johanna Österreicherin?», hatte Mareike gefragt und sah ihn nur noch von hinten nicken und ins Schlafzimmer eilen, Koffer packen.

Der süße Rotschopf war die größte Freude der späten Tage. Jeden Sonntag, wenn er das wilde, kluge Mädchen für sich hatte, fragte sie ihm Löcher in den Bauch: Warum die Banane krumm und der Himmel blau sei, weshalb die Flüsse nicht geradeaus liefen, sondern immer Kurven machten und warum die Forellen in den Bächen so hochspringen konnten. Warum, warum, warum. Und zack! Da war es gewesen, das unverdiente Glück im Alter: Die wirklichen Rätsel der Natur stellten sich von allein ein. Aus den wirklichen Fragen war die Zukunft zu bauen, denn diese enthielten bereits die Antworten und Lösungen. Es ging um dieselben Fragestellungen, die auch für ihn stets Bedeutung besaßen, Probleme, auf die er vom Meister glaubwürdige Antworten erhalten hatte. Praktisches Wissen mit der Perspektive einer schöpferischen Umsetzung zu verbreiten, war das nicht der Sinn des Lebens?

Cord runzelt unter dem tief ins Gesicht gezogenen Hut so sehr die Stirn, dass er ihm beinahe vom Kopf rutscht.

Die praktikablen Ergebnisse auf die essenziellen Fragen der Welt hatten den Forstrat den Kopf gekostet. Und Bulgakov aus dem Fenster gestoßen.

Nachdem Bulgakov sich in Graz eingelebt hatte und anfing, die Öffentlichkeit in seine Arbeit einzubeziehen, hatte sich eine Journalistengruppe nach der anderen im Institut die Klinke in die Hand gegeben.

Tatsächlich dachte er an dem tragischen Morgen vor drei Tagen, es handele sich wieder um so einen Reporter oder industriellen Interessenten. Eine ähnliche Visage, mit einer ebenso merkwürdigen Körpersprache in einem gelackten schwarzen Anzug hatte er schon einmal gesehen. Genau zwei Monate zuvor. Oder einen.

Die Bäuerin im Sitz neben ihm entnimmt ihrer Handtasche ein würfelförmiges Plexiglasdöschen mit einem Puzzle. Es gilt, eine kleine Metallkugel in die Mitte eines Kreises zu bugsieren, der von winzigen, hügeligen Schikanen durchzogen ist.

Cord peilt durch die Löcher des Strohhutes, verfolgt mit halbem Auge die Bemühungen seiner Sitznachbarin um die Kugel, ist mit den Gedanken ganz woanders.

Genau jetzt fällt ihm der Name des Kerls wieder ein: Escher hieß der Bursche, ein deutscher Schlacks, der auf seine spöttische Anmerkung hin doch noch die dunkle Sonnenbrille abnahm und sie gegen eine normale Brille tauschte. Kurzsichtigkeit ist ein Handicap, jaja. Nicht für ihn. Mit dieser Krankheit kennt er sich nicht aus. Gott sei Dank.

Drei konzentrische Ringe im Plastikgehäuse hat die kleine Stahlkugel zu überspringen, um ihr Ziel im Zentrum zu erreichen. Nicht einfach, das während der Fahrt zu bewerkstelligen. Jedes Mal, wenn der Fahrer eine Kurve nimmt, bergauf oder bergab, kabolzt die Metallkugel wie wild geworden in ihrem Gehäuse herum. Dabei kann es passieren, dass sie unwillkürlich, wie zufällig, in die Mitte fliegt, den Zweck des Geschicklichkeitsspiels wie von selbst erwirkt, an der nächsten Wegbiegung aber sofort wild heraus hüpft und alle vorherigen Anstrengungen zunichtemacht. Der Handwerker streicht mit der Hand über sein nacktweißes, frischrasiertes Kinn. Interessante Physik, das.

Das war ihm am schwersten gefallen: sich von dem Bart zu verabschieden, ihn nach fünfzig Jahren abzunehmen. Aber er darf auf keinen Fall auffallen. Wer achtet schon auf einen alleinstehenden, bartlosen, alten Mann? Er hat sich auch niemandem zu erklären, wenn er jetzt die Stadt verlässt, fort aus Graz.

So geschieht es immer wieder mit den kosmischen Energien: kurz vor dem Triumph kommt der Tod. Den Chef hatte vierzehn Tage vor dem Durchbruch das Schicksal erreicht. Warum? Unter vier Augen hatte Bulgakov schmunzelnd gestanden, dass er mit seiner Erfindung dem Gesetz der Schwerkraft ein Schnippchen schlagen wollte. Eine Übung in Schwerelosigkeit nannte er sein Projekt. Wer musste unbedingt verhindern, dass er Erfolg hatte?

Cord lacht bitter in sich hinein, als ihm einfällt, dass er an jenem Morgen vor dem Mord genau daran dachte, tief in seinem Innern Ähnliches befürchtet hatte. Wie in einem grausamen Gesetz der Serie musste er zusehen, wie erst die wichtigsten Hürden gegenüber den neuen Technologien genommen wurden – und auf einmal nichts mehr ging. Wie unter Zwang mündete so gut wie jede dieser großartigen Unternehmungen in eine Katastrophe. Damit soll jetzt Schluss sein. Ein für alle Mal.

Die Herren der Zeit, sie mochten tun, was immer sie wollten: Kontaminieren, modifizieren, variieren oder reduzieren: Der Berg würde ihnen das rechte Maß der Dinge weisen.

Kurz döst er in einer Kehre weg, die ihn tief in den Sitz drückt. Als er die Lider wieder hebt, bietet sich dem Auge blankpolierter Granit, an dem der Bus um Haaresbreite vorbeischrammt. Und wieder steht das blasse Gesicht des Mörders vor seinem inneren Auge.

Auf diesen Berg von Stein will ich mich setzen, es führt kein andrer Weg nach Küsnacht. So ähnlich spricht doch der Wilhelm Tell, bevor er seinen Quälgeist richtet.

Dabei hätte alles so schön sein können.

Die meisten Zeitgenossen zeigen sich dem Fortschritt gegenüber durchaus aufgeschlossen, – wenn es ihn denn nun gibt. Wobei man weiß, dass sich die besseren Dinge meist nur blind oder erst nach Jahrzehnten durchsetzen, wie zufällig und scheinbar nicht geplant, bestenfalls im Bereich des Erreichbaren. Aber was heißt hier «besser»? Etwa das neue Internet, das gerade vor ein paar Jahren aufgekommen ist, so viele Möglichkeiten bietet und die Leute zwingen wird, ihre innere Wahrheit vor dem Bildschirm anstatt in der Natur zu suchen?

Was bin ich froh, schon so alt zu sein, damit soll sich die Jugend herumschlagen. Cord van Galten wird den Berg wählen, die Freiheit am Berg gegen den Rest der Welt tauschen, auch wenn er nur am Fuß desselben den Lebensabend verbringen soll. Die Natur beschützt mich, ich brauche nichts zu tun, nicht einzugreifen, nichts zu verändern, hie und da a bisserl reparieren, Geräte warten und ihn erwarten.

Sie werden kommen, mich zu jagen mit Gewehren in der Nacht. Doch bis dahin wird vergehen, was sie so gerne Zeit nennen. Der Dachstein wird einige Male ein- und wieder ausgeatmet haben, Touristen werden kommen und gehen wie wir auch, Kühe werden kalben. Alles fast ganz normal.

Ein sehnsüchtig erwarteter Sonnenstrahl sticht durch die Nebelwolken, gibt einen scheuen Blick auf den Gipfel frei.

Jetzt also wirst du vom Grazer zum Bergbewohner. Irgendwann einmal musst du da hoch, Max, spricht er gut gelaunt zu sich selbst. Einmal vom Dach der Welt nach unten schauen... wenn alles getan ist, die letzte Furcht ausgestanden und alle in Sicherheit sind.

Dieser winzige Unterschied zwischen der lebendigen und der toten Materie, lebenspendender Erde oder sterilem Staub, der zu Stein gerinnen wird: Es könnt einen wahnsinnig machen. Ich mein, nichts gegen Steine. Gar nichts.

Der Bus hält in Ramsau auf dem Marktplatz. Endstation, zumindest für ihn. Die Touristen werden hoch auf den Berg fahren, bis zur Seilbahn und dann auf den Gipfel. Der Berg ruft, je nachdem, ob sie sich bei dem Nebel trauen. Der kann aber genauso gut jeden Moment verschwinden.

Die Bäuerin steckt ihr Puzzlespiel weg, schlurft grußlos nach vorn, steigt aus, verliert sich im Gewühl zwischen den Gemüseständen des Bauernmarktes.

Den Strohhut auf dem Kopf und die Reisetasche in der Hand, mischt sich Cord unter die Leute. Die frisch gewaschene Schlossermontur soll darauf schließen lassen, dass er nicht nur zum Spaß hier herumläuft. Nur nicht auffallen. Einheimische sind eh uninteressant. Touristen beachten am liebsten die Frauen im klassischen Dirndl. Gut so.

Für ein paar Schilling kauft er an einem Marktstand eine Tüte Äpfel und macht sich auf den Weg. Den letzten Teil wird er zu Fuß absolvieren, allein für den Fall, dass er beobachtet wird. Also drei Bushaltestellen auf Schusters Rappen bis zur Haltestelle mit dem sinnigen Namen «Heimat», gleich hinter Filzmoos.

Auf eine Weise fühlt er genau, warum er nur noch hierhin gehen kann, will und muss. Die letzte Station seines Lebens.

Intuitiv, was ist das eigentlich, Papa?, fragte Hanneken. Erfahrung, mein Engel. Erfahrung, und immer schön üben.

Raumer, der Retter, rief passend einen Tag nach dem Tod von Bulgakov an, als er bereits auf der gepackten Reisetasche saß und nicht wusste, wohin mit sich. Der Schweizer war nach den Besprechungen in Graz zu einer Art Freund geworden. Einmal konnte er den Chef bei einem Besuch dorthin begleiten. Raumer hatte in seiner Heimat mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen wie Bulgakov. Er hatte einen Stromerzeuger besonderer Art zustande gebracht, der gerade von einigen Akademikern und Publizisten heiß diskutiert wurde. Weil Raumer in einer christlichen Kommune lebte, die er selbst auf die Beine gestellt hatte, wählten die Bewohner und Bewohnerinnen in Lindenberg eine andere Methode der Publikation: sie gestatteten ausschließlich befreundeten Wissenschaftlern, auf den Generator zu blicken und ihn zu untersuchen. Im Übrigen beließen sie alles in der Schwebe, indem Raumer das Gerät kaum jemandem zeigte, er sich auch der Allgemeinheit weitgehend verweigerte, beglich dafür aber ordentlich alle Stromrechnungen der Gemeinschaft. Er hatte sich davon befreit, der Öffentlichkeit etwas beweisen zu wollen.

Natürlich versuchten Staat und Elektrokonzerne, ihn mundtot zu machen, klagten ihn an wegen sexueller Verfehlungen mit Minderjährigen. Van Galten konnte nichts dazu sagen. Ihm erschien Raumer bis auf seine obskuren religiösen Vorstellungen stets tadellos und integer.

Als Bulgakov in Graz von der Erfindung hörte, suchte er ihn unverzüglich in Lindenberg auf, bot Kooperation an, wollte sogar in die christliche Kommune eintreten. Mit Engelszungen versuchte er, Boden zu gewinnen, bemühte sich eindringlich, den Schweizer zu überreden, mehr mit der Presse zu kooperieren und wie er selbst auch die Öffentlichkeit als Schutz zu nutzen. Aber Raumer blieb gänzlich konsequent und hartnäckig. Und lebendig, wie zu hoffen war, noch lange.

Raumer war es, der ihm nahe legte, nun schnell die Beine in die Hand zu nehmen und nach dem Mord an Bulgakovs umgehend Graz zu verlassen. Untertauchen.

Cord knüpft den Overall zu. Wenn man am späten Nachmittag in den Schatten des Berges gerät, differieren die Temperaturen bisweilen um 20 Grad.

Es kann so kalt werden, dass man sich spielend sogar im Hochsommer erkältet.

Am Wegesrand entdeckt er einen verwaisten, knorrigen Stock, nicht zu dick, doch belastbar genug, ihn beim Wandern zu stützen. Ein Biss in den Apfel.

Die guten Innovatoren, die Vordenker: Falls es den wenigen Auserwählten gelang, in unbekannte Bereiche vorzustoßen, standen sie sofort unter Beobachtung. Die konservativen Kollegen diffamierten sie zu gerne. Raumer hatte davor gewarnt. Dies war die konzentrierte Wahrheitspille und die Summe eines Lebens aus 50 Jahren, in denen er innovative Entwickler unterstützte und begleitete. Die Leute, denen er den Rücken stärkte, von denen er lernte, für die er sich einsetzte: Man brachte sie einfach um. Schluck das, Max.

Der Apfel schmeckt bitter; ein Wurm hat sich seinen Weg bis ins Kerngehäuse gebahnt, nicht erkennbar von außen, aber überaus präsent und lebendig. Cord spuckt aus, wirft die wurmige Frucht fort.

Was, wenn man sich gleich von Anfang an mit der menschlichen Vergänglichkeit, dem Ende, beschäftigte, sich quasi von hinten nach vorn arbeitete, einen Raum beträte, in dem die innere Perspektive nicht mehr auf falsche Hoffnungen, auf neues Leben, sondern allenfalls auf ein würdiges Ableben ausgerichtet wäre? Könnte, würde das die Ausgangssituation verändern?

Eine gute Frage und ein letzter Testfall für diese Inkarnation. Van Galten beschleunigt seinen Schritt, brummt dabei zufrieden in sich hinein. Genau hier findet der erweiterte Versuchsaufbau statt, die finale Frage, die es zu beantworten gilt. Ein Langzeitexperiment – hoffentlich.

Arbeiten, so teilte ihm Raumer am Telefon mit, müsse er nicht viel. Halt nach dem Rechten sehen, Glühbirnen auswechseln, verstopfte Abflüsse reinigen, ein bis zweimal am Tag im Heizungskeller die Anlage überprüfen.

Die Haltestelle «Heimat». Hier auf den Feldweg und dann noch einen knappen Kilometer auf das Bergmassiv zu bis zur letzten Biegung. Was hatte er gesagt: «Du wirst das Haus schon erkennen; ein aufgelassener Hotelbetrieb, durchaus heruntergekommen, aber nicht so sehr, dass es unangenehm auffällt.»

Cord nähert sich einem grauweißen, verfallenen Gebäudekomplex direkt am Fuß des Berges. Früher muss das Anwesen einmal ein schmuckes Hotel gewesen sein. Nun hat es seit mindestens zehn Jahren keine frische Farbe mehr gesehen. Nur wenige, allenfalls Einheimische, werden hier gern und freiwillig wohnen, wegen der latenten Lawinengefahr – eher Steinschlag, denn die Gefahr verringert sich inzwischen durch die milden Winter. Und im Endeffekt hat die Interessengemeinschaft dieses Landhauses nicht mehr allzu viel zu befürchten. Er auch nicht. Passt schon. Max kichert.

Über der Eingangstür hat jemand wie im Wilden Westen an zwei Ketten ein braunes Holzschild mit einer altmodischen Brandmalerei in Sütterlinschrift gehängt:

Niemand stirbt für sich allein.

Quietschend schaukelt das verwitterte, vom Wind zerfurchte Holzbrett hin und her. Eine Libelle fliegt auf das Hängebrett, setzt sich auf den i-Punkt von «allein». Na, dann.

Ist das so, fragt sich Cord, sieht vor sich noch einmal Bulgakovs aufgerissene Augen, die sich tief in sein Herz eingebrannt haben, holt tief Luft. Unwillkürlich überkommt ihn erneut dieses Gefühl, immer plastischer und eingängiger, in dem er sich selbst wiedererkennt: dass dies hier seine letzte Station sein wird. Hoffentlich. Er ist müde. Und an einem Ort angekommen, den er, wie die meisten anderen hier, nurmehr in der Horizontalen verlassen wird. Wahrscheinlich. Aber noch ist nicht aller Tage Abend.

Bevor er die drei Holzstufen erklimmt, um an der Glocke zu läuten, öffnet sich die Tür und eine adrette, junge Frau steht lächelnd im Rahmen. Ui! So viel sympathische Jugend, damit hätte er gerade hier nicht gerechnet.

«Grüß Gott, die Kirchgasser Marlene bin ich; Sie müssen Max, der neue Hausmeister, sein. Herr Raumer hat Sie avisiert. Wie war doch gleich Ihr ganzer Name?»

«Nennen’S mi einfach nur Max, gute Frau! Passt scho.»

Marlene Kirchgasser tritt einen Schritt zurück und öffnet weit das Portal. Für einen Moment schließt Cord die Augen, wird sich bewusst, wo er sich befindet, spürt mit dem ersten Atemzug die heitere, glückliche Energie, – an einem Ort, der dem Sterben gewidmet ist.

Unmöglich zu sagen, ob das, was er fühlt, ein neuer Anfang oder schon das Ende ist. In jedem Fall ist es das, was er sich immer gewünscht hat. Er erahnt die außergewöhnlichen Erfahrungen, die er hier machen wird, kann sie gelassen vorwegnehmen, freut sich, lächelt verbindlich. Marlene blickt ihn offen und interessiert an, legt den Kopf leicht schief, berührt mit den Fingern das ägyptische Henkelkreuz an ihrer Halskette.

«Wenn Sie mögen, Max …, i hab soeben an frischen Kaffee gebrüht.»

Aber gerne doch. Die große Küche gefällt ihm. Anschließend lässt er sich von der Hospizschwester Marlene das Anwesen zeigen. Dann stellt sie ihn den Gästen vor. Gerade an die zwanzig Leute werden hier zurzeit betreut. Gegenwärtig sind es nur Senioren.

«Ja, mal mehr, mal weniger. Die Kinder gehen eh woanders hin», sagt Marlene, und er erkennt am Klang ihrer Stimme nicht genau, ob sie das bedauert oder nicht.

Die meisten Patienten hier, er soll «Gäste» sagen, hat Marlene ihm eingeschärft, schlafen oder dämmern vor sich hin. Andere betrachten ihn kurz oder länger – «Hallo, Max» – vergessen ihn aber sogleich wieder, zwei finden Gefallen daran, ihn kennenzulernen, allein wegen der Abwechslung. «Kommst zu uns, magst mit uns sterbn?», fragt ihn eine Dame lachend aus ihrem Bett heraus.

Wichtiger als die derben Scherze ist ihm die kleine, feine Hausmeisterwohnung gleich neben dem Schuppen, den sie vor Ort hochtrabend Wirtschaftstrakt nennen. Das Gästebett in dem Apartment bedeutet, dass Johanna am Wochenende hier wohnen kann. Wenn sie will. Na ja, später einmal, wenn sich der Lärm gelegt hat, vielleicht. Aber er wird ihr von dem neuen Wohnort und der interessanten Arbeit berichten.

Irgendwann.

Bald.

Eventuell.

Johannas fliegende Fische

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