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DER PHANTOMWOLF
ОглавлениеZehn Tage waren vergangen seit dem Aufbruch. Je näher wir unserem Ziel im nördlichen Kontinent kamen, desto felsiger wurden die weiten Ebenen und erschwerten deshalb das Vorankommen. Zwar blieben wir, bis auf den Zwischenfall mit den Banditen, bislang von Ärger verschont, doch der Norden bot andere Herausforderungen: Das Klima war deutlich kälter und konnte von heute auf morgen umschlagen. So herrschte schon bald Schneefall, der uns zu begraben drohte.
Amalia hatte sich zusätzlich ihre Decke übergelegt. Ihre zittrige Stimme ging bei der Kälte nahezu unter. »Dies ist also das Land Eurer Väter, Will? Für meinen Geschmack dann doch etwas zu frostig.«
Will, der voranging und einen Weg durch den Schnee bahnte, summte fröhlich vor sich hin. »Lang ist´s her, dass eine solch angenehm Brise durch meine Haare wehte. Keine Angst, meine Liebe. Lediglich ein halber Tagesmarsch trennt uns von einem Wald. Dieser bietet uns Schutz vor der Witterung und dort werden wir unser Nachtlager errichten.«
Mühsam kämpften wir uns durch die Schneemassen. Voller Sorge bemerkte ich, dass Amalias Schritte mit der Zeit immer kürzer und kraftloser wurden. Selbst Will schien das Laufen schwerer zu fallen. Sein Summen hatte er längst eingestellt.
Nach stundenlangem Marsch zeichnete sich, inmitten der schier endlosen weißen Ebene, schemenhaft der langersehnte Wald ab. Sofort hob sich meine Stimmung. Geschafft! Ich bildete mittlerweile die Vorhut unserer kleinen Gruppe und beschleunigte die Schritte. Doch der Blick zurück, machte mir Sorgen. Amalia konnte nicht mehr eigenständig laufen und musste die letzten Meter sogar gestützt werden. Sie war völlig außer Atem und rang nach Luft. Ihre Lippen hatten einen bläulichen Ton angenommen, wodurch deutlicher wurde, wie unterkühlt sie sein musste. Es war eigenartig. Normalerweise liebten es Mondelfen, wenn es kühl war. Doch trug Amalia ja auch Waldelfenblut in sich. Vielleicht vertrugen diese eine solche Kälte nicht.
»Nur noch ein kleines Stück«, bestärkte ich sie.
Sie nickte nur wortlos und stützte sich dabei mit ihrem ganzen Gewicht auf meine Schultern.
Endlich erreichten wir den Waldrand. Glücklicherweise war der Schnee dort nicht mehr so tief. Will führte uns zu einem geschützten Platz. Zusammen errichteten wir einen provisorischen Unterschlupf aus Ästen und Tannenzweigen. Amalia ließ sich erschöpft auf den Untergrund des notdürftigen Baus fallen und atmete auf.
In der Zwischenzeit versuchte Will ein Lagerfeuer zu entzünden. Er schlug seine Feuersteine wie ein wild gewordener Eber zusammen, um Funken entstehen zu lassen, doch schien dies vergebens. Verwirrt prüfte er die Steine und warf sie verärgert zu Boden. »Diese kleine Göre hat mir bemalte Steine angedreht!«
»Meinst du etwa Tess?«, fragte ich und nahm sie genauer unter die Lupe.
Will war knallrot angelaufen. »Ja, wer denn sonst! Dieser Satansbraten hat mir den Schrott verkauft! Was fällt diesem Gör eigentlich ein?«
Auch wenn unsere momentane Lage alles andere als komisch war, so konnte ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Ich zückte meine Feuersteine und kurz darauf knisterte das Lagerfeuer dann doch noch. Ich sah Tess bildlich vor mir, wie sie dem ahnungslosen Will die falschen Steine verkaufte und sich darüber halb totlachte.
»Ausgerechnet du, als Schmied und Feuerexperte, hättest doch den Unterschied zwischen echten Feuersteinen und bemalten Steinen erkennen müssen, oder?« Ich stieß ihm neckisch in seine Seite.
Will verstand bei manchen Dingen absolut keinen Spaß. Schon gar nicht, wenn es um Tess ging. Das Mädchen hatte ihm einige Streiche gespielt – er gab ein dankbares Opfer ab. »Ich wollte so schnell wie möglich weg von diesem nervigen Gör«, erklärte er griesgrämig. »Da habe ich die Steine nur eingesteckt und bin auf und davon.«
Unser Gespräch wurde von Amalia unterbrochen. Sie keuchte und kauerte steif vor dem Feuer. »Ausgerechnet heute Nacht ist Vollmond«, flüsterte sie leise.
Ich setzte mich neben Amalia, um sie vor dem Wind zu schützen. Sie bereitete mir Sorgen. Mondelfen waren in dieser Mondphase am verwundbarsten. Und dann machte ihr auch noch die Kälte so sehr zu schaffen.
In der Nacht nahm der Schneesturm zu und die Kälte brach alle Rekorde. Die Strahlen des vollen Mondes erhellten unseren notdürftigen Unterschlupf. In seinem Licht wirkte Amalias Haut transparent und dünn. Im Inneren flackerten kleine Lichtblitze auf. Sie hatte durch die Minusgrade Probleme, ihre Lichtzellen zu erneuern. Ich bekam es mit der Angst zu tun, da ich einmal erlebt hatte, wie ein Mondelf daran gestorben war. Ich legte ihr zusätzlich meine Decke über, denn ihr gesamter Körper war mittlerweile blau gefroren.
Um uns stürmte es erbarmungslos. Selbst der Wald bot kaum mehr Schutz. Zitternd sprach ich zu Will: »Wenn wir nicht bald was unternehmen, wird Amalia noch erfrieren!«
»Wir können nicht viel tun«, antwortete der Zwerg, der als Einziger nicht wie verrückt schlotterte. »Uns bleibt nichts anderes übrig, als den Schneesturm abzuwarten und dichter zusammenzurücken.«
Der Sturm tobte so heftig, dass wir kaum mehr unsere eigenen Worte verstanden. Ich rieb mir mit den Händen über die Brust, um mich zu wärmen, als ich in der Ferne einen Schrei wahrnahm. »Hast du das gehört?«, fragte ich Will.
Dieser horchte auf. »Was meinst du?«
»Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, da hat jemand um Hilfe geschrien!«
Will zuckte mit den Achseln. »Wahrscheinlich hast du dir das bloß einge–«
Ich würgte ihn ab, da der Ruf abermals ertönte. Dieses Mal war er etwas deutlicher zu hören.
»Du hast recht. Das war eindeutig ein Hilferuf.«
Ich stand auf und schnallte meine Schwerter um. »Ich werde nachsehen. Kümmere du dich um Amalia.«
Will starrte mich fassungslos an. »Bist du verrückt geworden? Das ist kein gewöhnlicher Schnesturm. Du wirst darin noch umkommen!«
Ich blickte in die Dunkelheit des Waldes. Vielleicht hatte er recht, doch etwas zwang mich, dem Ruf zu folgen. »Ich muss das tun. Wer auch immer da draußen ist, braucht Hilfe. Pass gut auf Amalia auf.« Ich verließ den Unterschlupf.
»Geh nicht zu tief in den Wald«, hörte ich noch Wills Stimme, bevor der Wind seine Worte verschluckte.
Mit größter Anstrengung kämpfte ich mich durch die Schneemassen. Eine Böe nach der anderen schlug mir entgegen und der Schnee peitschte mir ins Gesicht. Vergeblich suchte ich die Quelle des Schreis. Vielleicht bin ich zu spät!
Mein Körper kühlte rasant ab und ich hatte längst kein Gefühl mehr in den Beinen. Ich fasste gerade den Entschluss, zu den anderen zurückzukehren, da vernahm ich wieder diesen Schrei. Er schien ein gutes Stück entfernt zu sein. Wills letzte Worte hielten mich anfangs zurück, doch beschloss ich, trotz seiner Warnung, dem Ruf zu folgen.
Der dichte Wald bot mir etwas mehr Schutz vor dem Sturm. Allerdings war es hier auch finsterer. Schon bald konnte ich kaum die Hand vor meinem Gesicht erkennen. Nur ein kleines, fernes Licht verhalf mir bei der Orientierung. Mühsam stapfte ich darauf zu.
Dort angekommen erkannte ich, dass es das Mondlicht war, welches durch eine Lücke in den Baumwipfeln den Schnee hell beleuchtete. Eine Lichtung. Sofort fiel mir auf: Hier war es auffällig still. Zu still, beinahe bedrohlich. Meine Hände fuhren zu den Schwertgriffen. Die Finger waren von der Kälte so steif, dass mir das Greifen schwerfiel. Langsam zog ich die Klingen aus ihren Scheiden heraus. Das leise, schleifende Geräusch hallte dabei auf der Lichtung wider.
Vorsichtig bewegte ich mich weiter und fühlte plötzlich, wie meine Schläfen zu pochen begannen. Gefahr! Ich spürte es im ganzen Körper. Instinktiv sprang ich zur Seite und wirbelte die Schwerter durch die Luft. Ein Jaulen. Warme Tropfen spritzten mir ins Gesicht und ich schmeckte Blut.
Meine Augen gewöhnten sich langsam an die Helligkeit und ich erkannte, was mich soeben angegriffen hatte. »Ein gewöhnlicher Schneewolf.«
Fast unsichtbar lag er dort im Schnee. Nur durch das Blut, das aus seiner klaffenden Wunde strömte und sein weißes Fell tränkte, konnte ich ihn überhaupt entdecken. Sein leises Winseln erstarb allmählich. Wieder Stille.
Merkwürdig, dachte ich nachdenklich, normalerweise greifen Schneewölfe immer im Rudel an. Ob dieser von seinen Artgenossen verstoßen wurde? Als ich mich herunterbeugte, um es mir genauer anzusehen, spürte ich eine andere Bedrohung – viel gefährlicher als das tote Tier vor mir. Es lauerte im Schatten verborgen und kam mir immer näher.
Meine Nackenhaare stellten sich auf. Wie auf dem Präsentierteller stand ich in der Mitte der Lichtung und fand keinerlei Deckung. Ich ließ den Blick hektisch umherschweifen, um die Umgebung zu prüfen. Langsam und lautlos näherte es sich – und mit ihm nahm der Wind zu. Erbarmungslos heulte er, doch klang es wie aus einer fernen Welt. Selbst die klirrende Kälte geriet in den Hintergrund. Ich war ein erfahrener Krieger und fürchtete den Tod nicht. Dennoch bebte mein ganzer Körper vor Angst. Jeglicher versuch, sich gegen dieses Gefühl zu wehren, blieb vergeblich.
Und plötzlich sah ich es: Zwei unheimlich leuchtende Augen, die aus der Dunkelheit des Schattens hervorstachen. Mein Herz machte einen Satz. Ich wollte fliehen, doch die Beine gehorchten mir nicht. Das Augenpaar bewegte sich aus dem Dunkel heraus und der zugehörige Körper zeichnete sich schemenhaft ab. Ein silberner Wolf. Doch er sah nicht so gewöhnlich aus wie der Tote zu meinen Füßen. Nein, er war fast so groß wie ein Pferd, und sein Fell schimmerte mystisch im Mondlicht. Zudem verdampften die Schneeflocken auf seinem Körper, wodurch es schien, als würde er qualmen. Er bewegte sich mit einer anmutigen Leichtigkeit auf mich zu. Ist das das Wesen aus dem Traum?
Sein Anblick war überwältigend. Doch dann meldete sich die Panik wieder zurück und meine Beine gaben nach, sodass ich auf die Knie fiel. Wie paralysiert konnte ich nur mitansehen, wie dieser Wolf immer näher kam. Warum jagte er mir so fürchterliche Angst ein? Weshalb vermochte ich nicht zu fliehen? Erst unmittelbar vor mir blieb das Tier stehen und durchbohrte mich mit seinen großen Augen. Für einen kurzen Augenblick hatte ich die Hoffnung, dass er sein Interesse an mir verlieren würde, wenn ich nur stillhielt. Doch die Zuversicht schwand, als er langsam seine Schnauze auf mich zubewegte.
Der Schweiß stand mir auf der Stirn und meine Kehle war vor lauter Anspannung wie zugeschnürt. Werde ich nun sterben? Seine Gesicht befand sich nun in unmittelbarer Nähe zu meinem und seine Augen hypnotisierten mich förmlich. Es war, als würde ich in fremde Welten blicken. Jene Orte, die man nur in den Träumen bereiste. Ich sah Schnee, doch war es nicht der in der Lichtung. Es war eine riesige Eiswüste und inmitten dieser loderte ein gigantischer, brennender Baum. Aus irgendeinem Grund überkam mich ein vertrautes Gefühl. War es wegen der Bilder, die ich in seinen Augen erblickte?
Ohne es zu wollen, bewegte sich der rechte Arm langsam zu ihm, als würde mich eine fremde Kraft kontrollieren. Der warme Atem des Wolfes löste die Taubheit in meiner Hand, sodass ich wieder ein Gefühl darin bekam. Das Tier beobachtete dies mit wachsender Neugierde. Doch kurz bevor die Fingerspitzen seine Schnauze berühren konnten, zuckte er blitzartig zurück und flüchtete in die Dunkelheit – ohne einen einzigen Laut.
Ich sackte vollends zusammen und betrachtete schwer atmend die Stelle, an der dieses riesige Wesen ins Dunkel abtauchte. Dann, mit einem Schlag, war ich bei vollem Bewusstsein und wacher denn je – als würde man aus Eiswasser auftauchen. Ist das gerade wirklich passiert?, fragte ich mich selbst.
Die Schweißperlen im Gesicht gefroren und spannten unangenehm auf der Haut. Meine Gedanken drehten sich nur noch um diese Kreatur. Doch da holte mich eine fremde Stimme zurück in die Realität. »Hallo! Hallo!«
Mein Gefühl in den Beinen war wieder zurückgekehrt, sodass ich mich hochrappeln konnte, um nach dem Ursprung des Rufes zu suchen. Niemand war zu sehen. Sprechen jetzt etwa schon die Bäume mit mir?
Die Stimme klang erneut: »Hier oben bin ich!«
Endlich entdeckte ich eine Frau, die auf dem Ast einer Buche saß. Benommen starrte ich sie an, als wäre sie nur eine Halluzination. »Wart Ihr es, die vorhin nach Hilfe gerufen hat?«, fragte ich und war überrascht, wie fremd meine Stimme klang.
Sie kletterte vorsichtig hinab. Die letzten zwei Meter ließ sie sich herunterfallen und kam mit einem dumpfen Geräusch im Schnee auf. »Ja, das muss wohl ich gewesen sein.«
Erst jetzt fiel mir auf, dass keine normale Frau, sondern eine Zwergin vor mir stand. Die Proportionen ihres Körpers waren perfekt auf ihre Größe abgestimmt. Dadurch sah sie nicht wie eine typische Zwergin aus und hätte als kleine Menschenfrau durchgehen können. Sie hatte schulterlanges, braunes Haar und ein kantiges Gesicht. Dennoch recht hübsch.
»Das gerade eben war wirklich beeindruckend«, meinte sie ergriffen. »Mir selbst hatte es förmlich die Kehle zugeschnürt. Aber sagt, wie habt Ihr ihn verjagt?«
Mein Herzschlag hatte sich mittlerweile beruhigt und allmählich kehrte das normale Wohlbefinden zurück. »Um ehrlich zu sein, wüsste ich das auch gerne. So eine Kreatur habe ich noch nie gesehen.«
Die kleine Person musterte mich ausgiebig. »Das wundert mich nicht«, gluckste sie amüsiert. »Nur wenige haben das. Ich bin mir fast sicher, dass dies ein Phantomwolf war.«
»Ein Phantomwolf?«, wiederholte ich verwirrt.
Die Zwergin lächelte mich an. »Ja, ein Phantomwolf.« Sie deutete mit ihrer Hand in den Schnee. »Seht, es sind keine Spuren von ihm zu sehen. Das ist der Beweis.«
Ich ließ meinen Blick auf den Boden senken und, tatsächlich, nirgends auch nur eine Spure dieser riesigen Kreatur. Als wäre sie nie dagewesen. »Wie ist so etwas möglich?«
Sie zuckte nur mit ihren Achseln. »Ich weiß es nicht. Angeblich stammen sie aus einer anderen Welt und können sich zwischen dieser und jener hin- und herbewegen. Aber das ist eine Legende. Es ist leider nicht viel über die Phantomwölfe bekannt, da eine Begegnung mit ihnen im Normalfall nicht überlebt wird. Derjenige, der einen zu Gesicht bekommt, ist dem Tode geweiht, so sagt man.« Sie zog ihre Augen zu Schlitzen zusammen. »Umso erstaunlicher ist es, dass er vor Euch einfach davongelaufen zu sein scheint.«
Mir schauderte bei ihrer Erzählung. »Ich bezweifle, dass er vor mir geflohen ist. Es muss einen anderen Grund geben.« Mein Blick war wieder auf die Stelle fixiert, wo kurz zuvor die Augen des Wolfs aufgetaucht waren. »Komisch, ich habe noch nie von Phantomwölfen gehört.«
Die Zwergin schüttelte sich den Schnee aus ihren Haaren. »Wie dem auch sei. Mein Name ist übrigens Mila Heyden. Und wer seid Ihr?« Sie streckte mir ihre Hand entgegen.
»John Armis«, antwortete ich. »Was macht Ihr in einer solch stürmischen Nacht tief im Wald?«
Mila kramte in ihrer Tasche und holte eine weißliche Wurzel hervor. »Dies ist der Grund«, erklärte sie mir.
Ich betrachtete das Wurzelgeflecht genauer. Trotz der Kälte witterte meine Nasse sofort den auffällig erdigen Geruch. »Eine Eiswurzel, wenn ich mich nicht täusche.«
Mila lächelte erneut. »Ihr kennt Euch gut aus. Sie wachsen hier in dieser Lichtung nur an den kältesten Tagen. Deshalb verließ ich meine Hütte, um sie zu suchen. Doch auf einmal war da dieser Schneewolf«, sie deutete auf das leblose Tier, welches ich zuvor getötet hatte, »und jagte mich auf den Baum.«
Meine Augen weiteten sich aufgeregt. »Es gibt hier eine Hütte gibt?«
»Ja, nicht weit von hier. In ihr lebe ich schon einige Jahre. Und was habt Ihr hier im Wald gesucht?«
Doch ich fing hektisch an, mit den Armen zu wedeln. »Das ist jetzt kein geeigneter Zeitpunkt. Ich bin nicht alleine hier und eine meiner zwei Begleiter ist schon halb erfroren. Bitte, gewährt uns eine sichere Unterkunft, bis es ihr besser geht!«
Mila sah jetzt ernst drein. »Ich verstehe. Natürlich werde ich Euch helfen, immerhin habt Ihr auch mich gerettet!« Sie drehte sich um und deutete mit ihrer Hand an den Bäumen vorbei. »Keine zweihundert Meter südlich von hier steht meine Hütte. Sie ist kaum zu übersehen. Holt Eure Freunde. Ich gehe voraus und entzünde schon einmal ein Feuer.«
Schnell machte ich mich auf den Weg zu unserem Lager und prägte mir die Strecke gut ein. Die Kälte nahm ich kaum mehr wahr.
Will, der in der Zwischenzeit versucht hatte, den Unterschlupf auszubauen, lief mir entgegen. »Endlich bist du wieder hier, John. Amalias Zustand hat sich verschlimmert.«
Ich rannte zu ihr und fand sie steif gefroren vor. Vorsichtig rüttelte ich an ihr, doch sie schien ihr Bewusstsein verloren zu haben. »Lass uns schnell alles zusammenpacken, Will. Es gibt eine Hütte nicht weit von hier.«
Der Zwerg sah mich verwirrt an. Scheinbar brauchte er einen Moment, um diese Information erst zu verarbeiten. »Was? Äh ja, alles klar. So gut wie erledigt.«
In kürzester Zeit waren wir aufbruchbereit. Will, mit sämtlichen Rucksäcken bepackt, sah aus wie ein Packesel. Ich wickelte Amalia in mehrere Decken ein und hob sie sachte auf. Trotz ihrer Rüstung war sie erstaunlich leicht, wodurch ich sie problemlos tragen konnte.
Unterwegs erzählte ich Will von Mila. Er schien aufgeregt, da er schon eine lange Zeit keinem seiner Landsleute begegnet war. Nicht wunderlich, er hatte sich im östlichen Kontinent niedergelassen, um als Schmied zu arbeiten. Zwerge verirrten sich nur selten dort hin.
Nach einem kurzen, aber beschwerlichen Marsch, tauchte die Hütte auf. Mila wartete draußen auf uns. »Da seid Ihr ja endlich. Kommt schnell rein.«
Erleichtert schlossen wir die Tür hinter uns und begrüßten die Wärme im Inneren des Hauses.
Mila sah kurz zu Amalia und drehte sich Richtung Ofen, wo sie ein Feldbett aufgestellt hatte. »Legt sie hierhin, dort ist es am wärmsten.«
Ich tat, was sie sagte, und bettete die Elfe vorsichtig auf die weiche Strohmatratze. Mila schob mich sanft beiseite. Sie ließ sich am Kopfende des Bettes nieder und tastete Amalia kurz ab. »Sie ist stark unterkühlt. Wir dürfen sie nur langsam erwärmen, da sie ansonsten Schäden davontragen könnte.«
Der Gedanke ließ mich schaudern. Ich war froh um Milas Anwesenheit. Sie schien zu wissen, was sie tat. Die Zwergin begann Amalia vorsichtig aus den Decken zu wickeln. Während sie dies tat, fragte sie: »Habt ihr trockene Kleidung zum Wechseln?«
Wie auf Kommando ließ Will sämtliche Rucksäcke zu Boden fallen und hielt nur noch Amalias in den Händen. Wortlos überreichte er Mila diesen.
»Habt vielen Dank«, entgegnete sie ihm höflich. »Ich werde sie jetzt entkleiden. Bitte geht nach nebenan. Dort könnt ihr euch ebenfalls etwas Trockenes anziehen.«
Will und ich betraten den angrenzenden Raum. Dank der Spezialbeschichtung meiner Rüstung wurde ich zwar nicht nass, doch war ich erleichtert, diese abzustreifen. Währenddessen erzählte ich Will von der Begegnung auf der Lichtung. Der Zwerg verhedderte sich mit einem Bein im Hosensaum und hopste quer durch den Raum. »Du bist tatsächlich einem Phantomwolf begegnet?«, fragte er, nachdem er sich wieder gefangen hatte.
»Sag bloß, du hast auch schon von diesen Wesen gehört? Bin ich etwa der Einzige, der nichts von ihnen weiß?«
Will dachte einen Moment nach. »Gehört schon, aber ich hielt sie immer für ein Märchen, das man kleinen Kindern erzählt, damit sie sich bei Nacht nicht aus dem Haus schleichen.« Er machte eine Grimasse. »Bist du dir wirklich sicher, dass es ein Phantomwolf war?«
»Nun ja, das sagt zumindest Mila.«
Bei ihrem Namen wurde Will rot im Gesicht. Scheinbar hatte er sich ein wenig in die Zwergin verguckt.
Ich grinste ihn an und meinte schelmisch: »Aha, wie ich sehe, gefällt sie dir.«
Will vollzog eine hektische Bewegung mit seiner Hand. »Psst, sei doch leise, sonst hört sie dich ja noch! Aber ich muss zugeben, dass sie sehr hübsch ist. Hast du ihren perfekten Körper gesehen, John?« Er starrte mich erwartungsvoll und mit weit aufgerissenen Augen an.
»Ja, das habe ich«, sagte ich, um ihn zu besänftigen.
Seine Miene änderte sich wieder und er gab ein verträumtes Seufzen von sich. »Du musst wissen, John, dass die meisten Zwerginnen etwas … sagen wir einfach ... maskulin sind. Doch Mila …« Er fuhr Daumen und Zeigefinger zum Mund und deutete einen Kuss an.
Ich legte ihm meinen Arm auf die Schulter. »Und ich dachte immer, dass du auf größere Frauen stehst.«
Will stieß mir seinen Ellbogen in die Seite. »Sag ihr kein Wort, klar!«, warnte er bedrohlich »Du versaust es mir bloß wieder.«
Ich neigte mich zur Seite und rieb mir die betroffene Stelle. »Schon gut, schon gut, ich sag ihr nichts. Wahrscheinlich wirst du sie selbst mit deinem Charme abschrecken.«
Will, der noch immer mit nacktem Oberkörper dastand, fuhr blitzartig herum und funkelte drohend. »Was soll das denn heißen? Mein Charme ist herzerweichend. Man nennt mich nicht umsonst Will, den Eroberer!«
Diese Bemerkung entlockte mir ein Schmunzeln. Eine seiner Eroberungen hatte ihm im Schlaf all seine Wertsachen geklaut. Doch ich erinnerte den Zwerg lieber nicht an den Vorfall und schwieg.
Mit trockenen Kleidern traten Will und ich wieder in den Hauptraum. Mila drückte uns jeweils eine dampfende Schale in die Hände. »Hier, ich habe euch eine Suppe abgeschöpft.«
Dankend nahmen wir diese entgegen und setzten uns gemeinsam an den Tisch.
Es herrschte merkwürdiges Schweigen, während wir aßen. Will, der etwas verlegen zu Boden blickte, räusperte sich schließlich laut.
»Ach ja, in all der Hektik vergaß ich glatt, euch einander vorzustellen«, sagte ich grinsend. »Dies ist mein langjähriger Freund und treuer Gefährte William Hardfhord. Gemeinsam haben wir schon einige Abenteuer bestritten.«
Will stand auf und sah Mila verlegen an.
»Freut mich, William. Ich bin Mila Heyden.« Sie lächelte freundlich, woraufhin er sich abrupt setzte. »Und wie ist der Name der jungen Frau?«
»Amalia Artanis«, hauchte Amalia selbst.
Sofort stand ich auf und trat an ihr Bett, doch da war sie schon wieder weggetreten und schlief.
»Gönnt ihr ein wenig Ruhe«, meinte Mila leise. »Ihre Schläfen habe ich mit einer speziellen Salbe behandelt. Außerdem habe ich ihr einen stärkenden Trank eingeflößt. Dadurch wird sie schneller auf den Beinen sein. Morgen dürfte es ihr wieder besser gehen.«
Besorgt blickte ich auf die Elfe herab. Ihr Brustkorb hob sich im sanften Rhythmus ihres Atems. Ich deutete dies als gutes Zeichen und setzte mich wieder.
Jetzt nahm ich Mila genauer in Augenschein. An ihren Händen waren Spuren von verheilten Verbrennungen zu sehen. Außerdem hat sie ihm Wald nach den seltenen Eiswurzeln gesucht. Aufgrund dessen kam ich zu folgender Schlussfolgerung: »Ihr seid eine Alchemistin!«
Mila wirkte wenig überrascht. Sie schien sogar darauf gewartet zu haben, dass ich dies aussprach. Mit einem Lächeln meinte sie: »Ja, das bin ich. Mein Hauptgebiet sind Pflanzen und deren Auswirkungen auf Lebewesen. Ihr erinnert Euch an die Eiswurzel? Sie weist toxische Stoffe auf. Doch richtig dosiert und mit anderen Substanzen vermischt, hat sie eine belebende Wirkung. Übrigens, sie ist auch Hauptbestandteil der Salbe«, fügte sie beiläufig hinzu.
Ich spürte in jenem Moment eine solche Dankbarkeit für sie. Wer weiß, vielleicht hätte es Amalia nicht einmal überlebt, wenn ich Mila nicht begegnet wäre. Ich ergriff ihre Hände und sagte ehrfürchtig: »Wir stehen in Eurer Schuld.«
Die Zwergin wurde ganz verlegen. »Seid nicht albern, Ihr schuldet mir gar nichts. Ich hätte jedem geholfen.« Sie befreite sich aus meinem Griff und lehnte sich entspannt zurück. »Nun würde mich aber wirklich interessieren, was euch drei in diese Gegend führt. Nur wenige Zwerge, geschweige denn Menschen, verirren sich hier her.«
Ich überlegte kurz, wie ich ihr unsere Geschichte am besten zusammenfassen könnte, beschloss dann aber, ganz am Anfang zu beginnen. So erzählte ich von der ersten Begegnung mit Amalia, wie ihr Volk nahezu ausgelöscht wurde, und zeichnete Mila auch das Symbol der Dämonen auf. Außerdem erfuhr sie von unserem Reiseziel, dem Flüsterwald, und von der Legende um den Magier.
Mila hob die Augenbrauen. »Von dem Magier habe ich auch gehört. Er soll gefährlich sein. Ich würde es mir zweimal überlegen, diesen verwunschenen Wald zu betreten.« Doch nachdem sie meinen verdutzten Gesichtsausdruck deutete, fügte sie schnell hinzu: »Ihr hingegen habt wohl nichts zu befürchten. Wenn selbst ein Phantomwolf vor Euch geflohen ist, was sollte Euch dann ein Magier anhaben können?« Mila kicherte.
Eine ganze Weile saßen wir beisammen, tauschten Geschichten aus und lauschten dem Heulen des Windes und dem Knistern des Ofens. Irgendwann streckte sich Mila und meinte gähnend: »Für mich wird es allmählich Zeit, mein Bett aufzusuchen.« Sie deutete zu einer Leiter. »Ihr dürft gerne das Zimmer auf dem Dachboden benutzen, dort stehen zwei Betten. Na dann, träumt was Schönes.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und betrat ihre Kammer.
Wills Blick verharrte auf der Tür. »Was würde ich drum geben, die Nacht mit ihr zu verbringen.«
Meine Lippen zogen sich zu einem breiten Grinsen. »Was hält dich davon ab?«
»Was mich davon abhält?«, wiederholte er. »Ich kann mich doch nicht einfach zu ihr ins Bett legen, du Trottel!«
Ich verschränkte die Arme und sah demonstrativ in die Luft. »Wie war das noch gleich? Will, der Eroberer? Alles leere Worte?«
Will schritt grummelnd zur Leiter und mit einem lauten Knall schlug er die Luke zu. Kein Humor, dieser Zwerg, dachte ich grinsend.
Ich wollte mich ihm anschließen, doch der Lärm hatte Amalia geweckt. Im Halbschlaf murmelte sie: »Bitte geht nicht!«
Etwas zögerlich setzte ich mich auf die Bettkante und tastete ihre erröteten Wangen ab. »Wie fühlt Ihr Euch?«
Doch statt zu antworten, ergriff Amalia stumm meine Hand. Eine ganze Weile sah ich sie einfach nur an. Wie ihr Atem den Brustkorb gleichmäßig auf und ab bewegte und wie die Flammen des Ofenfeuers ihren Schatten wild flackern ließen. Wahrscheinlich wäre ich bis zum Morgengrauen so dagesessen – doch es sollte anders kommen.
Amalias Lippen bewegten sich erneut und leise Worte drangen mir ins Ohr. »Ich habe gerade meine Mutter gesehen. Sie hielt meine Hand, wie Ihr gerade. Ihr Lächeln war sanft und liebevoll und ich fühlte mich geborgen. Doch sie verließ mich und ich war ganz alleine. Und jetzt hat mich auch noch mein Vater verlassen.« Ihr Griff verstärkte sich und kleine kristallähnliche Tränen kullerten ihre Wangen hinab.
Jetzt war er gekommen – der Moment, in welchem sie den Tod ihres Vaters verarbeitet. Mit meiner freien Hand wischte ich ihr gefühlvoll die Tränen ab und flüsterte sacht: »Ihr seid nicht alleine!«
Ein feines Lächeln umspielte Amalias Lippen. »Nein, das bin ich nicht!« Sie zog mich sanft zu sich und hob die Decke an. Amalia trug ein seidenes Kleid aus schimmernden Blättern, welches sie geradeso bedeckte. Ich legte mich neben die Elfe und sie schmiegte sich an meinen Körper. In jenem Moment ging von mir eine Hitze ab, die Amalia dankend annahm. Ich fuhr ihr sanft durch die Haare, was ihr sehr gefiel. Sie drehte sich zu mir, öffnete ihre azurblauen Augen und ich verlor mich vollständig in ihnen. Dabei merkte ich gar nicht, wie ihre Lippen immer näherkamen. Erst, als ich den Hauch ihres Atems auf meinem Gesicht spürte, schloss ich die Augen und ließ es geschehen.
Der Moment, in welchem sich unsere Münder berührten, ließ mein Herz kurz aussetzen und ich tauchte ein in eine fremde Welt. Bedauerlicherweise endete dieser Kuss so schnell, wie er gekommen war. Amalia neigte ihren Kopf wieder zurück und drehte sich um. Ich hatte sie gut wärmen können, und ihr dadurch besser wahrnehmbarer, herber Duft berauschte mich. Schon bald fiel ich in einen friedlichen Schlaf.