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UNERWARTETE NACHRICHT
ОглавлениеEin harter Schlag riss mich aus dem Schlaf. Benebelt stellte ich fest, dass ich neben meinem Bett auf den dreckigen Bodendielen lag. Ich rieb mir die müden Augen und murmelte kaum verständlich: »Bloß ein Traum.«
Es war keine Seltenheit, dass ich von meiner Kindheit und dem mittlerweile verstorbenen Onkel träumte. Allerdings wirkten diese Träume in letzter Zeit wesentlich echter, kaum von der Realität zu unterscheiden.
Ich rappelte mich hoch und schlurfte zum offenen Fenster. Die eiskalte Morgenluft hauchte mir Leben ein und nach ein paar tiefen Atemzügen war ich munter. Ich warf einen beiläufigen Blick auf die leere Straße und versuchte, mich an den Traum zu erinnern. In Gedanken verloren bemerkte ich gar nicht, wie ein junges Mädchen die Brüstung hochkletterte. Erst als ihr Gesicht im Fensterrahmen auftauchte, fuhr ich erschrocken zusammen.
»Guten Morgen Johnny. Na, habe ich dich etwa erschreckt?« Es war Tess, die Tochter eines der Händler hier im Ort.
Seufzend verdrehte ich die Augen. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du mich nicht Johnny nennen sollst?«
Tess verschränkte nachdenklich die Arme. Mit ihrer kindlichnaiven Stimme meinte sie: »So um die tausend Mal etwa?«
Ihre Reaktion entlockte mir ein Grinsen. Ich streckte mich und rieb mir dabei meine schmerzende Schulter.
Tess beobachtete dies mit gerunzelter Stirn und meinte: »Oho, wie ich sehe, bist du mal wieder aus dem Bett gefallen, Johnny. Das ist doch auf Dauer wirklich keine angenehme Art, aufzuwachen. Oder ist das normal, wenn man so alt ist wie du?« Kichernd imitierte sie, wie ich mir die Schulter rieb.
»Pass lieber selbst auf, dass DU nicht gleich runterfällst!« Ich packte Tess, zog sie herein ins Zimmer und wirbelte sie durch die Luft.
Ihre langen, hellbraunen Haare wehten dabei um ihr strahlendes Gesicht. »Hey Johnny, lass mich runter! Du weißt doch, dass mir davon immer schwindelig wird!« Nachdem Tess wieder mit beiden Beinen auf dem Boden stand, tat sie, als ob sie sich den Staub von den Schultern klopfen würde. »Außerdem will ich doch nicht, dass deine alten Knochen bei solchen Strapazen zusammenbrechen.«
»Schlagfertig wie eh und je, was? Aber, Spaß beiseite, was führt dich so früh zu mir, Tess?«
Das junge Mädchen strich sich ihre Haare aus dem Gesicht und nahm wieder ihren gewöhnlichen Gesichtsausdruck an. »Ich habe meinem Vater geholfen, seinen Stand am Marktplatz aufzubauen. Aber das war so langweilig. Er quasselte nur über Geschäftskram und, dass ich allmählich mehr Verantwortung übernehmen sollte. Da habe ich mich aus dem Staub gemacht und beschlossen dich zu besuchen. Du weißt schon, damit du mir wieder eine spannende Geschichte von deinen Reisen erzählen kannst. Ich höre dir dabei so gerne zu.«
»Du machst mich ja ganz verlegen, Tess«, sagte ich geschmeichelt, »aber da muss ich dich leider enttäuschen, zuerst würde ich nämlich gerne etwas erledigen. Es ist wirklich wichtig.«
Diese Antwort stimmte sie keineswegs freudig. Doch sie zuckte nur mit den Schultern und meinte frech: »Na gut, dann halt nächstes Mal.«
Nie zuvor war ich einem solch aufgeweckten Mädchen wie ihr begegnet. Ihre Natürlichkeit machte sie nicht nur bei mir beliebt. Das ganze Dorf schien zu strahlen, wenn sie über den Marktplatz tänzelte.
Ich wandte mich ab von ihr und schlurfte zur Truhe am Fußende des Bettes. Darin befand sich meine, inzwischen mitgenommene Lederrüstung. Tess warf ebenfalls einen Blick hinein. »Aha, ich verstehe. Du gehst also wieder auf gefährliche Abenteuer und zähmst wilde Bestien?«
Ich legte mir den Brustpanzer an und zog sorgfältig die Riemen zu. »Heute nicht, ich muss lediglich ein paar Besorgungen machen.«
Tess runzelte die Stirn. »Und für ein paar Besorgungen ziehst du dir extra dein elegantestes Gewand an, wie?« Sie schnalzte amüsiert mit der Zunge. »Ich glaube dir kein Wort, Johnny.«
Ich schmunzelte. »Wer weiß, vielleicht werde ich ja auf dem Marktplatz wieder von so einem übereifrigen Mädchen überfallen. Man kann nie vorsichtig genug sein.«
Tess fuhr sich abermals kichernd durch die Haare. »Wer weiß das schon, Johnny, wer weiß das schon.« Sie legte eine dramatische Pause ein. »Aber wenn wir uns wiedersehen, will ich ein paar Geschichten hören. Vielleicht begegnest du ja einem Vampir oder einer anderen finsteren Kreatur.«
»Wenn ich einem Vampir begegne, dann bist du natürlich die Erste, die davon erfährt«, versprach ich Tess und zerzauste ihr mit meiner Hand die Haare.
Tess versuchte zu entkommen und grinste mich frech an. »Genau das wollte ich hören, Johnny.« Sie klapste mir provozierend auf die schmerzende Schulter und tänzelte durch den Raum. »Ich muss wieder los, habe nämlich auch noch wichtige Besorgungen zu machen.« Mit einem Satz sprang sie aus dem Fenster und kletterte die Brüstung runter. Ihre Schritte wurden in der Ferne immer leiser, bis sie gänzlich verschwanden.
Schmunzelnd schüttelte ich den Kopf. Die kleine Tess Brown, so jung und voller Energie. Jedes Mal, wenn ich hier im Ort war, überfiel sie mich. Sie hatte einen regelrechten Narren an mir gefressen. Ich packte alles zusammen, steckte einige Kupfer- und Silbermünzen ein und betrachtete mein Spiegelbild. Wie so oft war ich erstaunt, wie ähnlich ich Onkel Aaron sah. Nicht nur das Gesicht, auch der muskulöse, drahtige Körper, der optimal für schnelle und flexible Bewegungen war. Die schulterlangen, dunkelbraunen Haare und die Bartstoppeln zeugten von einem Leben in der Wildnis. Ich hatte stolze siebzig Jahre auf dem Buckel, sah aber kaum älter aus als dreißig. Zwar wunderte mich diese Tatsache nach wie vor, doch hatte ich auch keinen Einwand.
Das Knarren der Treppenstufen ging im Lärm der Gaststube unter. Trotz der frühen Morgenstunde waren viele Dorfbewohner auf den Beinen. Folglich hatte der Wirt alle Hände voll zu tun, um den ersten Ansturm zu bewältigen. Dieser entdeckte mich, ehe ich mich aus der Taverne hinausstehlen konnte.
»Guten Morgen, werter Herr. Darf ich Euch ein Frühstück anbieten, ehe Ihr uns verlasst?«
Dankend lehnte ich ab und durchquerte den Raum. Die stickige Luft hier war, wie in fast jedem Gasthaus hierzulande, erfüllt von Alkohol und fetttriefendem Essen. Im Gegensatz zum Wirt schenkten mir die Gäste kaum Beachtung. Ich selbst hatte es mir aber zur Angewohnheit gemacht alles gründlich einzuprägen. Einige Bauern schimpften über ihre magere Ernte. Zwei Zimmermänner gingen ihren Tagesplan durch und der Rest unterhielt sich querbeet.
Meine Hand lag fast auf der Klinke der Ausgangstür, da nahm ich Notiz von einer vermummten, zierlichen Person. Bereits am Vortag war sie mir aufgefallen. Sie starrte mich eindringlich an und behielt selbst dann den Blick aufrecht, als ich den ihren direkt erwiderte. Nachdem wir uns einige Zeit angestarrt hatten, wandte ich mich ab und verließ das Gasthaus.
Die Luft draußen war wesentlich besser als in den meisten Dörfern dieser Größe. Das lag daran, dass die Menschen hier nicht ihren Müll und anderen Unrat auf die Straßen warfen. Folglich gab es kaum Ratten, was hierzulande ebenfalls ungewöhnlich war. Die Sonne erhellte mittlerweile den Marktplatz, auf welchem die meisten Händler ihre Stände aufgebaut hatten. Mit gerunzelter Stirn betrachtete ich das Schild vor dem Gasthaus. ZUM KÖNIGSMAHL. Ein unpassender Name, wie ich fand, da das Essen dort fast ungenießbar war. Aber nirgends nächtigte man günstiger, weshalb es mich meistens hier her verschlug.
Ich besorgte mir bei einem Händler ein paar Äpfel und schlenderte weiter über den Marktplatz. Aus der Ferne winkt mir ein Mann zu. Stan Brown, der Vater von Tess. Ich ging zu ihm.
»Guten Morgen, John«, begrüßte er mich freundlich. »Wie ich hörte, hat Euch meine Tochter bereits überfallen. Ich hoffe, sie hat Euch nicht allzu sehr belästigt oder gar aus dem Schlaf gerissen?«
Ich erwiderte seinen Gruß. »Keine Sorge, ich war bereits wach. Tess hat mich lediglich ein wenig aufgezogen.«
Stan seufzte laut auf. »Was mache ich nur mit diesem Mädchen.« Er schüttelte besorgt den Kopf. »Eigentlich sollte sie mir heute mit meinem Stand helfen. Doch nach ein paar Minuten sprang sie auf und erklärte mir, dass es ihr zu langweilig sei und sie lieber Euch einen Besuch abstatten würde. Und weg war sie.«
Diese Geschichte trieb mir ein Grinsen aufs Gesicht. War es doch so typisch für Tess. »Sie hat nun mal ihren eigenen Kopf. Ich würde mir ihretwegen aber keine Sorgen machen. Sie ist sehr klug und begeisterungsfähig.«
Stans Gesichtszüge wurden weicher. »Ihr habt wahrscheinlich recht.« Er räusperte sich und deutete mit einer Geste über seine Waren. »Benötigt Ihr vielleicht irgendetwas? Ich mache Euch einen fairen Preis.«
Ich sah mir Stans Güter etwas näher an. Er war einer der wenigen Händler auf dem Marktplatz, der keine Nahrungsmittel verkaufte. Vor allem fand man bei ihm praktische Alltagshelfer, aber auch Nützliches für Abenteurer wie mich. Oftmals bot er seltene Waren an, die er auf seinen Reisen zusammengetragen hatte. »Habt Ihr zufällig einen Rucksack?«
Stan zog eine Augenbraue hoch. »Einen Rucksack? Wenn ich mich nicht täusche, habe ich Euch vergangenen Monat einen verkauft. Seid Ihr damit nicht mehr zufrieden?«
»Nun ja, er wurde etwas in Mitleidenschaft gezogen«, gestand ich verlegen. »Um mich kurzzufassen, ich hatte eine etwas unsanfte Auseinandersetzung mit einem Berggreifen. Ich war unvorsichtig und der Greif hat den Rucksack mit einer seiner scharfen Klauen aufgerissen.«
Stan wurde kreidebleich. »Ist das Euer Ernst? Es grenzt ja schon fast an einem Wunder, dass Ihr solch eine Begegnung überstanden habt, wo doch die Berggreife als besonders gefährliche und hinterhältige Kreaturen gelten. Man sagt, sie können mit ihren Klauen den Kopf eines Riesen zerquetschen und mit ihren Schnäbeln selbst Gestein zertrümmern. Ich habe sogar gehört, dass einen der bloße Anblick töten könne!«
»Das ist wohl doch etwas weit hergeholt«, sagte ich lachend. »Aber dennoch sind sie gefährlich. Berggreife werden nicht umsonst als Könige der Gebirge betitelt. Selbst die erfahrensten Krieger vermeiden es, einer solch tödlichen Kreatur über den Weg zu laufen.«
»Und dennoch habt Ihr es überlebt«, betonte Stan.
Ich kratzte mir den Hinterkopf. »Nun ja, es war auch nicht das erste Mal, dass mir einer in die Quere kam. Ich weiß mittlerweile, wie ich mich verhalten muss. Aber diese Biester sind tückisch und hinterhältig und auch ich vermeide eine Konfrontation, wenn es irgendwie geht. Normalerweise sind Berggreife sehr selten, doch scheinbar ziehe ich diese Viecher magisch an. Schon verrückt.« Bei letzterer Bemerkung fasste ich mir nachdenklich ans Kinn.
Stan schüttelte beeindruckt den Kopf. »Ihr seid wahrlich ein zäher Bursche. Aber was den Rucksack angeht, muss ich Euch leider enttäuschen. Wie es aussieht, habe ich gestern mein letztes Exemplar einer hübschen jungen Frau verkauft.«
Ich runzelte die Stirn. »Hm, wirklich bedauerlich. Wenn das so ist, nehme ich das hier.« Ich deutete auf einen zusammengeschnürten Lederbund. »Damit kann ich wenigstens meinen ramponierten Rucksack wieder zusammenflicken.«
Ich verabschiedete mich von Stan und ging nördlich die Straße entlang. Nach einem weiteren kleinen Fußmarsch hatte ich mein eigentliches Ziel erreicht. Die Schmiede. Doch stellte ich fest, dass die Luft nicht, wie sonst um diese Zeit, von Ruß gesättigt war. Verwundert betrachtete ich den Ofen, der nicht entfacht war.
Ich war drauf und dran die Schmiede wieder zu verlassen, da vernahm ich ein Schnarchen in unmittelbarer Nähe. Ich folgte dem Lärm in die angrenzenden Räumlichkeiten. Die Luft hier konnte locker mit der im Schankraum des hiesigen Gasthauses konkurrieren. Ich hätte bei dem Gestank vermutlich nicht schlafen können. Doch die Person, die dort im Strohbett lag, schien keine Probleme damit zu haben. Es war Will. Und obwohl er ein Zwerg war, füllte er durch seine kräftige und muskulöse Statur das Bett nahezu aus.
Ich räusperte mich. Will schnarchte lebhaft weiter. Er drehte sich nur auf die Seite, sodass sein markantes Gesicht hervorlugte. Dieses wurde von seinem zottligen dichten braunen Haar halb verdeckt.
Ich überlegte kurz ihn wachrütteln, verwarf den Gedanken aber schnell. Will neigte dazu, im Schlaf, um sich zu schlagen. Deshalb lehnte ich mich nur ein wenig zu ihm hinab und sprach mit etwas lauterer Stimme: »Geht man so etwa mit seiner Kundschafft um?«
Dies genügte, um Will zu Tode zu erschrecken. Mit ohrenbetäubendem Lärm polterte der Zwerg umher, woraufhin das Strohbett beunruhigend laut knackte. »WAS ZUM!?«, brüllte er und schlug dabei wild um sich. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, wer ihn da aus dem Schlaf gerissen hatte. »John, sag mal, bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Mich so zu erschrecken – Einfach kein Benehmen, dieser Irre.« Die letzten Worte murmelte er mehr sich selbst zu. Dann gähnte er einmal ausgiebig und richtete sich auf.
Will reichte mir fast bis zum Kinn. Damit war er deutlich größer als andere Zwerge. Der größte Zwerg der vier Kontinente, so nannte er sich gerne selbst.
Ich deutete zum Ofen und meinte, leicht provokant: »Dein Meister wird dir noch die Hölle heiß machen, wenn er sieht, dass die Schmiede noch nicht entfacht ist.«
Will warf mir einen beleidigten Blick zu. »Nenn ihn nicht meinen Meister. Das sind nur lachhafte Titel, die sich die Menschen ausgedacht haben, um mehr Ansehen zu erhalten. Zwerge wie ich müssen sich nicht mit sowas brüsten. Uns liegt das Handwerk im Blut.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Wenn du das sagst.«
»Ja, das sage ich! Du glaubst mir nicht? Warum sonst sollte der alte Fuchs bis zum Mittagsmahl schlafen und mich die schweren Arbeiten machen lassen, hä? Der eindeutige Beweis, dass er nichts auf dem Kasten hat.«
Angesichts von Wills unbelehrbarer Naivität musste ich lachen. »Das beweist lediglich, dass dich der alte Fuchs ausnutzt, mein Freund. Er legt die Beine hoch, während er dich schuften lässt. Übrigens eine Eigenschaft, die die Menschen perfektioniert haben.«
Kein Zwerg würde zugeben, dass er ausgebeutet wurde. So auch Will. »Altkluger Bastard«, brummte er so leise, dass ich es fast nicht gehört hätte.
»Ach Will«, sagte ich versöhnlicher. »Du bist doch nur so schlecht gelaunt, weil du hungrig bist.« Ich warf ihm eine Frucht zu.
»Ein Apfel?«, murmelte er etwas enttäuscht. »Na ja, besser als nichts!« Nachdem er einmal hineingebissen hatte, besserte sich seine Laune. Er stand auf und machte eine übertrieben tiefe Verbeugung. »John der Gütige, immer hilfsbereit und eines armen Mannes Hunger stillend.« Will musste daraufhin schallend lachen. Als er sich wieder beruhigt hatte, fragte er: »Wie geht es eigentlich deiner Wunde?«
Ich fasste an die rechte Schulter und kreiste diese. »Ist gut verheilt. Was ich leider nicht von meiner Lederrüstung und dem neuen Rucksack behaupten kann.«
Will betrachtete die ledrige Panzerung und zog an einem der ausgeleierten Riemen. »Bist du dieses alte Ding nicht langsam leid? Überall zusammengeflickt und teilweise schon porös … Ich könnte dir eine RICHTIGE, erstklassige Rüstung schmieden.«
Ich schmunzelte. »Du weißt doch, diese gehörte einst meinem Onkel.«
Will verdrehte die Augen und schlug sich demonstrativ gegen die Stirn. »Ach ja, stimmt, der Onkel! Na, da kann man natürlich nichts machen.« Er betrachtete jetzt die aufgeschlitzte Stelle genauer. »Eieiei«, sagte er und zischte mit den Zähnen. »Hat dich ja fast in zwei Hälften zerteilt, dieser Greif. Und dennoch ist kaum mehr ein Kratzer auf deiner Haut.«
Ich zuckte nur mit den Achseln. »Anscheinend habe ich gutes Heilfleisch. Lassen wir das«, sagte ich, um das Thema abzuschließen. »Immerhin bin ich nicht gekommen, um mich von dir bemitleiden zu lassen, sondern um meine Schwerter abzuholen. Das heißt, sofern du mit ihnen fertig bist?«
Will plusterte sich selbstbewusst auf. »Selbstverständlich, ich würde doch nie meinen ältesten Freund warten lassen. Nicht nach alldem, was wir schon gemeinsam erlebt haben.« Er biss ein weiteres Mal in den Apfel und schnappte sich ein Leinenbündel im Regal. »Komm, wir gehen hinter die Schmiede. Ich muss an die frische Luft.«
Will führte mich zur Hintertür, die in einen Hof mündete. Dort stand die Sonne tief und der müde Zwerg hatte mit der Helligkeit zu kämpfen. So tastete er sich voran, bis wir einen Tisch erreichten. Er entfaltete das Bündel behutsam und präsentierte mir die Schwerter meines verstorbenen Onkels. »Geschärft und poliert – jederzeit bereit, einem Greif das Gefieder zu stutzen«, meinte er, stolz auf sein Werk.
Ich hielt die schmalen Klingen gegen die tiefstehende Morgensonne. Das eine Schwert war so schwarz wie die Nacht. Tief im Inneren hatte es ein verborgenes, rötliches Glühen. Das Zweite schimmerte in einem reinen, weißsilbernen Ton, der dazu im Stande war, jemanden zu blenden. Ich wirbelte die Klingen elegant durch die Luft und der singende Klang verdeutlichte, wie gut diese gegensätzlichen Schwerter zusammenarbeiteten. »Kein Zweiter vermag ein Schwert so zu schärfen wie du, Will.«
Zufrieden ließ ich sie in ihre Scheiden zurückgleiten. Diese verliefen diagonal über meinen Rücken und waren mit Riemen an der Rüstung befestigt. Will hatte einmal gemeint, dass diese Konstruktion veraltet sei. Allerdings konnte man sie mit einem Handgriff vom Körper schnallen, um im Kampf nicht eingeschränkt zu sein. Ein weiterer Grund, weshalb ich die Ausrüstung meines Onkels schätzte. Sie war funktional.
Will zerrte abermals an den Riemen und das poröse Leder ächzte. »Wenn du mich schon keine neue Rüstung anfertigen lässt, dann pfleg wenigstens das Leder besser. Das kann man ja gar nicht mit ansehen.« Er biss ein weiteres Mal in den Apfel und warf Kerngehäuse samt Stiel über eine Hecke. Doch es dauerte keine fünf Sekunden, da flog der Abfall, zu unserer Überraschung, wieder zurück und landete direkt vor Wills Füßen.
Sofort erinnerte ich mich an den Traum der vergangenen Nacht. War das nicht etwas mehr als nur Zufall?
Will hob den Rest des Apfels auf und murmelte: »Was zum Kuckuck …?« Er hielt inne, als die Hecke zu rascheln begann. Wir sahen genau hin.
Man konnte eine zierliche Gestalt erahnen, die sich einen Weg durch die dünnen Zweige bahnte. Ich erkannte sie sofort: Es war jene vermummte Person, die mir einige Male aufgefallen war, das letzte Mal heute Morgen im Gasthaus. Jetzt, wo sie vor mir stand, wirkte sie noch kleiner und zierlicher. Dennoch legte ich unauffällig meine Hand um eines der Schwertgriffe.
Der Person entging dies nicht. Überraschend sanfte sagte sie: »Keine Angst, ich bin keine Bedrohung. Ihr müsst Eure Waffe also nicht ziehen, John Armis.« Es war eine weibliche Stimme. Ihrem Klang nach war sie recht jung.
»Woher kennt Ihr meinen Namen?«, fragte ich überrascht. »Verfolgt Ihr mich? Und was soll diese Geheimniskrämerei?«
Kichernd umklammerte sie mit beiden Händen ihre Kapuze und warf sie nach hinten. Als ihr Gesicht daraufhin zum Vorschein kam, verschlug es mir die Sprache. Ihre Haut war makellos und nie hatte ich solch stimmige und feine Züge bei einem Menschen gesehen. Eine Schönheit, wie sie im Buche stand. Ihr Mantel verbarg den größten Teil des tiefschwarzen Haares, sodass man nur vermuten konnte, wie lang es war. Doch das Schönste und zugleich Auffälligste an ihr waren diese tiefen, azurblauen Augen.
Will starrte die Frau mit offenem Munde an. Mich hätte es nicht gewundert, wenn an seinem Kinn Sabber heruntergelaufen wäre. Der Zwerg fing sich schnell und umschloss mit beiden Händen die ihre. »Ihr kennt den Namen meines Freundes, doch kennt Ihr den meinen nicht. William Hardfhord, Meisterschmied und Musikliebhaber. Es ist mir eine Freude, eine solch wunderschöne Frau in unserem bescheidenen Dorf willkommen heißen zu dürfen.« Er deutete einen Handkuss an und machte eine tiefe Verbeugung.
»Meisterschmied?«, wiederholte ich leise glucksend. Hatte er sich nicht eben erst über diesen Titel beschwert? Doch Will beachtete mich gar nicht.
Die Fremde lächelte ihn strahlend an. »Ihr seid der freundlichste Zwerg, dem ich je begegnet bin, William Hardfhord.« Ihre Stimme war so rein wie ihr Äußeres und ließ Will verlegen einen Schritt zurückweichen.
Jetzt widmete sie sich mir. Wir unterzogen uns gegenseitig einer ausführlichen Musterung. Schließlich schmunzelte ich.
»Was ist so komisch?«, fragte sie und tat es mir gleich.
Ich zuckte nur kurz mit den Schultern. »Weil es mir allmählich dämmert. Ihr seid eine Mondelfe.«
»Eine Mondelfe?«, wiederholte Will erstaunt.
Sie lächelte auch weiterhin. »Ihr habt wirklich ein gutes Auge, John Armis. Aber eigentlich überrascht mich das nicht. Immerhin habt Ihr lange Zeit bei meinem Volk gelebt. Unsere Erscheinung ist Euch also vertraut.«
Wieder mischte sich Will ein. »Ist das wahr, John?«
»Ja, das ist es«, antwortete ich meinem Freund, ohne den Blick von der Elfe zu wenden. »Allerdings ist das schon sehr lange her.«
Die Elfe nickte. »Das war bereits vor meiner Geburt. Darum hätte ich Euer Äußeres auch nicht für so … jung gehalten.« Sie umkreiste mich und musterte jeden Zentimeter meines Körpers. Ich wurde etwas verlegen und wünschte mir, dass die Lederrüstung in besseren Zustand wäre. Zum Glück konnte Will nicht Gedanken lesen.
Der Mondelfe entging dieses beklommene Gefühl nicht und brach ihre Musterung ab. »Wie unhöflich von mir … Ihr kennt ja noch nicht einmal meinen Namen. Ich heiße Amalia Artanis.«
Mir waren die Gepflogenheiten der Mondelfen durchaus bewusst. Sie stellten sich nicht, wie jede andere Rasse, zu Beginn vor, sondern erst, nachdem sie sich ein Bild von ihrem Gegenüber gemacht hatten. Und jetzt, da ich ihren Namen kannte, fiel mir der Groschen: »Artanis? Sagt bloß, Ihr seid die Tochter von Elmon?«
Amalia nickte, doch verflog ihr Lächeln.
»Elmon?«, wiederholte Will. »Merkwürdiger Name.«
»Das sagst du nur, weil du ihn nicht kennst«, erklärte ich ihm. »Elmon ist gütig und warmherzig. Außerdem ist er der Oberste der Mondelfen und war viele Jahre mein Lehrer.«
»Das Oberhaupt der Mondelfen hat dich als Schüler akzeptiert? Dich, einen Menschen? Wie kam es dazu?«
Ich legte nachdenklich den Kopf in den Nacken. »Wie gesagt, dies liegt schon einige Jahrzehnte in der Vergangenheit. Damals war ich noch ein kleiner Junge. Kurz bevor mein Onkel starb, erzählte er mir von einem weit entfernten Ort, der sich im südlichen Kontinent befindet. Dem Schimmerwald. Dort sollte irgendwo einer seiner alten Meister leben. Als ich dann auf mich allein gestellt war, beschloss ich, dorthin zu reisen und nach dieser Person zu suchen.
Die Reise dauerte fast zwei Monate, bis mich mein Weg ins tiefe Gebirge im südlichen Kontinent führte. Da ich noch sehr jung war, kostete mich diese Reise beinahe das Leben. Ich unterschätzte die Gefahren der Wildnis, obwohl mich mein Onkel stets davor gewarnt hatte. Trotzdem schaffte ich es irgendwie bis zum Schimmerwald. Dort irrte ich umher, müde, hungrig und mit den Kräften am Ende. Der Verlust meines Onkels zehrte ebenfalls an mir, sodass ich bald keinen Lebenswillen mehr hatte. Ich ließ mich auf den Boden fallen und wartete auf den Tod. Doch stattdessen tauchte eine Stimme im Kopf auf und Leben durchströmte mich.
Als ich die Augen öffnete, strahlte mich Elmons Gesicht an. Er erinnerte mich ein bisschen an meinen Onkel, weshalb ich ihn sofort mochte. Elmon führte mich durch den Wald bis hin zum Mondsee, dem letzten Reich der Mondelfen.«
Amalias Miene nahm einen traurigen Ausdruck an, sie unterbrach mich aber nicht. Scheinbar interessierte sie ebenfalls diese Geschichte und ich fuhr fort.
»Ich brauchte Elmon nicht zu erklären, wer ich war, er schien es zu wissen. Er nahm mich auf, unterrichtete mich in den Künsten seines Volkes und dort meisterte ich auch meine Doppelschwerter. Er war nicht nur ein guter Lehrer, sondern auch ein wahrhaftiger Freund.« Ich hielt kurz inne und ließ meine eigene Erzählung auf mich wirken. »Wie gesagt, das alles war vor vielen Jahrzehnten.« Ich suchte den Augenkontakt der Elfe. Sie hatte glasige Augen und ein ungutes Gefühl überkam mich.
Eine einzige Träne rann Amalias Wange hinab, doch sie hielt ihre Emotionen unter Kontrolle. »Wie ich sehe, lag Euch sehr viel an meinem Vater. Deshalb schmerzt es mich umso mehr, Euch mitzuteilen, dass er … getötet wurde!«
Diese Nachricht traf mich wie ein Donnerschlag. Ein lähmendes Gefühl überkam meinen ganzen Körper. Wie damals, als Onkel Aaron starb. Mit bebender Stimme flüsterte ich: »Elmon ist … tot?«
Amalia nickte geistesabwesend.
Trauer vermischte sich mit Zorn. Wer würde solch eine herzensgute Seele umbringen? »Wie ist das möglich? Wer hat ihn getötet?«
Das Krähen einiger Raben ließ die Elfe zusammenzucken. Ohne auf meine Fragen einzugehen, sagte sie: »Ich halte mich hier nur ungern länger auf. Gut möglich, dass ich verfolgt werde. Nur so viel sei gesagt: Ich werde versuchen, die Mörder aufzuspüren. Aber dazu brauche ich Hilfe.« Amalias Gesichtsausdruck bekam etwas Flehendes. »Ich weiß nicht, wem ich trauen kann. Aber mein Vater hielt sehr viel von Euch, deshalb seid ihr die einzige Person, die ich um Hilfe bitten würde. Allerdings könnte ich es Euch nicht verübeln, wenn Ihr ablehnt. Immerhin weiß ich nicht, wie lange diese Reise dauern wird. Und ich bin eine Fremde für Euch. Doch wenn Ihr Euch entschließen solltet, mir bei meinem Vorhaben beizustehen, dann trefft mich nach Sonnenuntergang in der Höhle südlich dieses Dorfes. Die vor dem großen Teich. Dort werde ich Euch alles erzählen und von dort aus werden wir aufbrechen, wenn es so sein soll.«
Ohne einen Augenblick länger darüber nachzudenken, sagte ich entschlossen: »Ich werde da sein.«
Amalias Miene hellte sich etwas auf. »Mein Vater hatte wohl recht, was Euch betrifft. Also dann. Im Schutz des Mondes wird uns der Feind nichts anhaben.« Mit diesen Worten zog sich die Elfe die Kapuze übers Gesicht und verschwand, so plötzlich, wie sie aufgetaucht war.
Wir sahen ihr beide stumm hinterher. »Was für ein himmlischer Anblick, nicht?«, schwärmte Will.
Ich ignorierte seine Bemerkung. Jetzt übermannte mich die Trauer. Kaum zu fassen, Elmon war tot? Mein Lehrer, mein Freund … Es fühlte sich an, als ob mit ihm ein großer Teil meiner Jugend gestorben war. Im Stillen verabschiedete ich mich und dachte über die vergangene Zeit mit ihm nach.
Will schnipste mir mit den Fingern vor dem Gesicht herum. »Hast du gehört, was ich gesagt habe?«
Wie ich von ihm gewohnt war, bewies Will überhaupt kein Taktgefühl. Doch da dies scheinbar nicht in der Natur der Zwerge war, konnte ich ihm nicht böse sein. So schüttelte ich nur den Kopf und meinte. »Äh, ja … himmlischer Anblick. Kann ich nur bestätigen.«
»Was sie wohl mit Schutz des Mondes gemeint hat?«
Ich straffte die Schultern und versuchte, meine Trauer hinter mir zu lassen. »Für jeden anderen mag dies wie eine nichtssagende Floskel klingen, doch für die Mondelfen hat sie durchaus eine tiefe Bedeutung. Durch das Mondlicht verbessern sich körperliche Prozesse. Reflexe, Mut, ihre Sinne und sogar der natürliche Heilungsprozess werden verstärkt. Jede Wunde schließt und regeneriert sich, und bei Vollmond erneuern sich all ihre Lichtzellen.«
»Was sind Lichtzellen?«, wollte Will wissen.
Allmählich strengte mich seine Neugierde an. Eigentlich wollte ich jetzt nur meinen ehemaligen Lehrer betrauern. So fuhr ich seufzend fort. »Lichtzellen bilden sich bei den Mondelfen, wenn sie ein bestimmtes Alter erreicht haben. Ab diesen Zeitpunkt altern sie auch nicht mehr. Außerdem können sie Gefahren spüren, lange bevor sie eintreten.« Ich stand auf. »Bitte entschuldige mich, Will. Ich muss noch so einiges vorbereiten, ehe ich aufbreche.«
Will erhob sich ebenfalls. Er wirkte entschlossen und Vorfreude glitzerte in seinem Gesicht. »Da bist du nicht der Einzige. Ich werde dich natürlich auf diese Reise begleiten!«
Ich sah ihn mit überraschter Miene an. »Bist du sicher? Was wird aus der Schmiede? Der alte Fuchs wird nicht gerade erfreut darüber sein.«
Doch Will machte nur einen abfälligen Laut. »Pft, der alte Fuchs kann mir gestohlen bleiben. Genauso wie diese Schmiede. Viel zu lange habe ich hier meine Zeit vergeudet. Du weißt doch, John, ich bin ein Zwerg, der die Weite der Welt braucht, die Höhen der Berge und die Tiefen der Gewässer. Außerdem wird es allmählich wieder Zeit, dass wir beide ein anständiges Abenteuer erleben.«
Ich machte kein Geheimnis daraus, dass mich sein Entschluss freute. Will war nach Elmon mein ältester Freund und bereits einige Male brachen wir gemeinsamen auf in die Welt. Einen besseren Gefährten konnte man sich nicht wünschen. »Also dann, mein Freund, lass uns alles vorbereiten. Wir treffen uns am südlichen Ausgang der Stadt, wenn die Sonne tief steht.«