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STROM DER VERGANGENHEIT
Оглавление»Was war das?«
Meine Stimme überschlug sich förmlich, nachdem ich von einem starken Luftstoß fast umgeworfen wurde. Verwundert drehte ich mich zu Onkel Aaron, der mit mir gemeinsam auf dem Feld arbeitete. Da stockte ich. Dort, wo er vor einer Sekunde noch Möhren geerntet hatte, war jetzt nichts als gähnende Leere – wie vom Erdboden verschluckt. Verwirrt sah ich mich um, registrierte dann eine Bewegung im Augenwinkel.
Da stand mein Onkel. Etwa zwanzig Meter außerhalb des Ackers, unmittelbar vor einem Apfelbaum, und steckte elegant seine Doppelschwerter weg. Er bückte sich und las etwas vom Boden auf. Summend schlenderte er zu mir zurück, als ob nichts gewesen wäre.
Jetzt erkannte ich einen perfekt geviertelten Apfel in Onkel Aarons Hand. Er warf sich ein Stückchen in den Mund und sagte schmatzend: »Bedien dich.«
Doch ich zögerte. Mein Blick verharrte auf seiner Gestalt. »Wie … wie hast du das gemacht, Onkel?«
Er neigte seinen Kopf zur Seite und steckte sich ein weiteres Stück in den Mund. Allmählich zeichnete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht ab.
»Jetzt tu nicht so, du weißt genau was ich meine. Der Luftstoß, dein plötzliches Verschwinden, die Schwerter, der Apfel … Mach das nochmal, ich will es nun genau beobachten!« Die Vorfreude ließ mich regelrecht hüpfen.
Aaron gähnte ausgiebig und streckte sich wie ein gebrechlicher Mann. »Du verlangst deinem alten Onkel ganz schön was ab, weißt du das?«
»Spiel nicht den alten Tattergreis. Ich weiß genau, dass dich das nicht angestrengt hat. Du bist ja nicht einmal außer Atem. Außerdem lässt du dir doch sonst nie eine Gelegenheit entgehen, mit einem deiner Kunststücke anzugeben.«
Onkel Aaron gluckste belustigt. Es machte ihm sichtbar Spaß, mich in Unwissenheit zu lassen. In der Hinsicht war er sehr kindisch. »Was heißt hier angeben? Diese Kunststücke mache ich nur, um dich bei so langweiligen Erntearbeiten bei Laune zu halten. Selbst schuld, wenn du nicht richtig aufpasst.« Letzteres betonte er, als ob dies sein letztes Wort wäre. Doch nachdem er mein enttäuschtes Gesicht vernahm, sprach er versöhnlich: »Also schön, aber danach machen wir uns wieder an die Arbeit. Wir wollen schließlich vor Einbruch der Dunkelheit zuhause sein.«
Auf meinen Lippen breitete sich ein Grinsen aus. »Einverstanden, und dieses Mal passe ich auch auf.«
Onkel Aaron zwinkerte mir zu, räusperte sich und nahm einen tiefen Atemzug. Dabei schien sich die Luft, um seinem Körper, bläulich zu verfärben. Ein majestätischer Anblick, der mich faszinierte. Alles geriet in Wallung. Selbst der entfernte Apfelbaum wurde von dieser Energie erfasst. Der ganze Stamm pendelte im Einklang mit meinem Onkel. Ich hielt die Augen weit geöffnet, um nichts zu verpassen. Und dann ging alles Schlag auf Schlag: Eine der Früchte löste sich und die Schwerkraft erledigte den Rest. Doch ehe der Apfel auf der Erde aufprallte, war da erneut ein Luftstoß, der mich dieses Mal gänzlich umwarf. Ich vernahm nur noch den singenden Klang blitzschnell geschwungener Klingen.
Am Boden liegend richtete ich meinen Blick rasch wieder auf den Apfelbaum. An der Stelle, wo die Frucht hätte aufschlagen müssen, stand Onkel Aaron mit gezogenen Schwertern. Vor ihm ein aufgespaltener Apfel. Wie hatte er es nur geschafft, im Sekundenbruchteil diese Distanz zu überwinden?
»Onkel …«, rief ich verärgert. »Ich habe es schon wieder verpasst!«
Aaron fing an, laut zu lachen. Es trieb ihm sogar die Tränen in die Augen. »Du brauchst dich doch nicht gleich vor Ehrfurcht auf den Boden werfen!«
Schmollend stand ich auf und rieb mir den Hintern, während ich Richtung Baum torkelte. Obwohl sein Gelächter ansteckend war, versuchte ich ernst zu bleiben. »Lass es mich auch versuchen«, bat ich ihn und deutete auf die Schwerter in seiner Hand.
Mein Onkel steckte die Klingen weg und bot mir ein Stück des Apfels an. »Für solche Kunststücke braucht man erst einmal einen festen Stand. Und, nicht zu vergessen, viel Geschick und Geschwindigkeit«, fügte er zwinkernd hinzu.
»Ich bin schnell«, wandte ich rasch ein, »und geschickt allemal!«
Angesichts meiner Entschlossenheit fing er wieder an zu kichern. Er hob einen Stock vom Boden auf und drückte ihn mir vor die Brust. »Für den Anfang kannst du es hiermit versuchen.«
Verdutzt und enttäuscht zugleich wog ich ihn in den Händen. »Aber Onkel, ich möchte es doch mit einem deiner Schwerter versuchen.«
Er las einen heilen Apfel auf und warf ihn sich abwechselnd von einer Hand in die andere. »Wir machen es so: Wenn du in der Lage bist, den hier zu treffen, darfst du es mit einem Schwert versuchen. Wie klingt das?«
»Einverstanden, aber versprochen ist versprochen, ja?«
Aaron grinste. »Selbstverständlich.«
Ich nahm selbstbewusst eine Kampfpose ein und wartete konzentriert ab. Mein Onkel fackelte nicht lange. Er warf den Apfel so hoch in die Luft, dass ich den Kopf weit in den Nacken legen musste. Doch die tiefstehende Sonne blendete meine Augen. Blindlings schwang ich den Stock und drehte mich wie ein Kreisel. Erneut verlor ich das Gleichgewicht und landete auf dem Hintern.
Onkel Aaron lachte so sehr, dass er sich die Hände auf den Bauch pressen. »Nun dreh mir nicht gleich durch«, prustete er und wischte sich über das Gesicht. »Aber immerhin, mein Lieber, wenn du den Apfel mit diesem Schwung getroffen hättest, wäre nichts mehr von ihm übrig.« Er reichte mir seine Hand.
Wütend keifte ich den Stock an und warf ihn in die Krone des Baumes.
»Mach dir nichts draus, John. Alles hat seine Zeit.« Sein Magen gab ein lautes Grummeln von sich. »Und jetzt ist Zeit fürs Essen. Lass uns den Rest aufsammeln und nach Hause gehen.«
Während wir die Früchte auflasen, ging mir eine Frage durch den Kopf. »Wieso trägst du eigentlich immer deine Schwerter mit dir herum?«
Onkel Aaron grinste schelmisch. »Natürlich, um dir kleine Kunststücke vorzuführen.«
»Ach, das ist Humbug. Du hast sie doch auch dabei, wenn du alleine unterwegs bist. Und das, obwohl es hier weder gefährliche Kreaturen noch Banditen gibt. Wozu also?«
Über Aarons Gesicht huschte ein Schatten. Diesen versuchte er zwar mit einem Lächeln zu überspielen, doch das gelang im nur schlecht. »Ich bin eben ein alter Krieger … Und ein Krieger ist stets bereit, einer Gefahr entgegenzutreten«, fügte er hinzu. Obwohl er mich anlächelte, entging mir nicht seine Nervosität. Irgendetwas verheimlichte er. »Wie dem auch sei. Die Sonne geht unter. Ab nach Hause.«
Ich verzog kurz irritiert mein Gesicht, tat sein Verhalten dann mit einem Achselzucken ab.
Wir schulterten unsere Körbe, die mittlerweile allerlei verschiedene Früchte, Gemüse, Getreide und Pilze beinhalteten, und machten uns auf dem Weg zurück zur Hütte. Diese lag etwas abseits eines kleinen Dorfes, in welchem wir immer einen Teil der Ernte verkauften. Schweigend marschierten wir über die weiten Felder. Unter der Last des Korbes fiel es mir schwer, mit meinem Onkel Schritt zu halten.
Aaron brach schließlich das Schweigen. »Wie ich sehe, mutest du dir täglich immer mehr Gewicht zu. Soll ich dir nicht lieber etwas Last abnehmen?«
Doch ich winkte ab und keuchte: »Nein, Onkel, ich schaffe das schon. Immerhin will ich eines Tages stärker und schneller sein als du.«
Das entlockte ihm wieder ein herzliches Lachen. »Ich kann es jetzt schon kaum erwarten. Aber pass auf, dass du nicht eines Tages zusammenbrichst. Vergiss nicht, man sollte sich im Leben nicht mit unnötigem Ballast quälen.«
Über seine letzte Bemerkung dachte ich noch lange nach.
Am späten Abend aßen wir reichlich selbstgebackenes Brot und gebratene Pilze. Ich beobachtete meinen Onkel beim Kochen. Er schien niemals auch nur eine überflüssige Bewegung zu machen.
Nach dem Essen saßen wir, wie an den meisten Abenden, gemütlich beisammen. Geistesabwesend starrte ich auf die vor mir liegende Feuerstelle.
»Wo bist du denn mit deinen Gedanken?«, fragte er neugierig.
Die tänzelnden Flammen hatten mich regelrecht hypnotisiert. Feuer fand ich schon immer faszinierend. Es hatte etwas Reinigendes. »Ich denke darüber nach, was du vorhin gesagt hast.«
»Ach, was habe ich denn Großartiges gesagt, das dich so zum Grübeln bringt?«
Ich wandte mich den Flammen ab und sah meinem Onkel direkt in die Augen. »Dass man sich nicht mit unnötigem Ballast quälen soll.«
Onkel Aaron warf seine Stirn in Falten. »Und wieso beschäftigt dich das so sehr?«
Ich wandte mich wieder dem Feuer zu. Es fiel mir nicht leicht, dies zu erklären, da ich selbst nicht wusste, warum mir diese Worte so im Gedächtnis geblieben sind. »Nun ja«, sagte ich zögerlich, »ich bezweifle, dass du damit den schweren Korb gemeint hast. Du hattest deinen das-ist-eine-wichtige-Lektion-Blick aufgesetzt. Und jetzt frage ich mich, welcher Sinn wohl dahinterstecken könnte.«
»Ach, ich wusste gar nicht, dass ich so einen Blick habe.« Er zwinkerte mir lächelnd zu. »Für deine sieben Jahre bist du schon ziemlich weitsichtig, weißt du das? Du bist neugierig und hinterfragst alles und das macht mich ziemlich stolz. Komm, John«, er erhob sich aus seinem Sessel und trat zur Tür, »lass uns einen Spaziergang machen.«
Es war eine klare Oktobernacht und der Mond leuchtete in voller Pracht. Onkel Aaron führte mich zum Fluss nahe unserer Hütte. Mein Blick wanderte die Wasseroberfläche entlang. Obwohl es eine angenehm milde Nacht war, zitterte ich beim bloßen Gedanken da hineinzuspringen.
»Weißt du, mein Junge,«, brach Aaron die Stille, »man kann sein Leben lang nach Stärke und Freiheit streben, doch wird man immer ein Gefangener bleiben, solange die Gedanken einen unter Kontrolle haben.«
Ich verstand nicht genau, was er meinte, und runzelte die Stirn. »Soll das heißen, ich darf nicht mehr denken?«
»Das Denken an und für sich ist keine schlechte Eigenschaft. Du wirst häufig in Situationen geraten, in denen es erforderlich ist, die nächsten Schritte zu planen. Aber es ist wichtig, dass du nicht Sklave deiner eigenen Gedanken wirst. Merke dir: ein Gedanke kann schwerer als hundert Körbe sein und sowohl deine Bewegungen als auch dein Gemüt belasten. Lass sie deshalb kommen und auch wieder gehen, aber halte sie nicht fest – und, was noch schlimmer wäre, unterdrücke sie nicht.«
Onkel Aaron blickte tief in den Fluss. Er ließ eine ganze Weile verstreichen, in der er sich folgende Wörter zurechtlegen: »Du bist ein schlauer Junge und deine Zähigkeit und dein Streben nach Stärke sind bewundernswert. Doch du vergeudest zu viel Zeit damit, dir einen schweren Kopf zu machen.«
Ich sah ihn etwas verwirrt an und wog meinen Kopf in den Händen. Daraufhin schaute ich ihm selbstbewusst entgegen. »Keine Angst, Onkel. Ich habe sehr kräftige Schultern.«
»Ich wollte nicht an deiner Hartnäckigkeit zweifeln«, lachte er heiter. »Es geht um etwas anderes ... aber dies wirst du schon noch früh genug verstehen.« Er trat einen Schritt näher an das Gewässer. »Mach es einfach wie der Fluss und lass die Gedanken, die dich beschweren, fließen. Los, schau es dir an.«
Ich stellte mich neben ihn und blickte ins Wasser. Durch den gleichmäßigen Strom sah man unsere beiden Spiegelbilder. »Und was soll ich da jetzt genau sehen?«
Aaron ließ sich auf die Knie fallen und berührte fast mit seiner Nasenspitze die Wasseroberfläche. »Geh näher heran, dann wirst du es erleben.«
Ich zuckte mit den Schultern und tat es ihm gleich.
»Und, kannst du es jetzt erkennen?«, fragte er.
Ohne irgendeine Erkenntnis erlangt zu haben, sagte ich, allmählich gelangweilt: »Nein, immer noch nichts.« Ich wandte meinen Blick ab.
»Dann pass jetzt ganz gut auf.« Onkel Aaron nahm seinen Zeigefinger und wühlte die Wasseroberfläche auf.
Seufzend blickte ich erneut in den Fluss und wartete, bis sich die Spiegelbilder neu bildeten. Aber dann geriet ich ins Stocken – was war das? Neben meinem Spiegelbild war nicht mehr das Aarons, sondern das einer zähnefletschenden Kreatur zu sehen. Ich bekam gar nicht die Gelegenheit, das Wesen genauer zu betrachten, denn es hatte mich in den Fluss gestoßen. Die Strömung wurde prompt stärker und riss meinen Körper fort.
Panisch kämpfte ich mich an die Wasseroberfläche, was angesichts des wütenden Stromes gar nicht einfach war. Die Kälte schnürte mir die Luft ab. Ich versuchte, meine Panik unter Kontrolle zu bringen, doch je stärker ich gegen den Strom ankämpfte, desto heftiger wurde er. So blieb mir nichts anderes übrig, als den Kopf über Wasser halten und zu hoffen, dass ich es irgendwie schaffen würde. Mein Körper prallte gegen einen kleinen herausragenden Fels, an dem es mir gelang, mich festzuhalten.
Ich schrie verzweifelt nach meinem Onkel. Da realisierte ich, dass er unweit von mir am Flussufer stand. War ich nicht kilometerweit fortgerissen worden? Doch anstatt mir zu helfen, betrachtete Onkel Aaron entspannt das Geschehen.
»Halt nicht daran fest, lass einfach los!«, rief er mir wie aus einer fernen Welt zu.
Selbst wenn es mein Wille gewesen wäre, hätte ich keine Sekunde länger durchgehalten. So blieb mir nichts anderes übrig, als auf Aaron zu hören, und ließ mich vom Strom mitreißen. Vor meinem geistigen Auge blitzte ein letztes Mal diese angsteinflößende Kreatur auf. Dann umfing mich Dunkelheit.