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2. Materiell-funktionaler Familienbegriff
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Fall 2[92]:
Der in Deutschland lebende Ausländer A ist nach mehrmals gescheitertem Asylverfahren ausreisepflichtig und befindet sich in Abschiebehaft. Bis dahin lebte er längere Zeit mit der deutschen F in nichtehelicher Lebensgemeinschaft zusammen. Ihr gemeinsames Kind, für das A die Vaterschaft anerkannt hat, ist ein Jahr alt. A und F wehren sich gegen die Abschiebung. – Abwandlung: A und F sind geschieden. Das Kind wohnt bei F, die auch sorgeberechtigt ist. A bezahlt regelmäßig Unterhalt für das Kind und nimmt die vereinbarten Umgangstermine wahr.
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A selbst kann (im Ausgangsfall von Fall 2) gegen seine Abschiebung Art. 6 Abs. 1 GG in Anspruch nehmen. Er lebt mit seinem Kind zusammen, schafft damit die Voraussetzung, seine Elternverantwortung tatsächlich wahrzunehmen und bildet deshalb mit ihm eine Familie. Gegenüber einem Eingriff des Staates in diese Gemeinschaft schützt das Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG. Der Charakter einer wertentscheidenden Grundsatznorm verpflichtet die Ausländerbehörden, diese – möglicherweise auch erst nach Abschluss des Asylverfahrens geschaffene – familiäre Situation zu berücksichtigen. Ist die Lebensgemeinschaft zwischen Vater und Kind nur in Deutschland zu verwirklichen, weil diesem (etwa wegen der Beziehungen zu seiner deutschen Mutter) eine Ausreise nicht zugemutet werden kann, „so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Belange zurück“.[93]
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Strittig ist aber, in welchem Umfang hier die F den Familienschutz des Art. 6 Abs. 1 GG für sich in Anspruch nehmen kann. Sie kann es jedenfalls, soweit es um den Schutz der Lebensgemeinschaft zwischen ihr und dem Kind geht. In Fall 2 beruft sie sich aber auf ihre nichteheliche Lebensgemeinschaft mit A als einer geschützten Familiengemeinschaft der Elternteile. Ein Teil des Schrifttums verneint einen solchen Schutz und geht bei zusammenlebenden, nicht miteinander verheirateten Eltern und ihren Kindern von zwei Familien (zwei Eltern-Kind-Beziehungen) aus.[94] Dagegen wird für eine Familie geltend gemacht, dass sich der verfassungsrechtliche Schutz der „Familie“ aus der tatsächlichen Lebensgemeinschaft der Eltern mit den Kindern in Wahrnehmung von Pflege und Erziehung herleite. Diese Lebensgemeinschaft umfasse als Einheit auch die beiden Elternteile.[95]
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Das BVerfG hatte lange keinen verbindlichen Familienbegriff formuliert. Es hat zwar davon gesprochen, dass „Konkubinate“[96], auch wenn sie „[…] jahrelang bestanden haben, […] keinen verfassungsrechtlichen Schutz beanspruchen“[97] können, aber diese Entscheidung war „aus dem Gesichtspunkt des Schutzes der Institution Ehe“[98] getroffen worden. Andererseits hat es den Familienbegriff nicht statisch-definitiv umrissen, sondern begreift ihn funktional.
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In einer Leitentscheidung[99] hat das Gericht die funktionale Stufung der Familie i.S.d. Art. 6 Abs. 1 GG näher dargelegt und dabei die unterschiedliche Schutzdichte des Grundgesetzes für die jeweils vorliegende Familienfunktion hervorgehoben. Der Familienschutz des Grundgesetzes bezieht sich als erstes und in seinem Kern auf die Familie als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft. Diese Familie wird „als verantwortliche Elternschaft […] von der prinzipiellen Schutzbedürftigkeit des heranwachsenden Kindes bestimmt“.[100] Mit zurückgehender Erziehungs- und Pflegebedürftigkeit wandelt sich die Familie von einer Lebens- zu einer bloßen Hausgemeinschaft, in der die Mitglieder trotz gemeinsamen Haushalts ein weithin individuelles Leben führen. Nach Auflösung dieser Hausgemeinschaft bleibt die Familie als Begegnungsgemeinschaft erhalten.[101] Die Entfaltung des verfassungsrechtlichen Schutzes (Institutsgarantie, Freiheitsrecht, wertentscheidende Grundsatznorm) wirkt nicht auf jede Familie in vollem Umfang, sondern in dem Maße, in dem von ihren Mitgliedern (Eltern) die beschriebenen Familienfunktionen wahrgenommen werden. So hat das BVerfG im Falle der Adoption eines (auszuweisenden) erwachsenen Ausländers den Maßstab des Art. 6 Abs. 1 GG auf eine bloße Begegnungsgemeinschaft reduziert, die auch durch Besuche, Brief- und Telefonkontakte aufrechterhalten werden könne.[102] Diese vom BVerfG entwickelte funktionale Stufung von „Familie“ und die damit einhergehende, sich im Laufe der Zeit funktionsbedingt ändernde Schutzwirkung des Art. 6 Abs. 1 GG sprechen dafür, (bei gelebter Hausgemeinschaft) gegebenenfalls auch Dritte in den Schutzbereich der Norm einzubeziehen und als Mitglieder der „Familie“ anzuerkennen, sofern auf Dauer von ihnen Familienfunktionen wahrgenommen werden. Die Institutsgarantie gewährleistet (wie beim Eheschutz) ein Recht zu einer Familiengemeinschaft im Bundesgebiet aber nur, wenn sich alle Familienmitglieder rechtmäßig auf Dauer im Bundesgebiet aufhalten.[103] Aufenthaltsrechtliche Schutzwirkung geht dagegen zunächst nur von Art. 6 Abs. 1 GG als wertentscheidender Grundsatznorm aus, der bei ermessensfehlerhafter Rechtsausübung ein Grundrechtsschutz nachfolgt.
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Nach diesen Maßstäben stellt die Gemeinschaft nicht miteinander verheirateter Elternteile eine Familie dar.[104] Das BVerfG spricht von der „durch Geburt entstandenen Familie“[105] und hat diese Auffassung nun im Hinblick auf die Beziehung zwischen dem biologischen (aber nicht im Rechtssinne anerkannten) Vater und seinem Kind deutlich zum Ausdruck gebracht. Danach stellt der Familienbegriff des Art. 6 Abs. 1 GG auf die tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zwischen Eltern und Kind ab, auf die faktische Wahrnehmung der elterlichen Verantwortung.[106] Auch die Gemeinschaft zwischen dem biologischen Vater und seinem Kind bildet deshalb eine Familie: Leben die Eltern mit dem Kind zusammen, besteht eine Familie, nehmen sie getrennt voneinander Verantwortung für das Kind wahr, hat dieses zwei nach Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Familien.[107]
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In Fall 2 kann F deshalb die Ausweisung des A nach Art. 6 Abs. 1 GG angreifen, wenn diese Ausweisung die grundlegende Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 1 GG verkannt hat. Dies hängt davon ab, ob von der Ausländerbehörde die hier vorliegende Familie als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft hinreichend gewürdigt wurde. Wäre die F nach den Umständen des Einzelfalls in ihrer Stellung und Aufgabe als Mutter auf die Mithilfe des A (maßgeblich) angewiesen, so dürften allgemeine aufenthaltspolitische Erwägungen eine Ausweisung kaum tragen.
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Auch in der Abwandlung von Fall 2 kann sich A auf den Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG berufen, weil er für sein Kind maßgebliche Familienfunktionen wahrnimmt, nämlich das Umgangsrecht des Kindes (§ 1684 Abs. 1) als grundlegende Aufgabe im Kernbereich der Familie (Erziehungsgemeinschaft für die leibliche und seelische Entwicklung des Kindes). Dass er mit seinem Kind nicht in häuslicher Gemeinschaft lebt, schließt den Familienschutz des Art. 6 Abs. 1 GG für ihn nicht aus.[108]
Erster Teil Grundlagen › § 2 Verfassungsrechtliche Implikationen › III. „Eltern“ und „Elternrecht“