Читать книгу Der Wende-Journalismus. Verraten und verkauft? - Martin Naumann - Страница 6

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Während Meisel annahm, dass die neue Technik perfekt funktioniere, ärgerte sich ein paar Türen weiter der Bildchef Carl Conrad mit einem nicht unwichtigen Teil dieser Technik herum. Gleich früh hatte er mit tränenden Augen in der ozongeschwängerten Luft des Bildraumes zwei Stunden vor dem Computer gehockt und Bilder ausgewählt, die von den Agenturen aus aller Welt abgesendet worden waren: Krieg und Katastrophen, Skandale, Protokolle, aufreizende Mode und natürlich Sport, der vor allem aus Tennis und Fußball bestand; 400 Bilder, die Medien waren unersättlich. Doch vieles, was unter Lebensgefahr aufgenommen worden war, was von fernen Bildchefs ausgewählt und von der Technik auf die Reise um den ganzen Erdball geschickt wurde, landete dann im Papierkorb der Redaktion.

Das wäre kein Grund für Ärger gewesen, daran hatte sich Conrad gewöhnt. Aber dass der Computer gleich mit drei Fehlern gezeigt hatte, wer hier Herr im Hause war, das hatte ihn doch aus der Fassung gebracht. Erst war er abgestürzt. Ein angekommenes Foto, das er ins System schicken wollte, hatte sich dabei in merkwürdigem Zick-Zackmuster aufgelöst. Waren Viren im Spiel? Die Zeitungen peitschten den Virus Michelangelo hoch, worüber die Hersteller von Anti-Virenprogrammen nicht gerade böse waren. Doch Viren oder nicht, damit vergeudete man nur Zeit. Er war verärgert, zumal es die Systembetreuer scheinbar nicht eilig hatten. Als sie endlich kamen, ließen sie einige Unsicherheiten bei der Diagnose erkennen, bevor es ihnen gelang, das Gerät wieder ins Computerleben zurückzurufen. Kaum war das geschafft, stellte er fest, dass einige der angekündigten Fotos fehlten. Er rief den Funkraum der Agentur an, wo die Kollegen versicherten, alles richtig auf die Reise geschickt zu haben. Er flehte sie an, wenigstens das Foto vom Eisenbahnunglück noch mal zu senden, weil danach dringend gefragt wurde. Dann hatte er ein Porträtfoto vor sich, der SPD-Vize, unzweifelhaft mit dieser Haarpracht, Conrad hatte ihn selbst einmal fotografiert, er war es, aber er war es auch nicht. Die große Geheimratsecke glänzte auf der falschen Seite und der Anzug war auch verkehrt geknöpft. Er brauchte sich den Laserausdruck nicht erst durch die Rückseite anzusehen, das Bild war seitenverkehrt. Das konnten sie doch mit ihm nicht machen, wollten ihn denn heute alle ärgern? Also wieder den Funkraum angerufen, die Kollegen waren beleidigt, sie würden die Bilder nicht seitenverkehrt senden, was aber nichts an der Tatsache änderte. Inzwischen spuckte der Drucker Bild um Bild aus, der Bildchef beäugte sie misstrauisch, einem Model im futuristischem Aufputz sah man nicht an, ob es richtig oder gespiegelt war. Halt, da kam wieder ein Bild, eine Straßenszene, doch die Werbetexte glänzten in Spiegelschrift. Da verlangte er voller Ingrimm den Bildchef der Agentur, Conrad beschwerte sich nicht, sondern er wählte die feinere Art, die manchmal besser war und bat, dass alle Bilder in Zukunft einen Schriftzug tragen müssten, ein Transparent, einen Straßennamen oder ähnliches. Wie das? Ja, weil er sonst nicht erkennen könne, ob die Bilder gekontert ankommen. Da wurde ein Wirbel ausgelöst, die Experten standen zunächst vor einem Rätsel. Erst nach Tagen fanden sie den Fehler: bei einigen Empfangssystemen hatte der Computer links mit rechts verwechselt.

Natürlich musste sich alles erst einspielen, das war mit jeder neuen Technik so, aber Conrad war kein Techniker, sondern Journalist, der seine wertvolle Arbeitszeit mit dem Einfahren einer Technik verplemperte, für die er viel zu gut bezahlt wurde. Aber man war ja hier nicht in Südkorea, sondern in Deutschland, man hatte hier kein Plus – sondern ein Minuswachstum.

Endlich! Conrad wechselte zu seinem Schreibtisch. Jetzt musste er sich beeilen, um die Bilder für die Ressorts zusammenzustellen. Er konnte sich viel zu wenig um seine Fotoreporter kümmern, die all das zu bringen hatten, was von den Agenturen nicht zu erwarten war. Ein Betrieb, der, sensationell genug, schwarze Zahlen schrieb, war nicht so interessant wie Randale, in denen rivalisierende Gruppen aufeinander einschlugen, überall da hatte der Bildreporter zu sein, der an seinem Bauch ein Cityrufgerät trug, womit er, wie an einer elektronischen Schnur, an die Redaktion gefesselt war.

Und der Reporter wollte wissen: „Was passiert, wenn ich bei meiner Freundin bin und das Gerät fängt in der schönsten Minute an zu piepen und sie bekommt auch richtig einen Schreck fürs Leben? Oder wenn ich den Schreck bekomme, wer kommt dann für alles auf, für Schreck und Alimente?“ Ja, das war die Frage, wer kam auf? „Vielleicht eine Versicherung?“, schlug Conrad vor, die versicherten doch alles Mögliche.

„Und mein Ohr?“, wollte der Polizeireporter wissen, „wer kommt für meine Nervenschäden auf?“ Er schlief immer mit einem Hörer im Ohr, um ja keine Meldung im Polizeifunk zu verpassen, damit der Leser sich dann an dem verbogenen Blech erbauen konnte, froh darüber, dass es ihn diesmal noch nicht erwischt hatte.

Da klingelte das Telefon, Andreas, sein schnellster Mann rief vom Flughafen an, der große Schlag des Zolls gegen Drogenschmuggel wäre eine Ente, außer einigen tausend Zigaretten wäre nichts gewesen. „Na komm rein“, sagte Conrad und ärgerte sich, verflucht noch mal, das sollte das Titelbild sein. In diesem Augenblick betrat Peter Meisel in Begleitung des geschäftsführenden Redakteurs das Zimmer. Dieser stellte ihn kurz vor, der Kollege wolle sich hier mal ein bisschen umsehen.

Auch das noch. War er mit dieser Technik schon genug gestraft, so schickten sie ihm zum Überfluss noch diesen Wessi, diesen Herrn Meisel mit seiner Goldbrille auf den Hals. Das würde seinem Tagesprogramm den Rest geben. Und das Schlimmste, er musste die neue Technik auch noch loben, auf die er vorher so geflucht hatte: „Wir sind noch in der Einlaufphase“, sagte er und erklärte ihm kurz das System, die Funksignale, die ankommenden Bilder auf dem Bildschirm, die auf der Festplatte gespeichert würden. Die Platte könne aber nicht alle Bilder des Tages fassen, also müsse ständig ausgewählt werden, die guten auf den Drucker, die schlechten in den elektronischen Papierkorb. „Doch was ist gut und was schlecht? Glauben Sie, um das zu entscheiden, muss ich wissen, wer gerade Dienst hat“, ging Conrad in seiner Erklärung vielleicht schon einen Schritt zu weit. Aber der Wessi nickte, er kannte sich offenbar aus. Höflich interessiert sah er sich um und hörte zu. An der Wand hingen einige Wettersatellitenaufnahmen. Gerade wollte er danach fragen, als Conrad auf die Uhr sah: „Oh, schon zwölf, ich muss zur Mittagssitzung, vielleicht können Sie später noch einmal kommen, falls Sie die Technik interessiert.“ Den Mann war er los. Eilig schob er die bereitgelegten Fotos zusammen – kein Titelbild dabei. Er hetzte über den Gang und kam zu spät. Ganze drei Minuten. Das kommt doch hoffentlich nicht wieder vor? Die hohen Chefs warten zu lassen war beinahe eine Todsünde.

So hatte Conrad den Wessi bereits vergessen, als dieser sich wieder meldete. Jetzt war auch der Druck etwas geringer und er konnte sich seinem Gast besser widmen.

„Arbeiten Sie schon lange hier in der Redaktion?“

Was sollte diese Frage, er fühlte den Hintergedanken und antwortete unbestimmt: „Ja, schon lange.“

„Als Ressortleiter?“

„Erst nach der Wende, vorher Fotograf.“

Conrad gab sich einsilbig, außerdem meldete sich sein knurrender Magen und er sagte: „Irgendetwas muss ich jetzt essen, sonst fall ich um. Haben Sie schon gegessen? Mittagessen gibt es zwar nicht mehr, aber irgendeine Wurst werden sie schon noch haben.“ Da merkte auch Meisel, dass er das Essen völlig vergessen hatte und ging mit in die Kantine, der Saal war leer.

Als sie sich gegenüber saßen, blickte Conrad seinen Gast prüfend an. Dieser war nicht mehr der Jüngste, aber eine gepflegte Erscheinung, das spärliche Haar korrekt gekämmt. Conrad fuhr sich verstohlen über seine gewiss wieder wirre Haarpracht. Natürlich hatte sein Gast einen Maßanzug an, das sah man sofort, dazu ein zartblaues Oberhemd mit sicher passendem Schlips. Conrad dagegen trug ein offenes Hemd und wollte wenigstens den oberen Knopf schließen, da bemerkte er bei allem Gegensatz in der Kleiderordnung doch eine Gemeinsamkeit und er ließ den Knopf wieder los. Auch sein Gegenüber hatte graue Schläfen. Wer weiß, vielleicht waren sie sogar gleichaltrig. Doch darüber machte er sich keine Gedanken, ihn bewegte auf einmal etwas anderes, er musste diesem Kollegen Meisel schon einmal begegnet sein, aber wann und wo? Aus der Zeit vor der Wende sicher nicht, da war er mit westlichen Journalisten kaum zusammengekommen, wenn, dann zur Messe, aber da benahmen sich die beiden Lager äußerst reserviert, so, als hätte der andere eine ansteckende Krankheit. Außerdem, jeder Kontakt mit westlichen Journalisten konnte von der Stasi beobachtet werden, die dann unangenehme Nachforschungen anstellte. Plötzlich wurde dann eine geplante Reise gestrichen, ohne dass ersichtlich wurde warum. Aber auch die westdeutschen Journalisten hatten hinter jedem Kontaktversuch das Gespenst der Stasi gesehen. Wenn bei einem internationalen Fußballspiel auch westliche Bildreporter in das Stadion kamen, sah man etwas neidisch auf ihre bessere Technik, aber zu Gesprächen kam es kaum, sie waren zugeknöpft, vor allem, wenn man wissen wollte, was so ein Westkollege verdiene, das war ein absolutes Geheimnis.

Im Nachdenken dehnte sich das Schweigen in die Länge und Meisel suchte einen Anknüpfungspunkt. Die Redakteure waren nicht eben gesprächig gewesen, sie sortierten Agenturtexte, starrten auf die Bildschirme und erweckten mit einsilbigen Antworten den Eindruck von Stress. Er hoffte, der Bildchef sei mitteilsamer, und so sagte er in das Schweigen hinein: „Mein Kompliment, wie Sie die Umstellung vom Blei in die modernste Drucktechnik geschafft haben, das hätte bei uns viel länger gedauert. Technik kann man kaufen, sich umstellen, aber wie ist das hier oben in den Köpfen? Es muss doch schmerzlich sein, wenn Sie erst einer Diktatur das Wort geredet haben und sich nun in Demokratie üben.“

Nanu, das hatte noch kein Wessi wissen wollen, diese behandelten die Ossis, die für das Geschäft gebraucht wurden, wie rohe Eier. Davon hatte auch der Ministerpräsident bei seinem Besuch nichts wissen wollen. Wende in den Köpfen. Er las ja die Zeitung und wusste, dass er sich auf diese Journalisten verlassen konnte. Er hatte nur gefragt, ob viele Kollegen aus dem Westen in der Redaktion arbeiten würden und auf die Antwort, nur zwei, befriedigt genickt; der Osten wurde mit sich selbst fertig. Später allerdings, im kleinen Kreis, waren die Wessis unter sich. Neben dem Ministerpräsidenten und Chefredakteur stießen noch Geschäftsführer und Personalchef dazu. Der stellvertretende Chef aus dem Osten wurde ausgeladen, die zu besprechende Strategie war nicht für seine Ohren bestimmt.

Vielleicht waren die Deutschen Ost und West ein bisschen verklemmt im Umgang miteinander. Die Ausländer, die fasziniert auf das Schauspiel Deutsche Wiedervereinigung sahen, waren da kritischer. Conrad hatte verschiedentlich Germanisten aus den nordischen Ländern und Frankreich empfangen, die jedes Mal die gleiche Frage gestellt hatten, ob er sich noch wohl fühle bei dem Kurswechsel. Kunststück, sie wollten ja nicht ins Zeitungsgeschäft einsteigen.

Was also sollte Meisels Frage? Natürlich war das eine Wende um 170 Grad und natürlich wurden bei den etablierten Zeitungen nur ganz wenige Sündenböcke in die Wüste geschickt, denen es aber jetzt in den Oasen der Werbung auch nicht schlecht ging. Und da Conrad keine große Lust verspürte, sich noch lange mit dem Wessi zu unterhalten, war der Ton, in dem er antwortete, nicht eben der freundlichste: „Sicher ist es schmerzhaft, wenn man an etwas geglaubt hat, das sich dann als Utopie erweist. Doch wer ehrlich mit sich selbst Inventur machen kann, dem ist es auch möglich, ohne Gewissensbisse in eine neue Situation hineinzuwachsen. Wer also seinen Fehler oder auch Irrtum zugibt, ist immer noch besser als der, der niemals etwas falsch gemacht haben will. Und was heißt in Demokratie üben? Vielleicht müssen wir uns alle darin üben?“

„Na ich weiß nicht, den größten Nachholbedarf haben wohl Sie“, warf Meisel ein.

„Mag sein“, entgegnete Conrad und setzte den Gedankengang fort: „Auch in einer Diktatur kann es Demokratie geben und in einer Demokratie gibt es Diktatur, vor allem die Diktatur des Geldes. Sie haben ja immer in einer Demokratie gelebt, wo jeder die Freiheit hat, die Partei zu wählen, von der er glaubt, dass sie am besten die Probleme der Gesellschaft lösen kann. Wir hatten diese Freiheit nicht, weil es nur die eine Partei gab, ob sie nun SED, CDU oder sonst wie hieß. Wollen sie uns das zum Vorwurf machen?“

„Natürlich nicht, aber wenn man die Zeitungen vor der Wende liest, kann man doch nur mit dem Kopf schütteln, haben Sie sich dabei wohlgefühlt?“

„Nein bestimmt nicht. Und wenn die Demonstranten Pressefreiheit forderten, war damit bestimmt auch Freiheit für die Journalisten gemeint. Doch eine Gegenfrage: Fühlen Sie sich wohl bei der Lektüre bestimmter Zeitungen, mit denen nun auch der Osten überschwemmt wird?“

Doch Meisel fühlte sich nicht in die Enge getrieben, er wehrte ab: „Wir wollen hier doch nicht von der Boulevardpresse reden.“

Conrad trank den letzten Schluck Kaffee aus und sagte: „Immer wieder höre ich Vorwürfe, was wir alles falsch gemacht haben, nie ein Wort, was vielleicht besser war oder wenigsten Anerkennung, dass die Wende von innen heraus kam. Es ist doch eine Ironie der Geschichte, dass der im Wohlstand Lebende seine nach langer Irrfahrt endlich gelandeten Brüder und Schwestern verantwortlich machen will für den Sturm, der sie ans andere Ufer trieb, von wo aus sie nun mit eigener Kraft zurückgefunden haben.“

Und weil Meisel auf dieses Bild nicht antwortete, aber auch keinerlei Anstalten machte zu gehen, wurde er noch eine Spur abweisender, ja er gab sich direkt Mühe, seinen Worten einen unfreundlichen Klang zu geben, als er sagte: „Wir sind also angekommen. Doch wenn ich jetzt das Heer der Wiedereinsteiger, Banken, Versicherungen, Gebrauchtwagenhändler, Großverkäufer, der kleinen und großen Betrüger sehe oder gar die Treuhand, den radikalsten Arbeitsplatz-Vernichter in der Geschichte Deutschlands, so muss ich zu dem Schluss kommen, dass wir uns aus eigener Kraft befreit haben, nur um anschließend unter die Räuber zu fallen.“ Na, wenn das nicht gesessen hat, dachte Conrad, den bin ich los.

Doch Meisel hatte sich in der Gewalt, er ließ sich nicht anmerken wie wütend er auf Conrad war, der, mit bester Westtechnik ausgerüstet, ihn so heftig anging, anstatt dankbar zu sein. Und so antwortete er, ohne die Stimme zu heben: „Ich bin hierher gekommen, um für meine Zeitung über den Aufschwung Ost zu berichten, Ich sehe diesen Aufschwung“, und mit weit ausholender Handbewegung in den öden Saal hinein meinte er die neue Technik, „den Sie offenbar nicht wahrhaben wollen. Man könnte fast meinen, Sie wollen mich provozieren; also jetzt ehrlich: Wie schätzen Sie die gegenwärtige Entwicklung ein?“

Malheur, dachte Conrad, das ist eben ein hartgekochter Wessi, der zuckt mit keiner Wimper, obwohl er eben indirekt zu den Räubern gerechnet worden war.

Ja die Zeit – wie sollte er die Zeit einschätzen, jetzt wo alles im Umbruch war, wo sich die Werte in ihr Gegenteil verkehrten. Etwas Positives war nun negativ und etwas Negatives folgerichtig positiv. Ein Lehrer, der nach dem Hochschulstudium als Lehrer nicht tauglich war, was vorzüglich als ideologische Verweigerung ausgelegt werden konnte, war nun reif für einen Ministerposten. Ein Arbeiter mit zwei linken Händen und Bummelschichten, der also nie ausgezeichnet werden konnte, marschierte nun unbelastet in die Freiheit, die ihn allerdings wie beim Rodeo abwerfen wird. Ein Held der Arbeit, der diesen Titel nicht wegen fleißiger Teilnahme am Parteilehrjahr bekommen hatte, sondern wegen seiner Fähigkeit, aus Schrott noch Qualität zu machen, war nun verdächtig und arbeitslos. Ein Hochschulabschluss war jetzt vielleicht keiner mehr. Ein Offizier der NVA fand sich in der Bundeswehr wieder, aber um einige Dienstgrade degradiert, obwohl er mit seiner russischen MIG 29 ebenso schnell war wie sein westdeutscher Kollege mit der amerikanischen F 14. Die Lehrer hatten das falsche Fach studiert, den Arbeitern wurde niedrige Produktivität bescheinigt. Ein reparaturbedürftiges großes Mietshaus, das in der DDR nichts als Ärger eingebracht hatte, war nun plötzlich im geeinten Deutschland eine Million wert. Und immer bestimmte der Westen, was gut oder böse, was falsch oder richtig zu sein hatte.

Die Feindbilder waren weg, damit aber auch eine wichtige Triebkraft, es mussten neue her. Da kam das allgegenwärtige Gespenst der Stasiakten gerade recht. Jeder konnte angeklagt werden, nicht gerade durch ein Gericht, da war man zu sehr Rechtsstaat, das ging viel besser durch die Medien, durch selbsternannte Tribunale oder ganz einfach durch die Personalchefs. Und es musste nicht eine Schuld bewiesen werden, sondern der Delinquent seine Unschuld. Justitia stand Kopf. War das der neue Rechtsstaat? Und an der Spitze der modernen Inquisition stand ein dreihundert Jahre zu spät geborener Diener der Kirche, der, mit heiligem Schwert um sich schlagend, den Schriften der Täter mehr glaubte als den Worten der Angeklagten und an den Pranger gestellten. Natürlich waren darunter Leute, die manche Karriere zerstört hatten und die sogar manchen ins Gefängnis gebracht hatten. Aber jede Bagatelle wurde nun aufgebläht und wieder Karieren vernichtet, manchmal zum Schaden der Gesellschaft.

Conrad hütete sich, diese Gedanken preiszugeben, das würde der Wessi nicht verstehen wollen, und so sagte er stattdessen: „Wie soll ich die Zeit einschätzen? Als die Wiedervereinigung so plötzlich und unerwartet kam, da zeigte sich Misstrauen und Unbehagen bei den europäischen Nachbarn und in Übersee. Wenn sich die reiche Bundesrepublik mit der DDR vereinte, die von sich glaubte, sie sei der zehntmächtigste Industriestaat, was Sie doch bestimmt auch angenommen haben, so konnte wohl ein neuer Staat entstehen, der allmächtig zu werden drohte; und sind die Deutschen nicht gebrandmarkt? In Wirklichkeit aber wurde die DDR verschluckt und die Bundesrepublik hat schwer daran zu verdauen. So hat heute diese Angst niemand mehr und das liegt nicht an dem Einsatz der Bundesrepublik für ein geeintes Europa, sondern am Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft, was für diesen Teil Deutschlands so eine Art verspäteten Morgentauplan bringt. Der Bundeskanzler hat in Leipzig blühende Landschaften versprochen, er hat nicht gelogen, denn auf den unbestellten Feldern steht das Unkraut in prächtiger Blüte. Jetzt werden die Reichen reicher, die Armen ärmer, die Fleißigen fleißiger, die Gescheiten gescheiter, die Dummen dümmer, die Erfolgreichen werden noch erfolgreicher sein, die Einsamen werden einsamer, die Kriminellen krimineller und die Karrieristen? Sie werden noch schnellere Pferde finden.“

„Wollen sie etwa das alte System wieder haben?“, fragte Peter Meisel mit Schärfe in der Stimme: „Was hat denn die DDR hinterlassen? Marode Betriebe, Städte, die sich kaum noch sanieren lassen, eine vergiftete Umwelt, allein schon dafür sind viele Milliarden nötig, dazu kommt die zerschlissene Infrastruktur, Telefonanlagen, die im Museum stehen müssten und Straßen, die den Namen nicht verdienen.“

„Nun, da muss ich Ihnen recht geben, ich will weder das alte System wieder haben noch will ich die 40 Jahre verfehlte Politik wegreden. Wir haben viel gewonnen, aber auch etwas Entscheidendes verloren, die Menschlichkeit, jetzt zählt nur noch das Geld.“

Da fuhr Meisel hoch: „Menschlichkeit? Sie wollen bei dem Unrechtsstaat doch nicht von Menschlichkeit reden? Das ist ein starkes Stück.“

„Warum nicht? Eben gerade deshalb! Und damit meine ich beispielsweise das kameradschaftliche Verhältnis am Arbeitsplatz, weil da niemand Angst vor Entlassung haben musste, war auch keiner des anderen Teufel. Und warum glauben Sie, wurden in der DDR trotz der Abschaffung des Paragraphen 218 mehr Kinder geboren als in der alten Bundesrepublik? Es gab sogar einen leichten Geburtenüberschuss! Weil die Partei das wollte? Nein, soweit ging ihr Einfluss nun wieder nicht. Aber die Familie hatte einen höheren Stellenwert. Die Frauen brauchten keine Angst um ihren Arbeitsplatz zu haben, heute werden sie als erste entlassen. Und die Sorgen um ihre Kinder waren geringer als sie es jetzt sind. Ein Staat ohne funktionierende Familie verspielt seine Zukunft.“

„Ja, und dann ab in die Krippe mit den Kindern, wo sie frühzeitig von der Partei-Ideologie beeinflusst wurden. Und auf die gesicherten Arbeitsplätze brauchen Sie sich auch nichts einzubilden, das war doch nur versteckte Arbeitslosigkeit.“

„Mit der Krippe, das war keine gute Lösung“, gab Conrad zu, „doch mit der Beeinflussung ist das so eine Sache; wie werden denn jetzt die Kinder beeinflusst? Weshalb nehmen denn die Gewalt an den Schulen und die Jugendkriminalität so erschreckend zu? Weil es ihnen im Fernsehen vorgespielt wird. Und dann finden sie eben nichts dabei, kleine Kinder zu töten, wieder ein vortrefflicher Stoff für die Medien, die erst die Gebrauchsanweisung dazu geliefert haben. Und da haben die Kinder Frust, weil ihre Eltern arbeitslos sind, weil wieder die Konsumbedürfnisse nicht befriedigt werden können, weil jetzt Geld das Maß aller Dinge ist. Mit der versteckten Arbeitslosigkeit haben Sie recht, ich möchte Ihnen dennoch eine Frage stellen: Was glauben Sie, was menschlicher ist, 50 Milliarden zur Subventionierung von Arbeit auszugeben oder diese Summe als Arbeitslosenunterstützung zu zahlen? Denken Sie an den sozialen Abstieg und die damit verbundenen Auswirkungen wieder auf die Kinder.“

Endlich blies Meisel zum Rückzug, stand auf und sagte: „An Ihnen ist ein Ideologe verlorengegangen.“

„Ganz bestimmt nicht, ich habe nur versucht, Wahrheiten auszusprechen, ein Ideologe kennt die Wahrheit, aber er spricht sie nicht unbedingt aus. Meine Meinung ist die, dass die Wende kommen musste und auch die Wiedervereinigung, doch die Chancen daraus wurden falsch eingeschätzt und verspielt.“

Meisel war höchst unzufrieden und die Verabschiedung entsprechend frostig.

Am Abend mussten beide noch über dieses Gespräch nachdenken.

Conrad ärgerte sein Verhalten, daran war nur der verdammte Stress Schuld und er dachte, der Meisel würde ihn mit Sicherheit für einen Parteiideologen halten.

Dieser wieder war sich im Zweifel, ob Conrad ihm nur Wahrheiten sagen wollte oder ob er ein Stalinist war.

Der Wende-Journalismus. Verraten und verkauft?

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