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Es war wohl mehr als Zufall, dass sich Meisel und Conrad am nächsten Tag über den Weg liefen. Sie begrüßten sich sehr höflich, wechselten ein paar belanglose Worte und standen dann noch einige Sekunden schweigend im Gang. Gerade wollte Conrad gehen, da hielt ihn Meisel zurück und fragte: „Kennen Sie die Kugellagerfabrik?“

Conrad sah ihn fragend an, was wollte dieser Journalist in der Kugellagerfabrik?

Meisel erklärte: „Ich will dort eine Wirtschaftsgeschichte recherchieren.“

Conrad wusste nicht allzu viel von diesem Betrieb, er war einige Male dort gewesen, über tausend Leute, große Kugellager, durch deren Ringe es sich gut fotografieren ließ, und kleine Kugellager, die, in endlos erscheinenden Reihen gelagert, ein interessantes Motiv ergaben.

Da fiel ihm ein, dass er kurz vor der Wende dort gewesen war und er erzählte Meisel davon, dass er die Jugendbrigade „Frieden“ fotografiert habe. Diese hatte zu Ehren des Weltfriedenstages am 1. September eine Sonderschicht gefahren. Das waren junge Leute, die eine Taktstraße in der Schleiferei bedienten, beherrschten, musste er schreiben, denn während im Westen der Mensch von der Technik beherrscht wurde, beherrschte im Osten der Mensch die Technik. Während im Westen ein Hilfsarbeiter ein Ventil je nach Manometerstand entweder auf- oder zudrehen musste, drehte der Chemiefacharbeiter im Osten das gleiche Ventil ebenso auf oder zu – aber er wusste, was dahinter vorging, Ein wirklich erhebender Unterschied!

Als Conrad die Jugendbrigade bei ihrer Sonderschicht fotografiert hatte, hing in der Halle ein nebelartiger Öl- und Schleifmitteldunst und da er empfindliche Bronchien hatte, musste er husten.

„Besonders gesund ist die Luft hier nicht“, hatte der Brigadier gegrinst.

„Habt ihr keine Entlüftung?“, fragte Conrad.

Da zeigte der Brigadier zur Decke, dort hing der Entlüftungskanal. Dieser führte bis zum Hallenende, wo die Schächte einfach aufhörten, quadratische schwarze Löcher. Er sagte: „Nur die Motoren und Ölabscheider fehlen, wir warten schon zwei Jahre darauf, Ölabscheider sind inzwischen unsere Lungen.“

Im Laufe der Zeit hatte Conrad die Erfahrung gemacht, dass die Leute ihm manches erzählten, ihm, einem Fotografen, was sie einem Redakteur nie und nimmer anvertraut hätten. Das lag nicht daran, das er besonders vertrauenswürdig wirkte oder dass er sich nie als oberschlauer Journalist ausgab, der alles zu wissen glaubte, nein, das lag einfach daran, dass er bloß fotografierte, während die Leute vom Wort alles aufschrieben. Davor hatten sie Respekt.

Gelegentlich schrieb Conrad seine Texte auch selbst. Und da es lästig ist, einen Text noch einmal zu ändern, funktionierte die Schere im Kopf immer besser. Einmal hatte er als Texteinstieg die Formulierung gewählt: Zugegeben, Handel ist keine einfache Sache.

Dahinter verbarg sich natürlich das mangelhafte Angebot, das durch allerlei Kunstgriffe der Verkäufer verbessert werden sollte. Dieser Satz wurde vom stellvertretenden Chefredakteur mit der Bemerkung „Wir geben nichts zu“ eigenhändig wieder gestrichen. Ein andermal hatte sich Conrad kritisch zu einer Kunstausstellung geäußert, in der ein Künstler allzu arrogant mit seinem Publikum umging: wer seine Bilder nicht verstünde, wäre selbst daran Schuld. Das sah nun auch die Redaktion so wie Conrad, aber als redaktioneller Beitrag unmöglich, also rückten sie ihn als Leserbrief ins Blatt. Was trotzdem einen unwilligen Anruf des Kultursekretärs der Partei zur Folge hatte. Die Macht spähte einerseits die Künstler aus, setzte Dutzende IMs auf sie an, andererseits versuchte sie, diese Leute nicht zu reizen, immer in der Angst, dass sie die Republik verlassen könnten. Manche Künstler nutzten das aus. Einmal musste Conrad im Vorzimmer des 1. Parteisekretärs des Bezirks warten, eine hochrangige Delegation hatte sich angekündigt, die er gut ins Bild zu setzen hatte. Da stürzte einer der Sekretäre aus der Tür, an seinem rotfleckigen Gesicht sah man, dass er erregt war, und er zischte durch die Zähne: „Mein Sohn muss auch 10 Jahre auf ein Auto warten.“ Aha, Conrad hatte kombiniert, da war einer im Zimmer, der bei der Partei bettelte. Und da kam er auch schon heraus, Donnerwetter, ein bekannter hochgelobter Maler. Da war Conrad dieser Sekretär gleich sympathischer geworden. Niemandem aber wäre es in den Sinn gekommen, abweichende Formen des Autohandels aufzuschreiben oder gar zu veröffentlichen.

Conrad hatte also von vorn herein Formulierungen gewählt, von denen er wusste, dass sie glatt durchgingen, wie zum Beispiel die Arbeiter mit ihren stolzen Produktionsleistungen, die nur danach zu trachten schienen, immer mehr zu produzieren mit immer weniger Material und Energie. Und da das schon Jahrzehnte so lief, hätte es eigentlich alles im Überfluss geben müssen. Ja es stimmte, die Arbeiter vollbrachten wahre Heldentaten, aber eben über diese Heldentaten durfte man nicht schreiben. Da lieferten sie auf schrottreifen Werkzeugmaschinen Qualität, die westlicher Spitzenqualität in nichts nachstand, sonst hätten sie ihre Produkte nicht nach den USA verkaufen können. Conrad hatte einmal einen Arbeiter beobachtet, der mit einem dunklen Ungetüm von Schleifmaschine sprach, gerade so, als ob es seine Liebste wäre: „Komm Karline, mach mir keinen Ärger, ich weiß, deine Lager sind ausgeleiert und die Schleifmittelleitung ist geflickt. Der Motor läuft auch nicht richtig, genau wie meine Pumpe, und eine Verkalkung habe ich auch, zum Glück nicht im Kopf. So, ich bin ganz vorsichtig mit dem Vortrieb, dass du mir nicht ins Flattern kommst.“

Und zufrieden besah sich der Mann schließlich sein Produkt, eine silberglänzende Welle, bestimmt für eine Offsetmaschine, geschliffen mit einer Genauigkeit von einem zweihundertstel Millimeter. Das hätte im Westen keiner so gekonnt, die stellten ihre Elektronik ein und lasen inzwischen die Bildzeitung.

Dieser Mann arbeitete vierzig Jahre an der Maschine, die er von seinem Vorgänger übernommen hatte, der sie aus dem Schutt der zerbombten Halle ausgegraben hatte. Darüber hätte man schreiben müssen – Illusion.

Solche Zwänge hatten sich bis in die Kugellagerfabrik herumgesprochen und so hatte der Brigadier auch nicht erwartet, dass Conrad die fehlende Entlüftung wenigstens erwähnen würde. Trotzdem wollte er noch etwas loswerden: Zur Plandiskussion wäre noch nicht einmal die Gewerkschaftsleitung erschienen.

Plandiskussion – Ost und West hatten eine eigene Sprache entwickelt, die der Übersetzung bedurfte und Meisel musste es sich erklären lassen.

Dann fragte er ungläubig: „Da haben die Arbeiter wirklich über den Plan beraten und gesagt, dass sie mehr und besser produzieren wollen?“

„Geredet haben sie darüber, dafür war es eine Plandiskussion, aber die Zahlen kamen von oben.“ Und Conrad erzählte Meisel noch, wie der Leipziger Gewerkschaftsboss kurz vor der Wende nach Westdeutschland gefahren sei, um dort den Arbeitern über die Plandiskussion in den Betrieben zu berichten. Die wären aus dem Staunen nicht herausgekommen, hatte er zu Hause mit wichtigem Gesicht erzählt.

Vielleicht hatten sie wirklich gestaunt, denn in ihrem Betrieb wäre das nicht möglich gewesen, dafür hatten sie ihre Vorgesetzten und die ließen da keinen Arbeiter mitreden, ganz im Gegensatz zu Japan, wo das üblich war, allerdings nach Feierabend und da hieß es nicht Plandiskussion. Doch diesen Gedanken ließ Conrad seinem Gast gegenüber weg, er hätte das sicher missverstanden.

So dachte Meisel befriedigt, was er heute von sich gegeben hat, gefällt mir schon besser. Mal sehen, ob die Entlüftung inzwischen funktioniert.

Der Wende-Journalismus. Verraten und verkauft?

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