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Terachs Traum von Freiheit

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Die Stadttore von Ur im Land Aram-Naharaim, dem Land der zwei Ströme, waren geschlossen. Es war eine mondlose Nacht. Schwarz und gespenstisch ragten die Mauern, hinter denen die Bewohner schliefen, in die Höhe, unüberwindlich für jeden Feind. Die Soldaten von Sin-Aschar, dem Statthalter des Königs Rim-Sin, der in Larsa herrschte und dem auch Ur untertan war, hielten Wache auf den Zinnen. In den dunklen Gassen war es ruhig. Nur hie und da hätte ein später Heimkehrer, wenn es denn einen solchen gehabt hätte, das Kläffen eines Hundes, den leisen Zuruf eines Soldaten an einen Kameraden auf der Mauer oder die Schritte der Wächter, die durch die Gassen patrouillierten, gehört. Doch niemand wagte sich um diese Zeit aus den Häusern. Die Türen waren verriegelt.

Bis zum Aufgang der Sonne herrschte ein strenges Ausgehverbot. Obwohl die Stadt schon vor Jahrzehnten von den Herrschern aus Larsa besetzt worden war und von ihnen regiert wurde, traute der König dem Volk der Chaldäer nicht. Es waren eigensinnige Leute, die sich gerne die vergangene Zeit zurückwünschten. Und Rim-Sin waren die Aufstände gegen frühere Herrscher wohl bekannt. Wie viel hatte er schon für dieses Volk getan! Er hatte die Kanäle in der Stadt erneuert und neue gebaut, er hatte die Bewässerungsanlagen auf den Feldern verbessert, hatte die Stadtmauern und Tore verstärkt, aber das Volk dankte es ihm nicht. Die Chaldäer wollten nicht unter der Herrschaft von Larsa leben. Doch sie mussten endlich verstehen, dass die große Zeit der Könige von Ur vorbei war.

Die alte Königsburg, die jetzt von Sin-Aschar, König Rim-Sins, vom Volk ungeliebtem Statthalter, bewohnt wurde, war Tag und Nacht streng bewacht. Und auch durch die breite, gepflasterte Hauptstraße und die engen, von Abfall und Kot übel riechenden Nebengassen, die sich zwischen die aneinandergebauten Häuser hineindrängten, gingen die Wächter des Nachts, mit Speeren und Äxten bewaffnet. Und nicht selten kam es vor, dass sie an eine Tür klopften, um zum Rechten zu sehen.

Auch in dieser dunklen Nacht schritten zwei Soldaten, von der Burg her kommend, durch die leicht gebogene Hauptstraße, schauten links und rechts in jeden Winkel, ob sie etwas Verdächtiges entdeckten, gingen bis zu dem Platz, von dem aus fünf Straßen sternförmig auseinanderliefen, blieben eine Weile stehen und horchten in alle Richtungen, schritten dann nach Osten weiter, um eine Ecke, und noch eine, und bogen schließlich in ein schmales Gässchen ein.

Die Gasse mündete in einen kleinen Hinterhof, der kaum mehr als doppelt so breit wie die Gasse war. Dort schreckten sie zwei Hunde auf, die sich um den Abfall stritten, der von den Bewohnern auf den Hof geschüttet worden war. Sie erschraken selbst, wollten sich zurückziehen, hörten aber hinter einer verschlossenen Tür auf einmal laute Stimmen. Sie konnten jedoch nichts verstehen.

Sie gingen an den Hunden, die den beiden Soldaten weiter keine Beachtung schenkten, vorbei und traten auf das Haus zu, aus dem die Stimmen kamen.

»Was meinst du«, fragte der eine Soldat den andern, »sollen wir eingreifen? Vielleicht braut sich eine Verschwörung zusammen. «

»Die würden nicht so laut reden, wenn sie etwas Schlimmes im Schilde führten«, meinte der andere, der lieber einer unnötigen Auseinandersetzung aus dem Weg ging.

»Wir sollten doch ... Ich will dann nicht meinen Kopf hinhalten ...«, sagte der erste und hob seine Hand zu einer abweisenden Bewegung, die sein Kamerad wegen der Dunkelheit dieser mondlosen Nacht aber kaum wahrnehmen konnte.

Es war ein Haus wie jedes andere in diesem Viertel. Sie standen eng zusammengebaut, zwei- und dreistöckig. Sie hatten Türen, aber keine Fenster auf die Straße hinaus. Das Tageslicht gelangte über kleine Innenhöfe in die Gebäude. Die Bewohner waren zumeist Handwerker, die im Erdgeschoss neben einem Wohnraum ihre Werkstatt hatten. In den oberen Geschossen befanden sich die Schlafgemächer des Hausherrn und seiner Gattin und jene ihrer Kinder. Hier in diesem Viertel der Stadt hatten die Männer meistens nur eine Frau. Nur Adelige und reiche Bürger, die in einem vornehmeren Stadtteil wohnten, leisteten sich manchmal eine Nebenfrau oder eine Geliebte und Gesinde, das für die Hilfe in Küche und Haushalt benötigt wurde.

Im Haus von Terach ging es an diesem Abend ungewöhnlich laut zu und her, genauer gesagt, in der Werkstatt, die einen eigenen Eingang besaß. Terach hatte seine drei Söhne Abram, Nahor und Haran, die zusammen mit ihrer Stiefmutter Sia und deren Tochter Sarai im Wohnzimmer gesessen hatten, gebeten, mit ihm in die Werkstatt zu gehen. Er wollte mit ihnen allein reden. Da er schon am Tag vorher angedeutet hatte, worum es gehe, hatte er guten Grund anzunehmen, dass es eine hitzige Diskussion geben könnte. Deshalb wollte er seine Frau nicht dabei haben. Sie würde sich doch nur aufregen.

Sie hatten schon eine geraume Weile gestritten, und es war immer lauter geworden. Besonders Haran, der Jüngste, hatte sich kaum mehr beherrschen können.

»Könnt ihr das denn wirklich nicht verstehen?«, fragte Terach. »Mein Vater war ein Nomade. Er hatte Schafe und Ziegen und zog durch das Land, stellte sein Zelt einmal da auf und einmal dort, unter dem freien Himmel, im Schatten einer Tamariske oder unter Dattelpalmen. Am Tag sah man über die grünen Weiden, über die gelben Getreidefelder, sah den Euphrat, hörte sein Rauschen, und des Nachts leuchteten der Mond und die Sterne, und man hörte das Heulen der Wölfe, und am Morgen weckte einen der Gesang der Vögel. Und was sieht man hier? Am Tag nur die Mauern der Häuser rund um einen herum und des Nachts gar nichts. Ein kleines Stück Himmel, wenn’s hoch kommt zwei, drei Sterne und nur eine Ahnung vom Licht des Mondes. Wann habt ihr zum letzten Mal den Mond gesehen? «

»Was brauch ich den Mond zu sehen?«, antwortete Nahor. »Hier in der Stadt sehe ich Menschen, Freunde, da brauch ich den Mond nicht.«

Er schüttelte den Kopf. Wie konnte sein Vater nur auf eine solche Idee kommen. Er hielt ihn für einen Träumer. Warum sollten er und sie, seine Söhne, alles aufgeben, ihr Handwerk, die Sicherheit, die ihnen das Haus und die Stadt boten, tauschen gegen eine ungewisse Zukunft in Zelten, die keinen sicheren Schutz boten vor Unwettern, vor wilden Tieren oder Räubern und Dieben?

»Auch ich habe meine Freunde«, sagte Haran. »Draußen vor der Stadt kennst du niemand. Da bist du allein. Und wenn es regnet und stürmt, soll ich dann tagelang im Zelt sitzen und lauschen, wie der Regen auf das Zeltdach prasselt oder warten, bis das Wasser hereinströmt? Das ist nichts für mich.«

»Doch, Vater, ich verstehe dich«, sagte Abram. »Ich glaube, auch ich habe Nomadenblut in den Adern. Manchmal, wenn ich vor die Stadt hinaus gehe und Schafherden sehe oder die Vögel singen höre, dann wird mir das Leben in der Stadt auch zu eng. Höre ich hier etwa das Gezwitscher der Rohrsänger im Schilf oder gar das Jubilieren einer Nachtigall? Nein, nur ab und zu das gurgelnde Gurren einer Taube. Oder sehe ich frei lebende Tiere außer Ratten und streunenden Hunden? Nein, nur durch die Gassen getriebene Esel mit ihren Lasten oder die Schafe, die auf den Markt zum Schlachten geführt werden. Und vom Mond und den Sternen will ich gar nichts sagen. Noch weniger von der würzigen Luft. Wird euch nicht manchmal übel von dem Gestank in den Gassen?«

Abram war ja noch der größere Träumer als der Vater. Woher nur kannte er die Namen dieser Vögel? Was haben wir denn von ihrem Gezwitscher!? Abram, das mussten seine Brüder zugeben, war der Klügste von ihnen. Er wusste viel. Doch was würde ihm all sein Wissen nützen als nomadisierender Schafhirte? Gegen seine Argumente kamen sie ohnehin nicht auf. Also schwiegen sie lieber.

»Aber sag«, fuhr Abram, als keiner seiner Brüder eine Antwort gab, nach einer kurzen Atempause weiter, »warum hat denn unser Großvater die Zelte verlassen und ist in die Stadt gezogen?«

»Er war alt und des Umherziehens müde. Er kannte einen, der diese Werkstatt besaß. Aber der hatte keinen Sohn, dem er sie hätte übergeben können. Bei ihm lernte ich sein Handwerk. Ich sollte es lernen, damit ich später meinen alten Vater und die Familie ernähren konnte. Als es so weit war und der Besitzer gestorben, zogen wir in das Haus. Ich tat mich schwer. All die Jahre musste ich an die Zeit draußen zurückdenken, an die Freiheit, die Ungebundenheit.«

»Aber warum willst du gerade jetzt dies alles aufgeben und wieder als Nomade herumziehen?«, fragte Haran. »Ich fühle mich wohl in der Stadt.«

Und er schaute Nahor hilfesuchend an mit einem fragenden Blick, der besagen sollte: »Sag doch auch, dass du das nicht willst.«

Nahor verstand ihn. »Auch ich möchte nicht hinaus aus der Stadt«, unterstützte er seinen jüngeren Bruder. Dann wandte er sich an den ältern: »Und du, Abram?«

»Wie ich schon sagte, ich glaube, ich könnte auch draußen leben«, antwortete er. »Die Stadt ist zwar groß, es leben viele Menschen in ihr. Aber manchmal ist sie mir doch auch zu eng. Es müsste schön sein auf den Feldern, mit den Tieren herumzuziehen«, und im fahlen Licht des Öllämpchens nahm Terach einen hellen Glanz in Abrams Augen wahr, wie das Leuchten in den Augen eines Verliebten. Wenigstens einer, der ihn in seinem Plan unterstützte.

»Ich kenne einen, der die Werkstatt übernehmen würde. Er hat eine Herde Schafe und Ziegen und Zelte, die er gegen das Haus tauschen würde«, erklärte Terach und erwartete von seinen Söhnen Zeichen der Zustimmung.

Doch Nahor und Haran, die merkten, dass es ihrem Vater ernst war, wagten nicht mehr, ihm zu widersprechen.

»Wir reden morgen weiter darüber«, sagte Terach, wünschte eine gute Nacht und stieg in den oberen Stock hinauf, wo seine Frau auf ihn wartete.

Die Söhne aber stritten sich noch eine Weile.

Abram war nicht nur der Älteste. In den Augen der Brüder war er auch der Liebling des Vaters. Auch wenn Abram selbst dies nicht so sah. Doch Söhne empfinden es meistens so, während unter Töchtern eher die jüngste als Liebling der Mutter gilt. In Terachs Haus war dies allerdings kein Problem, denn Sarai war die einzige Tochter. Und weil Sia, ihre Mutter, nur die Stiefmutter der Brüder war, akzeptierten diese stillschweigend, dass Sarai von ihr mehr als sie mit Liebe und Zuneigung bedacht wurde.

»Du stehst nie auf unserer Seite«, warf Haran Abram vor. »Du willst dich doch nur bei unserm Vater beliebt machen. Auf uns Jüngere hört er ja nie.«

»Haran hat recht«, sagte Nahor. »Unterstütz doch Vater nicht noch in seinem unsinnigen Vorhaben.«

»Er hört ohnehin nicht auf mich. Wenn er etwas im Sinn hat, dann setzt er es durch, ob wir einverstanden sind oder nicht«, verteidigte sich Abram.

»Dann braucht er uns ja nicht zu fragen«, schrie Haran.

So ging es noch eine ganze Weile hin und her. Sie erkannten schließlich, dass sie sich wenigsten in dem einig waren: Terach würde wohl auch nicht auf Abram hören. Ja, er hört überhaupt auf keinen, nicht einmal auf Sia. Wenn er auszieht, dann fragt er uns nicht. Wir müssen ihm gehorchen.

»Ich will aber nicht«, protestierte Haran laut, als jemand plötzlich wie mit einem harten Gegenstand an die Tür aus massivem, verziertem Holz klopfte, die am Tag wie ein kostbares Schmuckstück in dem eher trostlos lehmgrauen Mauerwerk aussah.

»Aufmachen!«, rief einer mit einer Stimme, der man anhörte, dass es keine andere Wahl gab.

Die drei Brüder verstummten und sahen sich gegenseitig an. Allen stand der Schreck im Gesicht geschrieben. Nahor und Haran wichen einen Schritt zurück.

Abram, der sich als Erster gefasst hatte, ging zur Tür und öffnete sie einen Spalt.

Draußen standen zwei bewaffnete Soldaten. Sie sahen in dem spärlichen Licht, das aus der Werkstatt auf sie fiel, wirklich schreckerregend aus. Finstere, tiefliegende Augen stachen aus ihren fahlen Gesichtern hervor. Beide trugen auf der Brust über dem bis zu den Knien reichenden grobleinenen Rock ein Wams aus Ziegenfell. Einer trug einen Speer, an dessen oberen Ende ein spitzer Stein befestigt war. Der andere hielt eine Axt in der Hand. An den hölzernen Stiel der Axt war kreuzweise mit einem ledernen Riemen ein flacher, scharf zugeschliffener Stein gebunden.

»Wer seid ihr?«, fragte jener mit dem Speer.

»Wir sind Terachs Söhne«, antwortete Abram. »Ich heiße Abram, und das sind meine Brüder Nahor und Haran.« Und er zeigte auf die beiden, die aus Angst kein Wort herausbrachten.

»Warum lärmt ihr so?«, fragte der Soldat weiter.

»Wir haben uns gestritten«, antwortete Abram.

»Worüber?«

»Nur eine kleine Familienangelegenheit«, erwiderte Abram und hoffte, das würde den beiden Soldaten genügen. Der Grund ihres Streits ging niemanden was an.

»Seid ihr allein?«, fragte der andere Soldat, der mit der Axt.

»Vater und Mutter und unsere Schwester sind oben in ihrer Kammer«, sagte Abram.

Die beiden Soldaten drängten Abram zur Seite und traten in den Raum. Sie sahen sich überall um. In der Werkstatt roch es nach Holz. Kleinere und größere Holzstücke lagen herum, halb fertige Hocker und Schemel, und auf einem Gestell standen hölzerne Götterstatuen in verschiedenen Größen. Auf andern Gestellen lagen Werkzeuge aus hartem Zedernholz und Bronze, Schnitzmesser, Schaber, verschiedene zugeschliffene Steine und in Tongefässen feiner Sand, der zum Polieren gebraucht wurde.

Als die Söhne erklärt hatten, dass diese Werkzeuge alle zum Herstellen der Holzgegenstände, vor allem auch für die Götterstatuetten, vor denen die Soldaten kurz ehrfurchtsvoll stehen blieben, benötigt werden, und als die beiden grimmig dreinschauenden Hüter der Ordnung und des Gesetzes sahen, dass keine Waffen hergestellt wurden und dass außer den dreien sonst niemand anwesend war, gaben sie sich zufrieden und zogen sich zurück.

Abram schloss hinter ihnen die Tür.

Alle drei atmeten hörbar erleichtert auf.

»Ich denke, wir sollten uns nun auch schlafen legen«, empfahl Abram.

Als sie sich in ihre Kammer begaben, kam Terach und fragte, wer geklopft habe.

Sie erzählten es ihm.

»Seht ihr«, antwortete Terach, »auch das ist ein Grund, warum ich ausziehen will. Im Zelt kann uns kein ungebetener Gast an die Tür klopfen.«

Am nächsten Morgen ging Terach schon früh hinaus, ohne mit seinen Söhnen gesprochen zu haben. Er schritt mit einem Stecken in der Hand durch das Südtor an den Wachen vorbei. Es war noch früh. Das Tor war eben erst geöffnet worden.

Auf der rechten Seite vor dem Tor war eine gefasste Wasserquelle. Ein paar Stufen führten zu dem Becken hinunter, in dem das Wasser sich sammelte. Um den Brunnen herum standen schon eine Anzahl Männer, einige davon mit Schafen, für die sie Wasser in die Tränkrinne schöpften. Sie alle hatten gewartet, bis das Tor geöffnet wurde, um in die Stadt hineinzugehen und auf dem Markt ihre Waren und Tiere zu verkaufen. Hinter Terach drängten die ersten schon durch das Tor, während andere immer noch ihre Tiere trinken ließen. Je mehr Wasser sie im Bauch hatten, umso mehr Getreide würde es geben, wenn die Tiere gegen das Korn aufgewogen wurden.

Wenn die Händler das Tor passiert haben würden, kämen schon bald die Töchter der Stadt mit ihren Krügen zum Brunnen, um Wasser zu schöpfen. Die Wasserkanäle der Stadt, die durch die vornehmeren Viertel gingen, waren nur dazu bestimmt, um die Abwässer und Fäkalien wegzuschwemmen.

Nachdem Terach eine Weile gegangen war, blieb er stehen. Er reckte sich und atmete die frische Morgenluft ein. Wie rein war sie hier im Gegensatz zu der stickigen Luft in der Stadt! Und wie weit schweifte hier der Blick, fast bis in die Unendlichkeit! Die Sonne stand noch nicht weit über dem Horizont. Terach füllte seine Lungen mit der nach würzigen Kräutern duftenden Luft und hob seine Arme seitwärts empor, so dass sein Stecken zum Himmel zeigte. Vor ihm zur Linken wuchsen in einem riesigen Hain Dattelpalmen in den wolkenlosen Himmel, rechts sah er in der weiten Ebene den Euphrat, dessen Lauf sich, hell schimmernd vom Licht der noch tief stehenden Sonne, in der Ferne verlor, und er hörte das Rauschen des Flusses. Er schloss die Augen, als wollte er das, was er gesehen, gehört und gerochen hatte, in sich verschließen, um es ewig in sich zu bewahren und nie zu vergessen.

Als er weiterschritt, flatterten vor ihm Vögel auf vom Weg und aus dem taufrischen Gras. Terach schaute ihnen nach und dachte bei sich, bald werde er so frei sein wie sie.

Er wollte jenen Mann aufsuchen, mit dem er vor einigen Tagen gesprochen hatte. Wenn der nun auf seinen Handel einging, würde er bald nicht mehr in die Stadt, die sich hinter den grauen und abweisenden Mauern verbarg, zurückkehren. Noch hatte jener nicht eingeschlagen. Aber Terach war zuversichtlich. Bald, so die Götter es wollten, würde er sich nicht mehr wie ein gefangenes Tier fühlen. Ihm war jetzt schon, als zerspringe seine Brust. Ein Gefühl von lang ersehnter Freiheit erfüllte ihn.

Als er vor sich die Zelte des Nomaden erkannte, verzögerte er die Schritte. Was würde sein, wenn er nun doch nicht auf seinen Vorschlag einginge? Eine leise, bange Ahnung beschlich ihn. Er wusste nicht, sollte er eilen, um so schnell wie möglich sein Glück ergreifen zu können, oder sollte er seine ihm vielleicht bevorstehende Enttäuschung möglichst lange hinauszögern.

Die Zelte standen inmitten einer kleinen Gruppe von Tamarisken. Terach trat auf das größte zu und rief nach dem Mann. Der trat heraus zu ihm, und sie begrüßten sich wie alte Freunde. Und doch schien Terach, der andere sei nicht gerade erfreut über den Besuch. Er zeigte ein verschlossenes Gesicht, wie einer, der etwas verbergen oder verheimlichen will und einem nicht geradeaus in die Augen zu schauen wagt.

Sie sprachen lange über das Wetter, über den schönen Morgen, den blauen Himmel, die Schafe, über Terachs Söhne, deren ablehnende Haltung dieser jedoch verschwieg. Doch keiner wollte auf den eigentlichen Grund des Besuches eingehen.

»Du bist gekommen wegen deines Vorschlags«, begann nach einer Weile des Schweigens dann doch der Nomade.

Terach nickte zustimmend.

»Hast du es dir überlegt?«, fragte er.

»Ich bin alt und werde bald sterben«, sagte jener. »Dein Vorschlag hat mir eingeleuchtet. Aber dann bin ich in die Stadt hineingegangen. Bis jetzt hatte ich immer einen Bogen um sie gemacht. Zuerst, als ich durch das große Tor kam, hab ich gestaunt. Ich war überwältigt von der Größe der Häuser, von der breiten Straße, von den vielen Menschen. Aber als ich weiter in die Stadt hineinging und in die engen Gassen, da fühlte ich nur noch Beklemmung. Und dann dieser Gestank! Nein, Terach, in dieser Stadt könnte ich nicht leben, und wäre es auch nur um zu sterben. Du weißt, ich habe keinen Sohn mehr, aber ich habe eine Schwiegertochter und Enkeltöchter, die mit ihren Männern bei mir wohnen. Ich könnte ihnen das nicht antun. Ich verstehe dich ja, dass du hinaus willst aus der Stadt. Aber mir erginge es auch so. Und auch meinen Nachkommen. Ich kann sie nicht einsperren in diese Mauern. Wir sind Nomaden, wie dein Vater einer war. Ich habe ihn nie verstehen können.«

Terach stand ihm stumm gegenüber und nickte nur. Er sah, es hätte keinen Sinn, weiter zu verhandeln.

Auf einmal sah die Welt für ihn ganz anders aus. Er fühlte einen heftigen Schmerz in seiner Brust.

»Es tut mir leid«, sagte der andere.

Wieder nickte Terach stumm.

»Leb wohl«, sagte er dann und wandte sich um. Mit schweren Schritten, als wären Steine an seine Füße gebunden, ging er davon.

Er hörte keine Vögel mehr singen. Vielleicht war es zu heiß geworden. Sie hatten sich im Schatten versteckt oder waren zum Fluss gezogen. Auch den hörte er nicht mehr rauschen. Die Brust, die am Morgen noch zu zerspringen drohte, war in sich zusammengefallen. Der Stecken in seiner Hand zeigte nicht mehr nach dem Himmel. Er stieß nur noch auf den harten, trockenen Boden.

Jetzt leuchteten nicht mehr die hellen, sonnenbeschienenen Zelte des Nomaden vor ihm, nur noch die dunklen, drohenden Mauern der Stadt.

Seine Söhne würden sich freuen, vor allem Haran, aber auch Nahor. Nur Abram würde vielleicht seine Enttäuschung teilen.

Er ging langsam auf die Stadt zu wie einer, der eine Todesnachricht überbringen muss.

Wie das große geöffnete Maul eines riesigen Tieres, das ihn zu verschlingen drohte, sah er vor sich das Tor, auf das er zuschritt. Wie ein aus dem Gefängnis Entflohener, der ein wenig die Freiheit geschnuppert hat und dann von den Häschern in seine enge Zelle zurückgeführt wird, fühlte er sich.

Die Wache ließ ihn passieren. Fast wie ein Blinder ging er durch die Menge der Leute hindurch, die Rufe der Händler drangen nicht zu ihm durch, die Handwerker, die unter ihren Türen saßen und ihn grüßten, sah er nicht.

»Was ist mit Terach los?«, dachten jene, die ihn kannten.

Er bog nicht in die Gasse ein, die zu seinem Haus führte. Er ging weiter bis zum Straßenkreuz, ging in eine Schänke und ließ sich einen kleinen Krug Bier bringen. Die Wanderung an der Sonne hatte ihn durstig gemacht. Der trübe Gerstensaft rann kühlend seine Kehle hinunter. Doch als er den bitteren Satz des Bieres, der auf dem Grund des Kruges schwamm, in sich hineinschlürfte, ekelte es ihn, und er spuckte ihn auf den Boden.

Endlich raffte er sich auf, zahlte mit einem Silberplättchen, nahm seinen Stecken und verließ die Schänke.

Vor seinem Haus holte er noch einmal tief Atem, bevor er die Tür zur Werkstatt öffnete und eintrat. Er wollte jetzt nicht in die Wohnung zu Sia gehen. Doch arbeiten mochte er auch nicht. Er saß nur auf seinem Schemel und drehte ein Schnitzmesser in seiner Hand herum.

Seine Söhne hatten, als sie am Morgen in die Werkstatt gegangen waren und ihren Vater nicht bei der Arbeit antrafen, geahnt, was er vorhatte. Sie hatten sich an ihre Plätze gesetzt und zu arbeiten begonnen. Haran hatte noch eine Weile über das Vorhaben seines Vaters gemotzt. Als seine Brüder aber nicht darauf eingegangen waren, verstummte er bald. Bis zum Mittag hatten sie stumm ihre Arbeit verrichtet, bis die Mutter zum Essen rief. Sia war erstaunt, dass Terach nicht da war. Im Wohnraum warteten sie auf ihn.

Endlich hörten sie die Tür zur Werkstatt gehen. Abram stand auf, um ihn zum Essen zu holen.

Als er in die Werkstatt trat, merkte Abram gleich, dass mit seinem Vater etwas nicht in Ordnung war.

»Hast du getrunken?«, fragte er.

»Er hat nicht eingeschlagen«, sagte Terach, ohne aufzublicken.

Abram wusste, was er damit meinte.

»Nimm es nicht so schwer«, tröstete er seinen Vater. »Eines Tages werden wir die Stadt verlassen, und dein Traum geht in Erfüllung.«

»Abram ist ein guter Sohn«, dachte Terach. »Er will mich aufmuntern. Er glaubt an meinen Traum von der Freiheit. Vielleicht ist mein Traum wirklich auch sein Traum.«

»Komm, das Essen ist bereit«, forderte Abram seinen Vater auf.

»Lass mich noch eine Weile. Ich komme nach«, erwiderte Terach.

Abram verließ die Werkstatt und ging über den Hof zum Wohnraum, wo seine Stiefmutter, Sarai und die Brüder beisammensaßen, und berichtete, was er vernommen hatte.

Nahor und vor allem Haran freuten sich.

»Aber zeigt eure Freude nicht unserm Vater«, mahnte Abram, »es würde ihn schmerzen.«

Sia ging hinüber in die Werkstatt zu Terach. Sia war seine zweite Frau. Er hatte sie genommen, nachdem die Mutter seiner drei Söhne gestorben war. Sie war noch jung und schön. Auch Sarai, ihre Tochter, war lieblich anzusehen und stand gerade in dem Alter, wo sie sich wie eine Knospe zur Blume entfaltete.

Sarai und die Söhne warteten im Wohnraum, bis Sia mit Terach zurückkam. Doch keiner wagte, den Vater zu fragen, wo er gewesen sei und was er draußen vor der Stadt gemacht habe. Noch nie waren sie beim Essen so schweigsam gewesen. Bei einem Totenmahl ging es lustiger zu.

Nur als das Essen zu Ende war, sagte Terach:

»So, nun aber alle an die Arbeit!«

So blieb denn Terach mit seinen Angehörigen weiter in der Stadt Ur, hinter den hohen grauen Mauern, die sie wie ein Gefängnis umgaben. Nur seine Gedanken und Sehnsüchte vermochten sie zu übersteigen. Er träumte weiter von der Freiheit eines Nomadenlebens.

Abraham

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