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Die Sonne verfinstert sich

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Haran war froh, dass der Handel seines Vaters mit dem Nomaden nicht zustande gekommen war. Er liebte die zumindest tagsüber vom Leben pulsierende Stadt und hätte sich ein seiner Meinung nach langweiliges Dasein auf dem Land nicht vorstellen können.

»Ich brauche Menschen um mich, nicht Schafe«, hatte er unmissverständlich zu Abram gesagt. Vor seinem Vater Terach aber verheimlichte er seine Freude. Der sprach nicht mehr zu seinen Söhnen über seinen Traum, den er weiter in seiner Brust bewahrte. Eines Tages würde er wohl doch noch in Erfüllung gehen.

Haran war schon immer ein aufgewecktes, fröhliches Kind gewesen. Auch als junger Mann hatte er seine Lebenslust behalten. So oft er sich von der Arbeit in der Werkstatt drücken konnte – es gab nicht immer gleich viel zu tun –, benutzte er die Gelegenheit und ging hinaus unter die Leute, wo er meistens einen Kumpel traf, mit dem er sich dann auf dem Markt oder in Kneipen herumtrieb.

Terach sah dies nicht gern. Vor allem vor den Kneipen hatte er seinen Sohn gewarnt. Denn die wurden meist von lasterhaften Frauen geführt, die über der Kneipe ihren Gästen in separaten Kammern junge Frauen gegen Silber in Form von Plättchen oder Ringen anboten, oft aber auch selber zu bezahlten Liebesdiensten bereit waren. Haran, so fürchtete sein Vater, könnte sich leicht verführen lassen. In seinem jugendlichen Ungestüm hatte er noch zu wenig Lebenserfahrung. Für seine beiden älteren Söhne brauchte er sich hingegen keine Sorgen zu machen.

Abram, der älteste der drei Brüder, war ernster, gewissenhafter. Auch wenn einmal kein Auftrag erledigt werden musste, gab es immer etwas zu tun, aufzuräumen, den Boden zu kehren, das in der Gegend so rare und darum auch teure Holz zu besorgen, Sand vom Euphrat zu holen oder einfach sich Neues auszudenken. Terach schätzte seinen Fleiß. Für seine Brüder war er, als sie noch klein waren, ein Vorbild gewesen, doch als sie älter wurden, ärgerten sie sich manchmal über ihn, der glaubte, die Vaterrolle übernehmen und zum Rechten sehen zu müssen, wenn Terach einmal das Haus verließ. Nur Sarai, seine kleine Schwester, schaute immer noch voll Verwunderung zu dem großen Bruder auf, der so viel wusste und immer bereit war, sie vor den andern Brüdern zu beschützen.

»Abram ist mir am ähnlichsten«, dachte Terach oft. Eigentlich hätte er von Haran am ehesten erwartet, dass er sich für das Nomadenleben begeistern ließe, er, der doch so oft aus der engen Werkstatt ausbrechen wollte. Für ihn war die Werkstatt ein Gefängnis, aber in dem äußeren Gefängnis innerhalb der Stadtmauern fühlte er sich offenbar wohl. Abram hingegen, der fast nie ohne guten Grund aus dem Haus ging, hatte sich von den dreien als Einziger enttäuscht gezeigt. Und wenn Abram auch kaum etwas sagte, so fühlte Terach doch, dass sein Ältester, wie er selbst, davon träumte, einmal aus dieser Engnis auszubrechen. Wenn Abram die Werkstatt verließ, dann nicht nur, um wie Haran durch die Stadt zu streifen. Meistens hatte er draußen eine Aufgabe zu erfüllen. Und das tat er besonders gern. Denn jedes Mal ging er mit ähnlichen überströmenden Gefühlen, wie Terach an jenem Tag, hinaus vor die Mauern, schaute über das Land und den Fluss hinweg in die Weite, bis an den flimmernden Horizont und stellte sich die Welt dahinter vor. Sie steckte doch voller Geheimnisse. Wohin floss der Euphrat? Natürlich ins Meer, das er nur vom Hörensagen kannte. Aber was war hinter dem Meer? Was war hinter den Hügeln und den Bergen? Andere Hügel und Berge? Und dahinter? Ein anderes Meer? Und auch hinter jenem Meer, nichts? Und oben der blaue Himmel mit seinen Wolken. Woher kamen sie? War da auch etwas über dem Himmel, an dem die Gestirne hingen? Fragen über Fragen, über die er so oft nachdachte, die aber ohne Antworten blieben. Und dennoch, Abram fühlte in solchen Augenblicken in sich ein großes Staunen über die Welt und ihre Geheimnisse, das ihn glücklich machte.

Wenn er dann in den Auen des Flusses den feinsten Sand, den er finden konnte, in einen Sack gefüllt hatte, kehrte er, beinahe berauscht von der Luft, die er geatmet hatte, von dem Gesang der Vögel und den Bildern, die er mit seinen wachen Augen aufgenommen hatte, zurück, und das Glück, das er in sich trug, dauerte über Tage fort.

Oft, wenn Terach seinen ältesten Sohn heimlich und mit väterlichem Stolz bei der Arbeit beobachtete, sah er in seinem Gesicht dieses Glück aufleuchten.

Nahor, der Mittlere der drei, war anders, nicht wie Abram, aber auch nicht wie Haran. An Fleiß stand er Abram zwar nicht nach. Er arbeitete am liebsten in der Werkstatt. Abram überließ er gerne seine Ausflüge an den Euphrat. Und dass Haran die Botengänge zu den Kunden so gerne übernahm, enthob Nahor von der unangenehmen Pflicht, sich mit ihnen freundlich zu unterhalten, um sie für spätere Aufträge nicht abgeneigt zu machen. Nahor war verschlossen, dem Herzen seines Vaters von all dessen Söhnen am wenigsten nah. Er gab seine Gedanken nicht preis, und Terach verstand sie nicht aus seinem Gesicht, seinen dunklen Augen zu lesen. Das machte den Vater, der alle seine Kinder gleich liebte, manchmal ein wenig traurig. Früher hatte er gedacht, Nahor habe den Tod seiner Mutter nicht verkraftet. Aber das war nun schon so viele Jahre her, und an Sia, seine Stiefmutter hatte er sich doch gewöhnt. Nein, aus ihm wurde er nicht klug.

Eines Tages kam Haran aufgeregt nach Hause und erzählte, was er erlebt hatte. Er hatte, nachdem er einem Kunden ein kleines Möbelstück abgeliefert hatte – die Götterstatuetten brachte Terach selber den Auftraggebern –, einen Freund getroffen und hatte ihn auf einigen Umwegen begleitet.

»Sin-Aschar hat Herolde ausgesandt«, berichtete er. »Sie sind durch alle Straßen und Gassen gegangen und haben verkündet, dass morgen Mittag die Sonne vom Himmel verschwinden wird. Alles Volk soll sich vor Mittag beim Tempel des Mondgottes Nanna versammeln.«

Nein, Terach und die Brüder hatten noch nichts vernommen, auch Sia und Sarai nicht. Sie alle waren überrascht und wussten nicht, was das zu bedeuten hatte.

Die Erste, die etwas sagte, war Sarai:

»Wird es dann immer Nacht sein, wenn die Sonne verschwindet?«

»Eigentlich verschwindet die Sonne gar nicht. Es ist nur so, dass sich Mond und Sonne am Himmel begegnen«, erklärte Haran, ein wenig stolz, dass er Bescheid wisse, denn er hatte dies auf seinem Streifzug durch die Straßen vernommen. Eine kleine Gruppe von Neugierigen hatte sich um einen alten weisen Mann geschart, der angeblich einen Astrologen kannte und nun seine Kenntnisse vor den Unwissenden ausbreitete. Auch Haran und sein Freund hatten sich unter diese Wissbegierigen gemischt. Aber was bei der Begegnung von Sonne und Mond geschehen würde, wusste der Alte auch nicht.

»Die Astrologen im Tempel haben es vorausgesagt«, fuhr Haran fort, »dass sich morgen die Sonne verfinstert. Ist das nicht großartig, dass sie es vorhersehen können? Wie machen sie das nur? Wären wir nun draußen auf den Feldern, würden wir das nicht erfahren.«

Abram warf ihm einen vorwurfsschweren Blick zu. Das hätte er nun nicht sagen sollen. Doch Terach fühlte sich nicht gekränkt. Ein Lächeln flog über sein Gesicht.

»Die Astrologen sind Priester«, erklärte Terach, »die Götter werden es ihnen im Traum eingegeben haben.«

Haran erzählte weiter, was er auf der Straße gehört hatte. Es gefiel ihm, so im Mittelpunkt zu stehen und mehr zu wissen als seine Brüder.

»Die Priester fordern das Volk auf, morgen zum Tempel des Mondgottes Nanna zu gehen und ihn zu bitten, dass er seinen Sohn, den Sonnengott Schamasch, nicht vom Himmel stürze«, sagte er. »Ich habe mit den Leuten geredet. Sie fürchten sich. Sie meinen, das sei der Weltuntergang. Andere sagen, auch wenn Nanna den Schamasch nicht vom Himmel stoße, so sei sein Zorn auf ihn doch so groß, dass er das Land mit Kriegen und Überschwemmungen oder einer Hungersnot überziehe.«

»Was glaubst du«, fragte Nahor seinen Vater, »haben wir Grund, uns zu fürchten?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Terach. »Ich habe noch nie erlebt, dass die Sonne verschwindet. Aber mein Vater hat erzählt, dass das früher schon geschehen ist und dass dann immer etwas Schlimmes passierte, ein Krieg oder eine Seuche oder Hungersnot.«

»Warum sollten die Götter uns Menschen strafen, wenn sie Streit unter sich selbst haben. Und Krieg hat es schon zu allen Zeiten gegeben«, sagte Abram, »auch ohne dass die Sonne vom Himmel verschwunden ist. Vor sieben Jahren hat Rim-Sin, wie er behauptet, mit der Hilfe der Götter Anu und Enlil die Königsstadt Isin erobert. Da hat sich die Sonne auch nicht verfinstert, obwohl Schamasch al­len Grund gehabt hätte, sein Gesicht zu verhüllen. Und erle­ben wir nicht alle paar Jahre, dass der Euphrat das Land überschwemmt?«

»Aber unheimlich ist es doch. Vielleicht wollen Schamasch und der Mondgott Nanna uns damit etwas kundtun«, meinte Nahor. Doch was Abram gesagt hatte, leuchtete ihm ein. Abram wusste doch immer eine Erklärung oder einen Rat, was zu tun sei, wenn die andern nicht weiter wussten. Er bewunderte deshalb seinen großen Bruder.

Haran hingegen ärgerte sich über Abrams weises Gerede. Immer glaubte der, alles besser zu wissen.

Am meisten Angst hatte Sarai. Sie schmiegte sich fest an ihre Mutter. Hoffentlich hatte ihr großer Bruder, den sie so sehr bewunderte recht. Doch so richtig glauben konnte sie ihm noch nicht.

Sie sprachen auch nach dem Essen noch lange über das bevorstehende Ereignis, bis Sia fand, es sei nun genug geredet, sie sollten sich schlafen legen.

Aber alle waren sich einig, dass sie am nächsten Tag zum Tempel des Nanna gehen würden, um mit dem Volk zu beten und das unvorstellbare Geschehen zu erwarten.

Die drei Brüder schliefen lange nicht. Es waren so viele Fragen, auf die es keine Antworten gab. Nur eines wussten sie: Etwas Unheimliches stand bevor, das sie noch nie erlebt hatten. Sollte tatsächlich gar die Welt untergehen?

Abram beschwichtigte: »Ihr habt doch gehört, was Vater gesagt hat. Das ist auch schon in früherer Zeit geschehen, und die Welt ist nicht untergegangen.«

»Aber die Leute fürchten sich«, flüsterte Haran, um die Eltern im Nebenzimmer nicht zu wecken, die wohl schon schliefen.

»Am meisten werden sich Rim-Sin, der König, und sein Statthalter fürchten«, vermutete Nahor. »Sie wissen, dass das Volk sie nicht liebt. Sie sind Fremde, keine von uns. Vielleicht deutet das Himmelszeichen den Sturz von Rim-Sin an.«

»Wer sollte ihn stürzen?«, fragte Abram. »Wir sind nicht stark genug. Wir haben keine Waffen. Fremde Mächte müssten uns helfen. Doch was hätten wir davon? Die Hethiter oder die Babylonier oder wer es auch sein würde, wären nicht besser als Rim-Sin und sein Statthalter.«

Als das Gespräch endlich verstummte, konnten sie immer noch nicht schlafen. Abram hörte, wie Haran und Nahor sich auf ihrem Lager drehten und wendeten und wie der Strohsack, auf dem sie lagen, raschelte.

Ab und zu fragte einer seine Brüder leise: »Schlaft ihr schon.« Doch niemand gab Antwort, aber jeder wusste, dass die andern noch wach waren.

Auch Abram ging alles im Kopf herum, was er gehört hatte. Was hatte das zu bedeuten? Zürnten die Götter vielleicht doch? Was hatten sie mit den Menschen vor? Ach, sie waren so weit weg, diese Götter. Zwar gab es Statuen von ihnen in den Tempeln. Doch das gemeine Volk, zu dem auch er gehörte, hatte keinen Zutritt zu ihnen. Aber die Statuen im Tempel waren ja auch nur Abbilder der Götter, genauso wie die kleinen Statuen, die er mit seinem Vater und den Brüdern herstellte. Wer kennt schon die Götter? Wer weiß, wo sie sind? Wer sind sie überhaupt? Hat sie schon je einer gesehen?

Nahor war der erste der drei Brüder, der Schlaf fand. Haran war noch zu aufgewühlt. Das würde ein Ereignis werden morgen, wenn das Volk zum Tempel strömt! Widerstrebende Gefühle kämpften in seiner Brust. Halb bangte ihm vor dem morgigen Tag, halb freute er sich in Erwartung dessen, was kommen würde. Wie würde es sein, wenn die Sonne verschwand, nein, sich nur verfinsterte? Was würde danach sein? Wäre das Leben noch wie zuvor? Was würde über Ur, seine geliebte Stadt, hereinbrechen? Unter all den Menschen und in den Mauern der Stadt aber würde er sich sicher fühlen. Wie froh war er, dass er das ganze Geschehen nicht draußen, irgendwo auf dem Feld oder in der Wüste erleben müsste. Ein Schauer durchfuhr seinen Körper, als er sich vorstellte, wie er, ohne darauf vorbereitet zu sein, plötzlich sähe, wie die Sonne vom Himmel verschwindet. Er würde glauben, die Welt gehe unter. Aber ganz wohl war ihm auch jetzt nicht, obschon...

Und schließlich übermannte ihn doch der Schlaf. Aber schreckliche, angstvolle Träume verfolgten ihn. Einmal stand er am Ufer des Euphrats. Der Himmel hatte sich verfinstert. Die Sonne war verschwunden. Der Fluss stieg höher und höher. Er wollte wegrennen, aber seine Füße waren wie angewachsen am Boden. Das Wasser überflutete das Ufer und stieg an seinen Beinen hoch über die Knöchel, dann bis zu den Knien. Endlich konnte er sich bewegen. Er wollte dem Wasser entfliehen. Aber er fiel um, und der Strom riss ihn mit. Er konnte nicht schwimmen. Die Wellen schlugen über ihm zusammen. Und er erwachte mit einem Schrei.

Hatte er wirklich geschrien? Seine Brüder schienen zu schlafen. Sie hatten nichts gehört. Wieder wälzte er sich lange hin und her, bis er endlich ruhig einschlummerte.

Am nächsten Morgen sprach niemand im Haus von dem Ereignis. Keiner wollte den Anschein erwecken, dass er sich vor dem kommenden Unbekannten fürchte. Es wollte aber auch sonst kein Gespräch in Gang kommen.

Terach hantierte in der Werkstatt. Es war aber keine eigentliche Arbeit, die er verrichtete. Er nahm ein Werkzeug von einer Stelle weg, betrachtete es, wendete es hin und her, rieb mit einem Finger daran, als wäre es schmutzig oder als prüfe er, ob es stumpf sei und er den Stein schon wieder schleifen müsse, und legte es wieder zurück. Seine Söhne erschienen auch nicht zur Arbeit. Haran und Nahor liefen zusammen aus dem Haus. Terach rief ihnen nach, sie möchten bald zurückkehren und nicht schon zum Tempel gehen.

Abram saß bei Sarai und seiner Stiefmutter.

Sarai machte einen ängstlichen Eindruck.

»Es wird schon nichts geschehen«, munterte Abram sie auf.

Er wünschte, er könnte Sarai die Angst nehmen. Er mochte seine kleine Schwester. Obwohl er der älteste der Brüder war und sie zehn Jahre jünger als er, hatten sie sich immer gut verstanden. Ohne es sich eigentlich bewusst zu sein, hatte er stets die Beschützerrolle übernommen. Und Sarai bewunderte ihn, weil er der Vernünftigste unter den Brüdern war. Er hatte sie nie ausgelacht wie die andern, als sie noch klein war, oder, wenn sie geweint hatte, noch mehr gereizt und sie dann wegen ihres lauten Geschreis verspottet.

Nahor und Haran gingen durch die Stadt. Überall standen Leute in kleinen Gruppen herum. Die Sonne hatte sich bereits über die Mauern der Stadt erhoben und schickte wie immer ihr strahlendes Licht vom wolkenlosen, blauen Himmel herab und warf ihre Schatten in die engen Gassen.

Niemand konnte sich vorstellen, dass dies bald nicht mehr so sein würde. Und nichts deutete auf das bevorstehende Ereignis hin.

Als die Zeit allmählich herankam, da sie zum Tempel aufbrechen sollten, schickte Terach Abram auf die Straße, um zu sehen, wo seine Brüder blieben und ob die andern Leute schon zum Gott Nanna unterwegs seien.

Abram verließ das Haus und ging über den kleinen Hof und durch das verwinkelte enge Gässchen bis zur großen Straße. Es strömten schon viele dem Tempel zu. Hatten sich Nahor und Haran ihnen angeschlossen? Der Vater hatte doch gesagt, dass sie vorher zurückkehren sollten.

Da sah er sie, wie sie sich eilig durch den bereits fließenden Menschenstrom drängten und auf ihn zukamen.

»Kommt! Beeilt euch!«, riefen sie. »Die Leute sind schon alle unterwegs zum Tempel.«

Abram lief zurück ins Haus und rief Vater und Mutter.

»Wo sind deine Brüder?«, fragte Terach, ängstlich und zugleich verärgert.

»Sie warten bei der Straße vorn«, antwortete Abram.

Terach trat nun mit Sia, Abram und Sarai aus dem Haus. Er tadelte Haran und Nahor, weil sie so lange ausgeblieben waren.

Terach schritt mit Sia voraus. Abram ging beschützend an Sarais Seite. Hinter ihnen kamen, ein wenig beschämt wegen des Tadels, Abrams jüngere Brüder.

Es war ein weiter Weg durch die Stadt bis zum Tempel. Sie ließen sich von dem Menschenstrom mittreiben bis auf den großen Tempelplatz, der von den Häusern der Priester und Tempeldiener umrahmt war. Hoch erhoben sich die Mauern des aus gebrannten Lehmziegeln erbauten Tempels stufenförmig zum Himmel empor.

Eine lange Treppe führte von vorne über eine kleine, vorgelagerte Terrasse hinweg zu einem Tor, einem eckigen Vorbau der Grundmauer. Auch von links und rechts ging je eine Treppe mit über siebzig Stufen zu einem Tor in diesem Vorbau. Kam man durch eines der drei Tore, so konnte man auf einer kleinen Treppe noch weiter zur ersten Terrasse hinaufsteigen, die rund um eine weitere, quadratisch auf die Terrasse aufgebaute Mauer lief. Auf der linken und der rechten Seite waren wieder kleine Vorbauten, durch deren Tore die Eingeweihten in verschiedene Tempelräume eintreten konnten. Von dieser ersten großen Terrasse ging nur noch eine einzige Treppe mit vierzig Stufen zu einer zweiten Terrasse, von der aus man wieder über eine Treppe mit dreißig Stufen zu einer dritten gelangte, in deren Mitte der hohe, viereckige Hochtempel aufgebaut war. Ein schmales, hohes Tor mit rundem Bogen führte in diesen fensterlosen Tempel hinein.

Von der alten Königsburg, in der jetzt Sin-Aschar, der Statthalter Rim-Sins, residierte, bis zur mittleren Treppe des Tempels hatten mit Speeren bewaffnete Soldaten, die ähnlich aussahen wie jene, die bei Abram und seinen Brüdern angeklopft hatten, eine Gasse gebildet, durch die der Vizekönig mit seinen Hofleuten zum Tempel schreiten würde.

Vor den Treppen auf der linken und der rechten Seite standen ebenfalls bewaffnete Soldaten und sorgten für Ordnung. Denn das Volk strömte herbei zu den seitlichen Treppen. Viele brachten eine Opfergabe, die bei den ersten Stufen von den Tempeldienern in Empfang genommen wurden. Auch Terach hatte ein Krüglein mit Öl abgegeben.

Der Platz vor dem Tempel füllte sich immer mehr. Es mussten Zehntausende sein. Man stand dicht nebeneinander. Die zuletzt Gekommenen mussten sich, oft unter Murren und anderen Missfallensäußerungen, durchdrängen, um ihre Opfergabe bei den Treppen abgeben zu können. Die Tempeldiener trugen diese Gaben, Bier, Brote, Honig, Sesamsamen oder Öl, die Treppen hinauf bis zur ersten Terrasse. Dort wurden sie den Priestern übergeben, die sie über die zweite Terrasse bis zur dritten hinauftrugen. Es war ein faszinierendes Schauspiel, das auch Abrams Familie staunend beobachtete, wie die unzähligen Tempeldiener und Priester in ihren festlichen Gewändern mit den Opfergaben in langer Reihe die Treppen hochstiegen, dann wieder herunterkamen, um neue Opfergaben heraufzuholen. Auf der obersten Terrasse wurden die Opfergaben von den Hohepriestern in Empfang genommen und in das Innere des Hochtempels gebracht, wo sie die Speiseopfer auf Tische legten und die Trankopfer in große Gefäße schütteten. Der Erste Hohepriester nahm das Feuer, das zwei andere Priester entfacht hatten, entgegen, ging damit in den Hochtempel hinein und entzündete in einer Schale das Harz einer Zeder, hob die Hände vor der goldenen Statue des Gottes Nanna empor und lud ihn zum Opfermahl, das ihn versöhnlich stimmen sollte, damit er das Unheil von der Stadt und vom ganzen Land abwende.

Diese Zeremonie war natürlich dem gemeinen Volk verborgen. Nur die Hohepriester auf der dritten Terrasse, die vor dem offenen Tor standen, konnten den Ersten Hohepriester bei diesem kultischen Ritual beobachten.

Alle Blicke waren auf den Tempel gerichtet. Von hier unten, wenn man nicht zu nahe stand, was aber durch die Soldaten ohnehin verhindert wurde, sah man bis hinauf zum eigentlichen Tempel, dem Hochtempel, in dem der Mondgott Nanna thronte. Nachdem alle ihre Opfergaben abgegeben hatten, verteilten sich die Priester in ihren weißen Gewändern auf den Terrassen. Die meisten stellten sich auf der ersten Terrasse hinter der Brüstung auf. Einige blieben auf der zweiten und verteilten sich dort hinter der Mauer. Nur ihre Oberkörper ragten über die Brüstung hinaus. Auf der dritten Terrasse stellten sich die Hohepriester auf, mit dem Rücken zum Volk, das Gesicht zum Tor des Hochtempels gewandt.

Nur der Erste Hohepriester des Nanna blieb während der ganzen Zeit im Sakralraum des Heiligtums.

Unten vor dem Tempel wurden nun keine neuen Opfergaben mehr angenommen. Der Weg wurde freigemacht für den Statthalter des Königs.

Sin-Aschar, begleitet von Wächtern und Hofleuten, trat nun unter dumpfem Trommelklang in vollem Ornat und mit der spitzen Haubenkrone auf dem Haupt, die ihn als Stellvertreter des Königs auswies, aus dem Burgtor heraus. Würdevoll schritt er durch die von den spalierstehenden Soldaten gebildete Gasse bis zur mittleren Treppe des Tempels. Die Wächter und Hofleute blieben unten an der Treppe zurück. Sin-Aschar aber schritt majestätisch die Treppe empor, hinter ihm zwei Trommler. Diese blieben auf dem Vorbau bei der ersten Terrasse zurück. Nur der eintönige Trommelklang begleitete ihn bis hinauf zu der obersten Terrasse vor dem Hochtempel. In diesem Augenblick, als Sin-Aschar die Terrasse erreichte und die Hohepriester ihn in ihre Mitte nahmen, verstummten die Trommeln.

Sin-Aschar schaute hinunter auf das Volk. Als er die Menge mit erhobenen Händen grüßte, gingen alle auf Knie, bis er seine Arme senkte. Dann drehte er sich um und wandte wie die Hohepriester sein Gesicht dem Hochtempel zu.

Haran hatte in der Menge eine junge Frau bemerkt, die er schon öfter gesehen hatte und die ihn mit ihrer Schönheit bezauberte. Beinahe vergaß er, warum er hier vor dem Tempel stand, als er sah, dass die junge Frau mit ihrer Familie, nachdem auch sie ihre Opfergaben abgegeben hatten, in seine Nähe kam. Jetzt stand sie neben ihm. Sein Herz klopfte nun noch heftiger, als es schon wegen des bevorstehenden Ereignisses tat. Er glaubte es zu hören, so stark war seine Erregung. Wenn sie mit ihren Leuten nur nicht weiterging, wünschte er sich.

Haran schaute sie an, und als sie bemerkte, dass sein Blick auf ihr ruhte, lächelte sie. Er grüßte sie und war glücklich, als er sah, dass sie ihren Vater am Arm fasste und ihn zurückhielt, als er weitergehen wollte. Nun stand sie ganz nahe bei ihm. Die Götter hatten seinen Wunsch erfüllt. Er tat einen Schritt zur Seite und flüsterte ihr zu:

»Ich hab dich schon oft gesehen. Du bist schön. Wie heißt du?«

»Mein Name ist Lea«, antwortete sie und errötete.

»Ich heiße Haran.«

»Ein schöner Name«, erwiderte Lea.

Sie hatte eine weiche, fast singende Stimme. Hätte er sich nicht schon wegen ihrer schönen Gestalt und ihres hübschen Gesichts in sie verliebt, so würde ganz sicher diese süße, verführerische Stimme ihn dazu bewegen.

Haran und Leas Angehörige standen stumm und starrten auf den Tempel und bemerkten nicht, dass die beiden einen Schritt zurückgewichen waren und andere Neugierige und Fromme, die zum Gott beten wollten, sich zwischen sie und ihre Eltern und Geschwister gedrängt hatten.

Niemand wagte laut zu reden. Die Stimmen der vielen tausend Menschen vermischten sich zu einem Summen und Brummen, das wie ein andauerndes fernes Donnergrollen hinauf zu den Priestern auf den Zinnen drang.

Endlich gab ein Priester auf der obersten Terrasse ein Zeichen. Daraufhin ertönten wieder dumpfe Trommelschläge von der kleinen vorgelagerten Terrasse herab. Die Menge wurde still. Auch Haran schwieg. Er hatte bereits herausbekommen, wo Lea wohnte und wer ihre Eltern waren. Und mit Befriedigung hatte er festgestellt, dass Lea selbst nicht abgeneigt schien, ihn näher kennen zu lernen.

Die Trommelklänge schwollen an und wurden wieder leiser. Eine unheimliche Beklemmung bemächtigte sich der Menschen.

Plötzlich verstummten die Trommeln.

Die Priester auf allen drei Terrassen, dicht nebeneinanderstehend, erhoben die Hände betend zum Himmel. Das Volk sah nur ihre Rücken. Auch in der Menge begannen nun einige, dann immer mehr, am Ende alle, ihre Hände zu erheben. Ein Murmeln ging durch die Menge, das wie das Brausen des Meeres anschwoll und wieder verebbte und wieder anschwoll, unaufhörlich, bis irgendwo in der Menge der Ruf erschallte: »Die Sonne verschwindet.«

Alle Blicke waren zum Himmel gerichtet. Doch wegen des blendenden Lichts konnte niemand genau sehen, was vor sich ging. Einige hielten sich Tücher vor die Augen und konnten so erkennen, dass ein Schatten über die Sonnenscheibe heraufzog.

Es war auf einmal totenstill geworden in der Menge. Es war, als breche bereits um diese Mittagsstunde die Abenddämmerung herein. Selbst die Vögel, die gerade noch herumgeflattert waren, hatten sich auf die Äste der Bäume, die den weiten Platz umgaben, gesetzt, versteckten sich zwischen den Blättern und hörten auf mit ihrem sonst so fröhlichen Gesang. Als der letzte kleine Strahl der Sonne verschwunden war, wurde es düster. Es war, als hielte die ganze Welt den Atem an.

Alle Blicke waren nun zum Himmel gerichtet, dorthin, wo gerade noch der letzte Strahl der Sonne geleuchtet hatte. Jetzt aber war nichts mehr zu sehen. Die Menschen schwiegen, das leiseste Flüstern war verstummt.

Haran hatte unwillkürlich nach Leas schmaler Hand gegriffen und hielt sie fest. Lea hatte nicht versucht, sie zurückzuziehen.

Auch Sarai klammerte sich an ihre Mutter. Selbst Terach hatte seine Arme um Abrams und Nahors Schultern gelegt und zog die beiden Söhne an sich heran.

Doch plötzlich leuchtete wieder ein Strahl auf.

Die lautlose Stille wurde von dem Gezwitscher der Vögel unterbrochen, die als Erste von dem Fortgang des Lebens Kunde gaben. Klang ihr Gesang so laut, weil sie das Versäumte nachzuholen schienen, oder war es, weil die Menschen ihren Gesang noch nie so bewusst und in dieser jubilierenden Fröhlichkeit wahrgenommen hatten wie in diesem Augenblick?

Und da ging auch durch die Menge ein hörbares Aufatmen, das allmählich in Jubel überging. Und immer größer und stärker wurde das Licht, so dass man nicht mehr hinschauen konnte, ohne geblendet zu werden.

Und dann war es wieder so hell wie zuvor, und die Welt war nicht untergegangen. Die Stadt Ur und ihre Bewohner lebten weiter. Wieder reckten sich Hände zum Himmel, diesmal zum Dankgebet für Schamasch, den Sonnengott, der gestorben und wiedergeboren war, und für Nanna, der seinen Sohn nicht vom Firmament hinab in die Unterwelt gestoßen hatte.

Und nun ertönten wieder die Trommeln, nicht mehr so dumpf wie vorher. Unter ihrem hellen Klang schritt Sin-Aschar die Treppen herab. Bei der untersten Treppe schlossen sich die Trommler an und stiegen fünf Stufen hinter ihm hinunter. Der Statthalter und seine Beamten gingen gemessenen Schrittes durch die spalierstehenden Soldaten über den Platz. Auf einmal ertönte der Ruf:

»Lang lebe Sin-Aschar!«, und noch einmal: »Lang lebe Sin-Aschar!«

Zögernd stimmte das Volk mit ein.

Keiner wollte den Eindruck erwecken, ein Gegner des Vizekönigs zu sein. Man wusste ja nicht, ob der unbekannte Nachbar nicht ein Spitzel war.

Als sich das Tor der Burg hinter dem Statthalter des Königs verschloss und die Trommeln verstummt waren, verlief sich allmählich die Menge.

Manche standen noch in kleinen Gruppen beisammen. Was würde nun geschehen? War wirklich alles vorbei und wieder so wie zuvor, oder war dies der Anfang einer neuen, schrecklichen Zeit?

Haran und Lea hatten sich losgelassen. Freudig stellte Haran fest, dass sein Vater Terach mit Leas Vater redete. Die beiden schienen sich zu kennen. Es stellte sich heraus, dass sie schon geschäftlich miteinander zu tun gehabt hatten. Sanherib, so hieß Leas Vater, hatte bei jeder Geburt seiner vier Kinder bei Terach eine kleine Götterstatue in Auftrag gegeben, die als persönlicher Gott das kleine Kind schützen und ihm später als Mittler zu Marduk, Schamasch oder den anderen höheren Gottheiten dienen sollte.

Eine kurze Strecke gingen die beiden Familien nebeneinander her, bis sich ihre Wege trennten. Haran hob nur seine Hand zum Abschied und setzte ein Gesicht auf, das seinen ganzen Trennungsschmerz, aber zugleich auch seine Hoffnung auf ein Wiedersehen zum Ausdruck bringen sollte. Und Lea warf ihm einen verliebten Blick zu, der ihm alles Glück verhieß.

Noch am Abend desselben Tages nahm Haran seinen Vater beiseite.

»Ich möchte mit dir etwas besprechen«, sagte er geheimnisvoll. Seine Brüder sollten nichts davon hören.

Sie gingen hinüber in die Werkstatt.

Haran wusste nicht, wie er beginnen sollte.

»Was hast du auf dem Herzen?«, fragte Terach seinen Sohn, als er sah, dass dieser sich herumdrückte und keine Worte fand.

»Ich möchte mir eine Frau nehmen«, begann Haran. »Ich bin nun alt genug.«

»Aber deine beiden Brüder sind älter als du und haben noch keine Frau«, erwiderte Terach.

»Das ist ihre eigene Schuld«, sagte Haran. »Sie kennen ja kaum jemand. Wenn sie mehr in die Stadt gehen würden, hätten sie auch mehr Gelegenheit, eine Frau zu finden.«

»Hast du denn deine schon gefunden?«, fragte Terach.

»Ich glaube schon«, antwortete Haran. »Es ist Lea, die Tochter deines Bekannten, den du heute auf dem Tempelplatz getroffen hast.«

Vielleicht wäre es gut, wenn sein Sohn sich eine Frau nähme, dachte Terach. Es könnte sein, dass er dann ein wenig ruhiger und verantwortungsvoller wird und nicht mehr so viel mit seinen Kumpeln in der Stadt herumstreicht.

Ein wenig fühlte sich Terach beschämt, weil er sich nicht selber schon für seine Söhne nach Frauen umgesehen hatte, wie das viele andere Väter üblicherweise taten. Doch er meinte, sie wären alt genug, um sich eine Frau zu suchen, wenn sie die Zeit dazu für gekommen hielten.

»Gut, ich werde mit Leas Vater verhandeln«, sagte er. »Wenn er bereit ist, sie dir zu geben, so soll es sein.«

Haran fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Das hatte er, seit er ein Kind war, nie mehr getan.

Ein paar Tage später war Terach ausgegangen, ohne jemandem zu sagen, wohin. Er blieb länger weg als gewöhnlich, wenn er eine Götterstatue einem Kunden brachte. Als er endlich zurückkehrte, teilte er seinem Sohn mit, er sei bei Sanherib gewesen. Der erwarte, dass er am nächsten Tag noch einmal mit seinem Sohn vorbeikomme, damit man auch ihn kennen lerne und man, wenn er, Sanherib, ihn für würdig befinde und Lea auch einverstanden sei, einen Ehevertrag aushandeln könne.

Haran ging am Nachmittag des nächsten Tages mit seinem Vater zu Sanheribs Haus. Das Klopfen seines Herzens war fast so laut wie Terachs Klopfen an der Tür.

Ein Diener öffnete, bat die beiden Männer mit einer untertänigen Handbewegung herein und führte sie in den Wohnraum, wo Leas Eltern auf sie warteten.

»Du möchtest also meine Tochter Lea zur Frau nehmen«, begann Sanherib, nachdem sie sich ausgiebig begrüßt und sich dann in einer Ecke auf den Boden gesetzt hatten. »Ich kenne deinen Vater als einen ehrbaren Mann. Er hat mir gesagt, dass du in seiner Werkstatt arbeitest und in der Lage bist, eine Frau zu ernähren.«

»Ich kann dir, ehrenwerter Sanherib, versprechen, deiner Tochter Lea ein guter Ehemann zu sein. Ich werde sie lieben und beschützen.«

»Nach dem Besuch deines Vaters hat auch Lea mir versichert, dass sie deine Frau werden möchte.« Und zu seiner Frau sagte er, sie möchte jetzt Lea hereinholen, damit Haran und Lea ihr Eheversprechen vor beiden Vätern bestätigen sollten.

Lea trat mit gesenktem Blick vor ihren und Harans Vater, die sich beide, wie auch Haran, erhoben hatten. Heimlich warf sie Haran mit einem zwinkernden Auge einen Blick zu, ohne den Kopf zu heben.

Nachdem sie bekräftigt hatten, einander zu lieben und treu zu sein und Lea wieder in ihr Zimmer geschickt worden war, setzten sich die Männer wieder, und die beiden Väter begannen über die Mitgift zu verhandeln, während Leas Mutter hinausging, um Früchte zu holen, die sie in einer Schale neben den Männern auf den Boden stellte. Dann zog auch sie sich zurück.

Alles, was die beiden Väter vereinbart und mit einem Handschlag bekräftigt hatten, sollte bald bei einem Notar in einen Ehevertrag gefasst und beurkundet werden.

Nun griffen die drei Männer zu den Früchten. Eine Weile redeten sie noch miteinander und Haran beantwortete höflich die Fragen seines zukünftigen Schwiegervaters.

Terach und Sanherib trafen sich einige Tage später im Haus des Notars. Der stellte eine Statuette des Gottes Nanna, die Terach als sein Werk wiedererkannte, zwischen die beiden Männer, nahm dann von einem Gestell eine Tafel getrockneten Lehms und ritzte mit einem Griffel darin ein, was Sanherib und Terach ihm diktierten:

»Sanherib, Sohn des Naob, gibt dem Haran, Sohn des Terach, seine Tochter Lea zur Frau und verpflichtet sich, ihr als Mitgift zu geben: 300 Ringe aus reinem Silber, 400 Silberplättchen, 5 Kissen, 3 wollene Decken, 6 Oberkleider, 4 tönerne Krüge, 6 tönerne Teller, 2 goldene Armspangen, eine goldene Halskette. Sollte Haran seine Frau Lea verstoßen, so ist er verpflichtet, ihr diese Mitgift vollständig zurückzugeben oder, was nicht mehr vorhanden ist, zu ersetzen. So vereinbart und beschworen im Angesicht des Gottes Nanna und beurkundet zu Ur im neunten Jahr des glorreichen Sieges des Königs Rim-Sin über die Stadt Isin.«

Als dies alles aufgeschrieben war, gab der Notar dem Sanherib den Griffel in die Hand, damit er sein Zeichen unter den Vertrag einritze. Dasselbe tat nach ihm auch Terach.

Zum Schluss drückte der Notar sein Siegel in den Lehm.

Sanherib und Terach zahlten jeder dem Notar für seine Arbeit zehn Silberringe.

Sobald die Lehmtafel gebrannt sein würde, könnte Sanherib sie abholen, um sie dann Lea in ihre Ehe mitzugeben. Es war das Inventar ihres eigenen Besitzes, den die beiden Väter vereinbart hatten und den sie bei einer allfälligen Trennung von Haran würde zurückfordern können oder den im Fall ihres Todes nach Brauch und ungeschriebenem Gesetz ihre älteste Tochter erben würde.

Im Haus des Terach wurde dem jungen Paar eine Kammer im oberen Stockwerk über den Wohn- und Schlafgemächern der Eltern und Brüder eingerichtet.

Es gab kein großes Fest, als Lea in Terachs Haus zog mit ihrer Habe. Nur bei den adeligen oder sehr wohlhabenden Bewohnern der Stadt war es Brauch, eine Eheschließung öffentlich zu feiern.

Leas Eltern und Geschwister hatten sie in ihr neues Heim begleitet. Im Wohnraum im hinteren Teil des Erdgeschosses setzten sich alle auf die Kissen, die auf dem festgepressten Boden ausgebreitet waren. Sia hatte in verschiedenen Schüsseln herrlich duftende Speisen in ihre Mitte gestellt. Alle griffen herzhaft zu. An diesem Tag wurde ausnahmsweise anstelle von Bier und Wasser aus tönernen Krügen Wein ausgeschenkt. Man plauderte und lachte, und als Sanherib mit den Seinen aufbrach, mussten sie ihn in ihre Mitte nehmen und ihn stützen. Der Wein hatte seinen Kopf benebelt und die Beine schwach gemacht.

Haran und Lea gingen in ihre Kammer, liebten sich und wurden glücklich.

Abraham

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