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Terachs Traum wird wahr
ОглавлениеTerach hatte seinen alten Traum, als Nomade wie seine Vorväter durch das Land ziehen zu können, tatsächlich, wie Abram gehofft hatte, nicht vergessen. Er war zwar schon ein alter Mann. Aber er wollte nicht in Ur sterben und begraben werden wie seine Frau, die vor einem Jahr unerwartet von einer Krankheit dahingerafft worden war. Seit Sias Tod dachte er wieder häufiger daran. Wie schön würde es doch sein, in der Nacht unter dem Sternenhimmel zu stehen und die frische, würzige Luft einzuatmen. Abram hatte ihm erzählt von seinen nächtlichen Besuchen, wenn er mit Sin-Ta auf der obersten Terrasse des Tempels stand und den Sternenhimmel betrachtete. Wie er dann die Erhabenheit des Unendlichen spürte. Er war stolz auf seinen Sohn, der so empfand wie er. Seine heimliche Sehnsucht flammte in solchen Augenblicken erneut auf.
Immer wieder ging Terach hinaus aus der Stadt, und wenn er sah, dass in der Ebene Nomaden ihre Zelte aufgestellt hatten, ging er hin und sprach mit ihnen, ließ sich von ihnen ihre Erlebnisse schildern und Geschichten erzählen. Die Hoffnung, dass einer dieser Nomaden mit ihm tauschen würde, hatte er schon lange aufgegeben. Wer schon will die Freiheit des Lebens auf dem Land gegen das Gefängnis der Stadt eintauschen?!
Jahre vergingen so. Da traf er einmal im Norden der Stadt einen alten, kranken Nomaden an. Er hatte keine Nachkommen, und auch seine Frau war ihm weggestorben. Eine Herde von ungefähr hundert Schafen und fünfzig Ziegen und ein paar Esel waren sein Eigentum, dazu zwei Hirten und eine Magd.
Der Nomade lag auf alten, durchgescheuerten und zusammengepressten Kissen am Boden. Terach hatte sich neben ihn gesetzt. Der Alte erzählte mit müder, von einem rauen Husten unterbrochener Stimme Terach seine ganze Lebensgeschichte, wie er mit Frau und Kindern umhergezogen und wie alle nacheinander gestorben seien. Und Terach erzählte ihm von seinem Traum.
»Dich haben mir die Götter geschickt«, sagte schließlich der Nomade. »Meine Tage sind gezählt. Ich möchte meine Herde nicht einem meiner Knechte hinterlassen. Sie sind zwar arbeitsam, aber in keinem steckt die Glut, die Inbrunst wie in dir. Ich könnte ruhig sterben, wenn ich wüsste, dass ein so ehrenhafter Mann an meine Stelle träte. Ich gebe dir alles, was ich habe. Nimm es, ich bitte dich! Schlag mir diesen Wunsch nicht aus.«
»Ja, es müssen die Götter gewesen sein, die mich zu diesem Mann geführt haben«, dachte Terach.
Der alte Mann hob mühsam seine Hand und streckte sie Terach hin:
»Schlag ein!«, forderte er ihn mit schwacher Stimme auf und schaute ihn aus trüben, beinahe blinden Augen hoffnungsvoll an.
Terach ergriff die kraftlose, welke Hand des Nomaden, über dessen Gesicht ein dankbares Lächeln flog.
»Geh zum kleinen Zelt und schick die Magd zu den Knechten, sie sollen alle zu mir kommen«, bat er dann.
Terach tat, wie er gewünscht hatte.
Als sich alle um den alten Mann versammelt hatten, sprach der: »Ich hab all mein Gut diesem Mann übergeben; denn ich werde sterben. Wer nicht bei ihm bleiben möchte, der soll sich vier Schafe und einen Widder auswählen und damit weggehen. Wer aber bleiben möchte, der folge ihm, wohin er gehen will.«
Die zwei Knechte und die Magd sagten nichts. Sie hatten wohl gesehen, dass ihr Herr sehr schwach war und nicht mehr lange leben würde.
Als sie hinausgegangen waren, sagte der Alte zu Terach:
»Komm morgen wieder hierher. Wenn ich noch lebe, dann komm wieder am nächsten Tag. Ich fühle, dass es bald so weit sein wird, dass ich ins Totenreich hinabgehe. Wenn du mich nicht mehr lebend findest, dann begrabe mich hier und zieh mit der Herde fort.«
Terach ging nach Hause. Er eilte nicht. Er ließ sich auf dem Weg bis zur Stadt noch einmal alles durch den Kopf gehen. Er wollte das Glück, das ihm zuteil geworden war, vorerst allein genießen. Auf einmal war alles anders als zuvor. Die Stadt, der er langsam näher kam, ängstigte ihn nicht mehr. Bevor er durch das Tor trat, schaute er sich noch einmal um. Alles hier draußen, nicht nur die Tiere des Nomaden, nein, das ganze Land, die Dattelpalmen, die Tamarisken, die Blumen, der Fluss, der Wind, der Himmel mit seinen Wolken gehörten jetzt ihm.
Anders als vor vielen Jahren, als er mit einer Enttäuschung in seiner Brust heimgekehrt war, trat er jetzt mit frohem Sinn in sein Haus.
Abram bemerkte als Erster Terachs Verwandlung, als er in die Werkstatt trat, wo auch Nahor und Lot bei der Arbeit saßen.
»Hört«, sagte Terach, kaum dass er den Raum betreten hatte, »hört, was für ein Glück mir heute widerfahren ist.«
Und er berichtete, was er erlebt hatte, wie ein Verliebter, der von der Schönheit seiner Braut erzählt und doch kaum Worte findet, die dem, was er fühlt, gerecht werden.
Die Söhne und Lot gingen mit ihm in die Wohnstube, wo Sarai und Milka saßen, und die nun ebenfalls von der Geschichte hörten.
»Vielleicht schon morgen oder übermorgen könnten wir aufbrechen«, sagte Terach.
Milka schaute Nahor fragend an. Was hatte er beschlossen? Hatte er seinem Vater schon zugesagt. Sie konnte sich nicht vorstellen, mit Eseln und Schafen von Weideplatz zu Weideplatz zu ziehen.
Nahor sah ihren Blick und was der zu bedeuten hatte.
»Das muss gründlich überlegt werden«, sagte er zu Terach. »Was soll dann mit deiner Werkstatt geschehen? Willst du wirklich alles verlassen?«
»Du kannst sie übernehmen und weiterführen«, erwiderte der Vater, »wenn du nicht mitkommen willst. Es ist deine Entscheidung.«
»Wenn dem so ist, dann sag ich dir gleich jetzt schon Bescheid. Milka und ich bleiben da.«
Abram sah nun auch seinen Wunsch in Erfüllung gehen. Jetzt konnte er endlich all diese Arbeit, die er verabscheute, aufgeben und sein Gewissen entlasten. Mit einem Schlag fühlte er sich als ein neuer Mensch.
»Ich komme mit«, sagte er, »wenn auch du mit mir kommst. Willst du?«
Sarai, an die die Frage gerichtet war, hatte sich gar nicht überlegt, was sie wollte, mitgehen oder nicht. Was Abram entscheiden würde, das werde wohl richtig sein. Sie antwortete: »Ich werde mit dir gehen, wohin du gehst, und dir treu zur Seite stehen.«
»Darf ich auch mitgehen?«, fragte Lot, der schon lange von einem zum andern geschaut hatte und nur darauf wartete, auch seinen Wunsch äußern zu dürfen. Er wollte die Welt kennen lernen und malte sich in Gedanken schon die wildesten Abenteuer aus.
»Das muss herrlich sein, ich kann es kaum erwarten«, rief er. Aber dann erschrak er plötzlich über sich selbst und stockte, obwohl er vor Begeisterung fast platzte und gerne noch weitergeredet hätte. Doch es hatte auf seine Frage ja bis jetzt gar niemand geantwortet.
»Natürlich darfst du mit uns gehen«, sagte Terach. »Wir brauchen junge Leute wie dich.«
Lot strahlte über das ganze Gesicht wie ein kleines Kind, das ein Geschenk bekommt.
Nahor meinte jedoch:
»Ich weiß nicht, ob es nicht besser wäre, wenn Lot hier bliebe. Er ist ein schwächlicher Junge. Das Nomadenleben ist doch zu anstrengend für ihn.«
Doch Lot wehrte sich. Er wollte keineswegs zurückbleiben und in Nahors dunkler Werkstatt das Tischlerhandwerk, das er bei Terach erlernte, das ganze Leben lang ausüben und seinem Oheim dienen müssen.
Abraham und Großvater Terach meinten, er werde es schon schaffen. Er sei halt noch im Wachstum. Wenn er einmal ausgewachsen sei, und das dauere ja nicht mehr lange, werde er schon stark genug sein, um alle Strapazen zu überstehen.
Am nächsten Tag ging Terach wieder hinaus zu dem alten Nomaden und nahm Abram mit.
Der Kranke sah noch blasser und müder aus als am Tag zuvor.
Seine Stimme war noch schwächer geworden, und der Husten in seiner Kehle machte ihm beim Reden zu schaffen.
»Nehmt die Esel mit in die Stadt«, sagte er zu Terach, »und ladet ihnen alles auf, was ihr mitnehmen wollt. Ich spür es, wenn ihr wieder kommt, werde ich gestorben sein.«
Auch Abram dankte dem Mann und ließ ihn wissen, dass er sich ebenso wie sein Vater darüber freue, die enge Stadt verlassen und als freier Mann durch das Land ziehen zu können.
»Du bist wie dein Vater«, sagte der Alte. »In dir ist die gleiche Inbrunst. Jetzt kann ich ruhig sterben.«
Als Terach und Abram mit den drei Eseln nach Hause kamen, staunten die Nachbarn.
Was hatten die beiden vor?
In dem engen Hof vor dem Haus konnten sie die Esel nicht stehen lassen. Sie stießen sie durch die Tür in die Werkstatt. Sie hatten genug Futter für drei oder vier Tage mitgenommen.
Als die Esel versorgt waren, gingen Terach und Abram in die Stadt. Sie nahmen Lot mit, der vor lauter Aufregung sonst nichts anderes mehr zu tun wusste. Auf dem Markt wollten sie Felle, Tücher, Lederriemen und Schnüre kaufen und Holzpflöcke, denn sie brauchten neue Zelte. Mit dem Silber, das Terach durch seine Arbeit erworben hatte, würde er seine Herde vergrößern und weitere Knechte dingen. Das Zelt, das den alten Nomaden dem Aussehen nach sein Leben lang begleitet hatte, könnte dann noch einem Knecht dienen oder für die Unterbringung von Vorräten oder sonst etwas gebraucht werden. Sarai und Abram sollten ein eigenes neues Zelt haben, und Lot könnte bei Terach schlafen.
Terach, Abram und Lot dachten nicht mehr ans Arbeiten in der Werkstatt. Sie hätten auch keinen Platz mehr gehabt. Nur Nahor saß noch über die Arbeit gebeugt und ärgerte sich über die Esel, die ihm überall im Weg standen, wenn er aufstehen und in einer Ecke neues Holz oder ein anderes Werkzeug holen musste. Ihm schien, als hätte er noch nie so oft von der Arbeit aufstehen müssen wie gerade jetzt, wo ihn die Tiere störten und ihn mit ihrem Gestank belästigten. Zum Glück sträubte sich Lot nicht dagegen, den Mist auf einer Schaufel vor das Haus zu bringen. Dass er aber den Urin der Tiere mit dem kostbaren Sand vermischte, um ihn dann auch mit der Schaufel wegzubringen, rief seinen Zorn hervor.
»Wer bringt mir nun neuen Sand? Muss ich ihn gar selber vom Euphrat holen?«, schrie er Lot an.
Doch der freute sich so sehr auf das Nomadenleben, dass er seinem Oheim versprach, gleich nach getaner Arbeit zum Fluss zu gehen und so viel feinen Sand zu holen, dass er ihm reiche, bis er einmal seinen eigenen Sohn schicken könne.
»Dann nimm doch gleich die zwei größten Krüge mit«, rief ihm Nahor zu.
»Wenn sie nur bald aufbrechen würden«, dachte er. »Die können ja an nichts anderes mehr denken. Nicht einmal Kinder, die sich auf ein Fest auf dem Marktplatz freuen, sind so ungestüm.«
Doch er musste sich nicht mehr lange aufregen.
Schon am nächsten Tag, als Terach und Abram wieder zu dem Alten hinauszogen, fanden sie ihn nicht mehr lebend vor. Die zwei Knechte und die Magd waren bei ihm geblieben und erklärten nun, sie wollten den neuen Herren dienen.
Die Knechte halfen Terach und seinem Sohn, eine Grube zu graben. Den Leichnam hüllten sie in ein Tuch und legten ihn in die Grube. Terach zog aus seiner Tasche eine kleine Götterstatue und gab sie zu dem Alten ins Grab. Dann deckten sie ihn mit Erde und Steinen zu.
Auf dem Heimweg sagte Abram zu seinem Vater:
»Warum hast du ihm eine Götterfigur ins Grab gelegt?«
»Was fragst du?«, antwortete Terach. »Du weißt doch, dass man dem Toten einen Gott mitgibt, damit er ihn auf den Weg ins Totenreich geleiten kann.«
»Einen Gott hast du mit dem Toten begraben?«, lachte Abram. »Ein schöner Gott, der sich begraben lässt! Du hättest dem Alten ebenso gut ein unbearbeitetes Stück Holz mitgeben können oder besser deinen Stecken. Der würde ihm mehr nützen auf seiner Wanderschaft in die Unterwelt als ein Gott aus Holz.«
»Ja, spotte nur«, sagte Terach und dachte: »Warum nur haben die Jungen heute keinen Respekt mehr vor den Göttern?«
Und laut sagte er zu Abram: »Warte nur, bis du einmal alt bist und es mit dir zu Ende geht, dann wirst du froh sein, wenn du zu einem Gott um Gnade für deine Gotteslästerungen flehen kannst.«
»Ja, Vater, ich werde zu einem Gott beten«, antwortete Abram, »aber nicht zu irgendeinem Gott, sondern zu dem einen und einzigen Gott, der die Erde erschaffen hat und dem ich mein Leben verdanke. Aber dieser Gott ist ein lebendiger Gott, nicht einer aus Holz, den wir in unserer Werkstatt geschaffen haben.«
»Diesen Gott kenne ich nicht«, sagte Terach, »zeige ihn mir, wenn es ihn gibt!«
»Es gibt ihn, auch wenn ich ihn nicht sehen kann«, antwortete Abram. »Vielleicht können wir ihn sehen, wenn wir gestorben sind.«
»Woher willst du das wissen?«, fragte Terach. »Von Sin-Ta wohl nicht.«
»Ich weiß es nicht, niemand hat es mir gesagt«, erwiderte Abram. »Aber ich glaube, dass es so ist.«
Sie redeten noch eine Weile hin und her. Aber kaum waren sie wieder daheim, ging es ans Packen.
Kissen und Decken und Kleider wurden in große Tücher gepackt. Auch allerlei Hausrat aus der Küche, Geschirr und Krüge mit Bier und Schläuche mit Wasser. Aus der Werkstatt nahm Terach einige Götterstatuetten, die er selber auf Vorrat hergestellt hatte. Die andern und das Werkzeug ließ er Nahor zurück.
Er hatte heimlich die Statuen in ein Tuch gehüllt, damit es Abram nicht sehe. Nach dem, was er heute von ihm gehört hatte, würde ihm dies wohl nicht gefallen.
Abram dachte wirklich keinen Augenblick daran, auch nur eine einzige von seinen Figuren mitzunehmen. Nur Sarai steckte, heimlich wie ihr Vater, die Statuette der Liebesgöttin Inanna, von der sie doch immer noch Hilfe gegen ihre Kinderlosigkeit erhoffte, in die Tasche.
An diesem Abend nahm Terach seinen Sohn Abram noch einmal zur Seite und ging mit ihm in die Werkstatt. Wollte er nicht gehen, ohne von allem noch Abschied zu nehmen?, dachte sich Abram. Doch Terach dachte an etwas anderes.
»Morgen beginnt für uns ein neues Leben«, begann Terach. »Wir wissen nicht, was es uns bringt.«
»Vater, bereust du es, alles hier aufzugeben?«, fragte Abram und zeigte auf die Götzen und die Werkzeuge und all die Materialien, die herumstanden und darauf warteten, bearbeitet zu werden. »Löse dich davon! Denk daran, was ich dir auf dem Heimweg gesagt habe! Es ist gut und ich bin froh, dass wir dies alles zurücklassen.«
Terach hatte kaum hingehört und sagte: »Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich damals, als sich mein Traum zerschlagen hat, hätte aufbrechen können. Damals war ich noch jünger. Heute mache ich mir Gedanken. Es wäre leichter, wenn ich wüsste, was auf uns zukommt. Du hast doch von deinem Priester und Sterndeuter gelernt, aus den Sternen die Zukunft zu lesen. Jetzt könntest du dein Wissen anwenden. Willst du nicht die Sterne befragen?«
Abram überlegte sich, ob er seinem Vater die Wahrheit sagen solle, dass er der Astrologie schon vor langer Zeit abgeschworen hatte. Nicht die Sterne sollten sein Schicksal bestimmen, sondern nur der allmächtige Gott, den er ahnte, aber noch nicht kennen gelernt hatte.
»Vater«, antwortete er, »du stellst dir das zu einfach vor. Morgen gehen wir auf die Reise. Wir müssten sie um Tage verschieben, wenn du von mir wissen wolltest, was die Sterne zu unserer Reise sagen.«
»Vielleicht wäre es doch besser, sie aufzuschieben«, überlegte Terach laut.
Doch Abram widersprach ihm:
»Nein, wir haben alles vorbereitet. Es wäre nicht gut. Vertrauen wir doch auf Gott, nicht auf die Sterne.«
Terach gab sich zufrieden, obwohl er nicht wusste, welchen Gott sein Sohn meinte. Er kannte nur jene Götter, deren Statuen er hergestellt hatte, aber auf diese Götter würde Abram sicher nicht sein Vertrauen setzen wollen.
Am nächsten Morgen luden sie die Gepäckballen auf die Esel, verabschiedeten sich von Nahor und Milka, die Tränen in den Augen hatte, und zogen davon.
Die Nachbarn, die erfahren hatten, dass Terach ausziehe, standen unter den Türen ihrer Häuser und riefen den vieren Abschiedsworte zu. Einige Mädchen, die Lot davonziehen sahen, schauten ihm traurig nach.