Читать книгу Täubchen alla Boscaiola - Martin Schlobies - Страница 11

9. Kapitel

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Am nächsten Morgen fand Raphael auf seiner Schwelle einen Brief von Pauline, den er neugierig aufriß. Es war nur eine Zeile, die sie geschrieben hatte, sie sei schon früh, mit dem ersten Bus, höher in die Berge gefahren, zum Malen. - Kein Gruß, kein Abdruck ihres Mundes auf dem Papier, mit Lippenstift nachgezeichnet, nichts! - Raphael wendete den Brief hin und her, ob nicht irgendwo noch ein Wort stünde, ein Zeichen, vergeblich!

Traurig faltete er den Brief zusammen, steckte ihn in die Hemdtasche, packte alle Unterlagen über die Erzgrube in Castellina in seine Ledertasche, ging zum Parkplatz, öffnete das Verdeck seines Wagens und fuhr nach Catania. Dort irrte er lange durch die engen Straßen der Altstadt und suchte vergeblich die Bergbaubehörde; niemand wollte sie kennen; ab und zu behauptete jemand, von ihr gehört zu haben, wies ihn in eine Gasse, die er nicht finden konnte; so vergeudete er über eine Stunde, bis er, kurz vor dem Verzweifeln und voller Wut, auf eine Station der Carabinieri ging.

Die beiden jungen Beamten, die sich angeregt hinter dem mit grünen Linoleum belegten Tisch unterhielten, sahen sich an und lachten,

„Bergbaubehörde?“ Seit Jahren hatte niemand nach einer Bergbaubehörde gefragt, - wo er denn herkäme?

„Aus Deutschland!“

„Aus Deutschland? Aha, na soetwas! Mein Onkel war auch in Deutschland, in Düsseldorf - er sprach es aus wie: 'Dudeldu' - Kennen Sie es?“

„Ja,“, sagte Raphael, „ich war oft dort.“

„Eine schöne Stadt?“

„Ja, sehr schön, reich und schön!“

„Mein Onkel hat dort gearbeitet.“

„Ja,“, sagte Raphael, „es gibt dort viele Italiener.“

„Es ist zwanzig Jahre her!“

„So,“, sagte Raphael, „ja, früher waren es noch viel mehr.“

Einer der jungen Beamten blätterte schließlich in einem zerfledderten Adreßbuch. Tatsächlich, es gab sie, die Bergbaubehörde. Die beiden sahen sich kurz an, setzten ihre Mützen auf, knöpften die Jacken zu, „Kommen Sie mit uns und fahren Sie hinter uns her, wir zeigen es Ihnen.“

Die beiden wollten Raphael offenbar auch zeigen, was sie konnten. Sie schalteten das Blaulicht ein und rasten los; Raphael immer hinterher. Es ging in Einbahnstraßen hinein, über rote Ampeln hinweg, in vollem Tempo über Kreuzungen. - Raphael hatte Mühe ihnen zu folgen, er fing schon an zu schwitzen vor Anspannung. - Plötzlich, am Ende der Altstadt, nicht weit vom Hafen, bremste der Polizeiwagen an einem kleinen Platz, der Fahrer hielt seinen Arm aus dem Fenster und wies mit einer schwungvollen Bewegung nach rechts.

„Dort!“ rief er, „Eccolo! Das ist die Behörde! Die Bergbaubehörde!“, und fort waren sie.

Raphael parkte seinen Wagen, stieg aus und sah sich um. Er war offenbar im ältesten, verstaubtesten Viertel von Catania angelangt, vor ihm erstreckte sich eine schattige Gasse, die eng war wie eine Schlucht, von beiden Seiten flankiert von heruntergekommenen, zwei- und dreistöckigen Häusern aus dem letzten Jahrhundert, und dahinter erhob sich das Castello Ursino, das alte Stauferkastell, riesig und drohend über der Stadt.

Rechts an dem kleinen Platz stand breit und gebieterisch ein alter Palazzo, in dem sich offenbar die Bergbaubehörde befand. Energisch stieg Raphael die breite Treppe empor, die von zwei steinernen Löwen bewacht wurde, öffnete mit Mühe das schwere, schmiedeeiserne Tor und fand sich nun in einem Vestibül. An der linken Seite saß hinter einem halb hochgeschobenen, trüben Glasfenster ein magerer Pförtner in seiner engen Loge und las Zeitung. Als er Raphael kommen hörte, hob er seinen Kopf und blickte Raphael über den Rand der Zeitung hinweg skeptisch und mißmutig an und murmelte, „Was suchen Sie?“ Raphael wollte an ihm vorbei, doch da kam Leben in den kleinen Mann. Er sprang auf, kam aus seiner Loge hervorgeschossen wie ein Terrier, packte Raphael fest am Ärmel und rief, „Chiuso, tutto e chiuso! - Alles ist geschlossen!“ - Genau wie Pauline es gesagt hatte: 'Hier in Italien ist immerzu alles geschlossen!'

Raphael hielt dem Pförtner seinen Paß vor das Gesicht und ein Empfehlungsschreiben seiner Firma, sowie eine Beglaubigung des deutschen General-Konsulats in Neapel. - Der Pförtner bog Schultern und Kopf zurück und blinzelte mißtrauisch. All diese Papier schienen ihm nicht zu genügen. Schließlich legte Raphael einen ganzen Stapel Zeichnungen und Pläne der Bleigrube auf die Klappe der Pförtnerloge, fächerte sie auf, wie die Karten eines Kartenspiels; der Pförtner studierte noch einmal mißtrauisch den Paß, das Schreiben des Konsuls, die Zeichnungen, und gab Raphael schließlich das Schreiben und den Paß zurück, „Chiuso, tutto e chiuso!“, wiederholte er höhnisch, „Alles ist geschlossen!“

Wütend schob Raphael seine Unterlagen zusammen und steckte sie in die Ledertasche, stellte sich dicht vor dem Pförtner auf und begann, ihn sehr laut und auf deutsch zu beschimpfen, er würde ihn verklagen, ihn verprügeln, ihn bei seinem Chef unmöglich machen, ihn ersäufen, vergiften. „Verdammter Kerl,“, schrie er, „was bildest du dir eigentlich ein! - He?“ Der Pförtner sah ihn mit offenem Mund an. Raphael ging einfach an ihm vorbei, und der Pförtner hielt ihm sogar die Innentür auf.

Überrascht über diesen Erfolg seiner Grobheit, fand Raphael sich in einem riesigen Treppenhaus wieder, mit verstaubten Marmorskulpturen in jeder Ecke. Ein mächtiger Bronzekandelaber hing an einer Kette von der Kuppel herab, und geschwungene Treppen führten rechts und links in die oberen Stockwerke. Raphael blieb einen Moment staunend stehen, dann wählte er, wie er es immer tat, die rechte Treppe, stieg die breiten und ausgetretenen Stufen empor, vorbei an weiteren Marmorskulpturen, bis er im ersten Stock anlangte.

Hier kreuzten sich mehrere von Säulen getragene Bogengänge und ineinander verschachtelte Flure, die um einen großen Innenhof herum angeordnet waren. Das Licht aus den verschiedenen Fluchten brach sich vielfältig, und die ganze verzauberte Architektur der Spät-Renaissance und ihr Spiel mit Licht und Raum bauten sich auf vor ihm - über ihm - um ihn herum. Raphael war in eine vergessene, verstaubte Zauberburg eingedrungen.

Wie im Traum durchirrte er dann lange Korridore, öffnete ab und zu eine der vielen Türen, hinter denen verschlafene Beamte saßen, die ihn immer weiter schickten, immer wieder in ein anderes Zimmer, bis er sich vorkam, wie eine dieser Figuren in einer Geschichte Kafkas, wie im 'Schloß', - weitergeschickt und immer wieder weiter- geschickt, - sinnlos, hilflos, wütend, und gleichzeitig von der unwirklichen Atmosphäre des Baus gebannt. - Schließlich las er an einer Tür das Schild 'Registratura'.

Kurzentschlossen trat er dort ein und blickte in einem gebogenen, langen, schmalen, halb um das runde Treppenhaus herumgebauten Raum. Im vorderen Drittel des Raumes stand ein Stehpult, sonst schien der Raum leer. Doch bald entdeckte Raphael an seinem Ende einen Mann unbestimmten Alters, mit weißen Ärmelschonern, wie in einem alten Film, der schief auf einem viel zu hohen Stuhl saß, in sich zusammengesunken, verkrümmt, vor sich einen Schreibtisch, bedeckt mit Stapeln von Mappen und Ordnern, hinter sich eine endlose Wand mit Ordnern, die nach einem kryptischen System angeordnet zu sein schienen. Schließlich konnte Raphael die Jahreszahlen auf den Rücken der Ordner entziffern, beginnend bei 1922 ging es bis heute, jedes Jahr nahm mehrere Meter der Regalfläche ein.

Der Beamte hob den mageren Kopf, sah Raphael, machte ein säuerliches Gesicht, wie ein Huhn, dem man einen Wurm direkt vor dem Schnabel wegstiehlt, und wies ihn an, an das Stehpult zu treten, vorher könne er keine Fragen beantworten.

Raphael trat an das Stehpult, der Beamte erhob sich ächzend, kam an das Stehpult geschlurft und hörte sich Raphaels Anliegen mit gerunzelter Stirn, doch geduldig, an.

„Sie wollen also die Bedingungen erfahren, unter denen eine Wiederaufnahme des Erzabbaus gestattet werden könnte . . . “ Raphael nickte.

„Das ist alles?“

„Ja, das ist alles!“, sagte Raphael. Der Beamte ging an das Regal und entnahm ihm ein dickes, handgeschriebenes Buch, als er darin nicht das Passende fand, ging er zu seinem Schreibtisch, tippte etwas in seinen Computer, den Raphael noch gar nicht bemerkt hatte, so versteckt stand er zwischen den Stapeln von Ordnern und Mappen.

„Nein, noch etwas!“, fiel es Raphael ein. Wer denn der Besitzer sei, und wer der letzte Betreiber der Erz-Grube gewesen sei? Der Beamte zögerte, tippte wieder etwas in den Computer, hob endlich den Kopf, sah Raphael ernst und bedenklich an, beinahe mitleidig, - als habe Raphael vor, einen Lindwurm aufzusuchen und zu besiegen,

„Signor Gustavo Botello. - Haben Sie es sich denn gut überlegt?"

„Signor Gustavo Botello?“ Das war doch der Name, den der Alte genannt hatte, an der Grube, Botello. - Es stimmte also!

„Ja, Signor Botello. - Kennen Sie ihn denn nicht?“ So, als müsse ihn jeder kennen, diesen ominösen Signore.

„Wieso um alles in der Welt sollte ich ihn kennen?“ Der Beamte zuckte mit den Schultern. Offenbar hielt er Raphael jetzt für verrückt.

„Reden Sie mit dem Direttore!“ Er führte Raphael auf den Flur zurück, und zeigte mit der Hand auf eine große zweiflügelige Tür am Ende des langen Flurs, und wies auf eine der Bänke, die davor standen, „Warten Sie dort!“

Doch Raphael hatte keine Lust, sich zu setzen, erging lieber langsam den Flur auf und ab. An den staubigen fleckigen Wänden hingen alte Schwarzweiß-Fotografien von riesigen Kränen, Fördertürmen, unterirdischen Bergwerks-Stollen und -Gängen, Fotografien von Arbeitern, die mit den Händen alte Industrieloren voller Erz schoben, oder die mit großen Hämmern etwas aus der Wand eines Stollens herausschlugen, schwitzend, verstaubt, mit kleinen entzündeten Augen, wie menschliche Maulwürfe.

Ab und zu ging Raphael zu der zweiflügeligen Tür, klopfte daran, versuchte sie zu öffnen, doch sie war abgeschlossen. Endlich, beim dritten Versuch, waren Schritte zu hören. Ein Schlüssel drehte sich im Schloß. Die Tür wurde einen Spalt weit geöffnet. Der rundliche Kopf eines untersetzten Mannes erschien, der unfreundlich sagte: „Warten Sie!“, und wieder verschwand.

So stand Raphael wieder im Flur und wartete. Ab und zu kamen Männer an ihm vorbei, Beamte offenbar, die aus irgendwelchen Zimmern kamen und in irgendwelchen anderen Zimmern wieder verschwanden, und dabei Stöße von Akten auf ihren Händen trugen, wie Opfergaben; ein bestimmter Typ war besonders häufig vertreten, schmächtig, mit einem verschlossenen, alten Puppengesicht, umgeben von einer Gloriole staubiger Wichtigkeit.

Sie sahen sich alle so ähnlich, sie wirkten alle so mechanisch, wie ein eintöniges Ballett hölzerner Marionetten, das anzusehen Raphael durch irgendeinen Fluch nun verdammt war. - Oder wie bei einer modernen Theateraufführung, wo die Schauspieler wie irrsinnig gewordene Schachfiguren durcheinander laufen oder rennen, an Fäden gezogen, die ein ebenfalls irrsinnig gewordener Regisseur in der Hand hält, nach einem vergessenen, eintönigen Plan, den er selbst nicht mehr entwirren kann.

Und die ganze Zeit lief Raphael den Korridor auf und ab, wie ein gefangener Leopard, dachte an die Erzgrube, an Castellina, die unerwartete Begegnung mit Pauline und natürlich an diese selbst. Wenn er an Pauline dachte, fielen ihm zuerst ihre lebhaften braunen Augen ein, - immer wieder ihre Augen, - diese Augen, die alles zu sehen schienen. - 'Sie ist wirklich ein Augentier,' dachte er, 'und immer ist etwas an ihr in Bewegung.' Dann wanderten seine Gedanken wieder zurück in diesen alten Palazzo, an die Doppeltür, hinter der der Direttore residierte wie der Fürst eines kleinen, fast unbekannten Reiches.

Ab und zu klopfte er an die Tür zum Vorzimmer des Direttore. Eine Schlüssel drehte sich im Schloß, die Tür öffnete sich einen Spalt, ein Beamter erschien und herrschte ihn an: „Warten Sie!“

Die Stunden vergingen, aus den Büros kamen in kleinen Gruppen die Beamten, mit ganz anderen Gesichtern jetzt, erleichtert, befreit, sie schwatzten miteinander, - so, als hätten sie gerade eine Kerkerstrafe abgesessen und seien nun begnadigt worden, - und strebten dem Ausgang zu, bis schließlich der Pförtner die Treppe hochkeuchte und Raphael entdeckte,

„Was suchen Sie denn immer noch hier?“

„Den Direttore!“, erwiderte Raphael.

„Der Direttore,“, eröffnete ihm der Pförtner, „kommt immer nur mittags zwischen zwölf und ein Uhr, um Unterschriften zu leisten. Verlassen Sie endlich das Haus!“

„Warum hat mir das niemand gesagt?“

„Was gesagt? - Was sollte man Ihnen sagen?“

„Daß der Direttore nur mittags kurz im Hause ist!“

„Jeder weiß das! Verlassen Sie endlich das Haus, ich muß absperren! Beeilen Sie sich!“

Wieder auf der Straße mußte Raphael seine Augen zusammenkneifen. Er hatte in diesem alten, verschlafenen Gemäuer das Licht vergesssen, das blendende Licht des Südens. Er sah auf die Uhr, es war bereits vier Uhr nachmittags. Was sollte er noch hier? In diesem Catania? Etwa das alte Stauferkastell Ursino besichtigen, diese riesige drohende Zwingburg? Dafür war es viel zu spät!

Täubchen alla Boscaiola

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