Читать книгу Täubchen alla Boscaiola - Martin Schlobies - Страница 3
1. Kapitel
ОглавлениеDer Pastor von Castellina al Monte Largo war erstaunt, als er am Sonntag in der Sechsuhrmesse von der Sakristei aus die Kirche betrat, und den alten Signor Botello in der vordersten Bank sitzen sah, etwas, was über Jahre hinweg nicht geschehen war.
Signor Botello saß allein in der Bank, auch sonst war die Kirche halb leer, nur einige Frauen waren zur Messe erschienen, und ein paar halbwüchsige Mädchen, alle schwarz gekleidet, mit schwarzen Tüchern über den Köpfen. So gebeugt dasitzend wirkten sie wie ein in die Kirche eingefallener Schwarm Krähen.
Der Pfarrer schüttelte über das Erscheinen von Signor Botello unwillkürlich den Kopf, drängte dann den Gedanken an ihn beiseite, - schließlich war er Überraschungen gewohnt - und begann mit der Messe.
Obwohl Signor Botello in der vordersten Bank saß, blickte er den Pfarrer während der ganzen Messe kein einziges Mal an. Er saß aufrecht, sein zerfurchtes Gesicht blieb unbeweglich und starr, auch während er der Predigt lauschte, - oder wenigstens so tat, als ob er lauschte. Die Lider hielt er dabei halb gesenkt, und wenn er sie, wie überrascht, einmal aufschlug, ließen seine graue Augen keine Bewegung erkennen, nur seine buschigen Augenbrauen zuckten gelegentlich. Doch der scharfe Blick des Pfarrers hatten Tränen in seinen Augen entdeckt und der Pfarrer wußte nun, daß er den Alten bald wiedertreffen würde.
Signor Botello blieb die Messe hindurch so aufrecht sitzen, neigte nur knapp seinen Kopf beim Vaterunser, begann jetzt, statt die Hände zum Gebet zu falten, leicht über seine müden, schmerzenden Knie zu streichen und kam sich unendlich allein vor.
Nach dem Segen erhoben sich die Frauen und Mädchen murmelnd und tuschelnd von ihren Sitzplätzen, verließen die Bänke, blieben kurz an dem kleinen steinernen Becken neben der letzten Säule der Kirche stehen, benetzten ihre Fingerspitzen mit Weihwasser, bekreuzigten sich und verließen dann die Kirche; - und der alte Mann saß immer noch da.
Er stand als letzter auf, bewegte sich langsam, steif und wie verschlafen, durch den Mittelgang dem Kirchenportal zu, doch nicht so sehr die Worte des Pfarrers, - denn er hatte überhaupt nicht zugehört, und hätte kein einziges Wort der Predigt wiederholen können, - sondern die Tatsache allein, daß er in der Kirche gewesen war, versetzten ihn mit einem Male um Jahre zurück.
Am Weihwasserbecken bekreuzigte er sich, etwas beklommen, als unterdrücke er ein Lächeln, und ließ mechanisch eine Münze in den Opferstock fallen.
Auf der Straße blickte er hoch und sah, daß noch ein Streifen Sonne auf dem Turm der Kirche lag. Es erklang das Läuten der Glocke. All das rief ihm einen fernen Herbsttag ins Gedächtnis, vor vierzehn oder fünfzehn Jahren, den Tag, an dem er seine zweite Frau heimgeführt hatte.
Und als er sich in der einsamen kurzen Allee, die zu seiner Erzgrube außerhalb des Dorfes führte, dabei ertappte, wie er seinen Hut den Bäumen hinhielt und Blätter hineinfielen, begriff er, daß er alt geworden war. Ein Gedanke, der ihn veranlaßte, seinen Schritt zu beschleunigen.
Der Pfarrer und Signor Botello waren früher Jagdkumpane gewesen, und so geschah es nicht unerwartet, daß der Alte am Abend des gleichen Tages über den Vorplatz des winzigen Klosters ging, etwas außerhalb des Ortes, in dem der Pfarrer jetzt fast allein wohnte.
Von fern schon sah er den Pfarrer an das eiserne Gitter gelehnt, das den Platz einfaßte. Der Pfarrer winkte ihm näherzukommen, löste sich vom Gitter und machte einen Schritt auf ihn zu. Signor Botello hatte Lust zu ihm zu gehen, und gleichzeitig wollte er diesem Wink des Pfarrers nicht einfach folgen, und so ging er weiter den Platz entlang.
„Nanu, warum läufst du weg?“ rief der Pfarrer, um ihm zu verstehen zu geben, daß er gern mit ihm geplaudert hätte, „Komm näher!“ Signor Botello sah den Pfarrer an, wie man das Gesicht eines Schlafenden entziffert.
„Hast du gesehen, daß ich heute in der Kirche war?", sagte Signor Botello. Der Pfarrer lächelte. Signor Botello stellte sich neben ihn ans Gitter. 'Er wird mir vom Himmel erzählen,' dachte er. Doch der Pfarrer schwieg.
'Ich werde ihm sagen,' nahm sich Signor Botello vor, 'daß ich niemals an den Himmel gedacht hatte und doch leben konnte. Daß ich etwas anderes suche, - oder daß ich vielmehr gar nichts mehr suche. Daß ich auch nichts mehr erwarte.' Der Pfarrer schwieg.
„Seit ich häufiger dort draußen bin, bei der Grube,“ begann Signor Botello jetzt, und ärgerte sich über jedes seiner eigenen Worte, „sehe ich öfter den Himmel an. Früher vergaß ich, daß er existierte, aber jetzt - stell dir vor - glaube ich warten und weiterleben zu können, nur weil es den Himmel gibt.“
„Worauf wartest du denn?“
„Ich weiß es nicht. Auf irgendetwas. Denn ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß nach Ablauf der Nacht wirklich immer nur Müll auf den Straßen liegen sollte . . . “
„Es kommt vor, daß jemand viel Geld hat und trotzdem welches auf der Straße findet.“
„Das meine ich nicht!“
„Mir gefällt es jedenfalls, daß du zu Warten gelernt hast.“ Der Pfarrer lächelte wieder.
Signor Botello sah ihn voller Mißtrauen an, rückte ein wenig von dem Pfarrer ab, um ihn besser beobachten zu können. Er hätte sich noch weiter entfernt, wenn ihn der Pfarrer nicht, immer noch lächelnd, mit einem Vorschlag festgehalten hätte,
„Wir sollten wieder einmal Angeln gehen!“
„Wir?“
„Ja, du und ich!“, erwiderte der Pfarrer.
„Ich? - und du? - Ja! - Ist gut!“ sagte Signor Botello trocken und verwirrt; er ging fort, ohne Guten Abend zu sagen; ging jetzt die schmale Straße außerhalb des Dorfes entlang, zur Bleigrube.
An einer seit Jahren vernachlässigten Baustelle blieb er stehen, schüttelte den Kopf, und murmelte seine Kritik, „Das hätte die Gemeinde nun wirklich längst in Ordnung bringen können! Ein Skandal, wie man für so eine kleine Straßenreparatur Jahre brauchen muß . . . “
Schnell nahm er seinen Weg wieder auf, aber sein Gesicht hatte jetzt einen verbissenen, bösen Ausdruck. Nur seine einsamen, sich ständig wiederholenden Gedankengänge begleiteten ihn.
Endlich war er bei der Erz-Grube angelangt, wo sein Hund schon an der langen, straff gespannter Kette stand, still, doch mit heraushängender Zunge. Signor Botello band ihn los.
Der Hund strich ihm um die Beine, bittend, doch Signor Botello war heute unwillig, das leise Fiepen und Hecheln und Winseln zu hören, sodaß er immer wieder besänftigend: „Schön ruhig!“, sagte.
Inzwischen war es dunkel geworden. Das silberne Licht, das aussah wie vom Himmel herabgefallen, war längst einem undurchdringlichen Grau gewichen und jeder Wind hatte aufgehört. Signor Botello schloß das Haus neben der Erzgrube auf und holte sich eine Flasche Wein und ein Glas. Damit setzte er sich an die Wand des Hauses, den Blick auf den unter ihm liegenden Hang neben der Grube gerichtet. Der Mond ging gerade auf, sodaß der rauhe Hang, die Kuppen der Berge und das ferne, tief unten liegenden Meer, nach und nach in gespensterhafter keuscher Klarheit emportauchten.
Nun machte Signor Botello sich ruhig an sein Abendbrot heran, das er auswickelte, auf dem Papier ausbreitete, und mit dem Hund teilte, der seinen Teil gierig verschlang und dann seinen Kopf auf die Schuhe Signor Botellos legte. Sorgfältig faltete Signor Botello das Papier wieder zusammen und steckte es in die Tasche.
An einem anderen Abend wäre er selbst bald zur Ruhe gegangen, wäre selbst gern eingeschlafen, aber heute offenbarte sich ihm das Verrinnen der Zeit so schonungslos wie nie zuvor, und er war sogar - für einen kurzen Moment - bereit, an die Ewigkeit zu glauben.
In den letzten Jahren war er oft hier, in der Nähe der Erz-Grube, allein mit seinem Hund, lieber als in seinem Zuhause, wo er sich immer mehr als Fremder fühlte. Doch heute fühlte er das unerbittliche Schweigen der Natur um ihn herum, fühlte, wie sehr er selbst allein mit diesem Hund war, der leise zu seinen Füßen schnaufte, - all das, was ihm sonst so wohltuend gewohnt war, erschien ihm heute so verloren und machte es ihm unmöglich, Ruhe zu finden. Es genügte ihm plötzlich nicht mehr, den schmeichelnden Hals und Kopf des großen Tieres an seinen Beinen zu spüren.
Er atmete tief ein, wie um die Gedanken zu verscheuchen, die ihn so oft gequält hatten. Und wie schon vor der Kirche, in der Nähe des Klosters, wurde alles blitzartig in ihm lebendig, seine frühere Jagd nach dem Glück, die Demütigungen, die Enttäuschungen, und vor allem - seine Eifersucht, seine unsinnige, heftige Eifersucht!
Schließlich wurde er doch ein wenig müde, beugte sich liebevoll über seinen Hund, der aufgeschreckt seinen Kopf hob und ihn fragend ansah. „Nun, kannst du so einschlafen oder muß ich dir eine Gutenacht-Geschichte erzählen?“