Читать книгу Täubchen alla Boscaiola - Martin Schlobies - Страница 13

11. Kapitel

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Das Restaurant zu dem sie fuhren, war ein kreisrunder Pavillon-Bau mit einer zum Meer gewandten Front ganz aus Glas. Es war voll besetzt, und sie blieben unschlüssig an der Tür stehen. - War denn wirklich nichts frei? - Dort! Ein Paar erhob sich und ging. Und da kam auch schon der Kellner. Er begrüßte sie beide wie alte Bekannte, führte sie an das runde Tischchen, das frei geworden war, direkt vor der Fensterfront,

„Schauen Sie, extra für Sie, der Tisch in der Mitte mit der besten Aussicht!“

Vor ihnen lag weit und beruhigend das Meer, ohne Begrenzung, ohne Küste, ohne Ende. Der Himmel war klar und hell, nur am Horizont gab es einige flache graublaue Schatten. Schwärme von Seeschwalben jagten niedrig über den Wellen dahin. Vom Meer stieg das bläuliche Licht des frühen Abends zu ihnen hoch.

Der Pavillon war heiß, durch die Sonne überwärmt, doch ab und zu wurde eine Tür geöffnet und ein Luftzug wehte erfrischend herein und brachte von außen den Geruch trockenen Grases und von Kräutern und Pinien.

Der Kellner räumte den Tisch ab. Sie konnten bestellen. Raphael durchblätterte flüchtig die Karte und fragte:

„Haben Sie Täubchen alla Boscaiola?“ Der Kellner seufzte und gestand:

„Nein! Ich bedauere unendlich! Wir haben heute keine Täubchen im Haus. - Ich kann Ihnen nur Huhn anbieten, ähnlich zubereitet. Wie wäre es damit? Mit Speck und Rosmarin und Salbei gebacken. Nun?“ Doch Raphael bestand auf seinen Täubchen, und da es die nun einmal nicht gab, bestellte er Antipasti und gefüllte Calamare.

„Täubchen alla Boscaiola!“, fragte sie, „Was ist das für ein Gericht?“

„Oh, das Köstlichste, was ich je in Sizilien gegessen habe. Mit Speck und Rosmarin und Salbei gebackene Täubchen. Ich habe es ein einziges Mal vorgesetzt bekommen, bei meiner letzten Reise hierher, in einer kleinen Trattoria in einem Drecksnest irgendwo am Meer, - seitdem nie wieder. Nirgendwo sind sie zu haben, diese wundervollen würzigen Täubchen.“ Er machte dabei ein so betrübtes Gesicht, wie ein Pater, dem man diese Täubchen alla Boscaiola gerade vom Teller gestohlen hatte, und sie mußte lachen.

Die anderen Menschen im Restaurant, erst jetzt nahmen sie es wahr, verbreiteten ein leises an- und abschwellendes Gemurmel, eintönig wie an einem Strand das Klacken und Klicken der Kiesel, die von den Wellen hin und her geworden werden. Und von draußen kam ganz leise das Rauschen des wirklichen Meeres.

Der Kellner brachte das Wasser und den Wein.

„Salute!“, sagte Raphael, hob das Glas, und sie tranken sich zu.

Raphael erzählte von seiner Arbeit, Pauline versuchte zuzuhören, trank Wein, doch zu schnell und zu viel, strich sich ab und zu die Haare zurück und verschränkte die Finger, bis sie ihr wehtaten. Ihre Augen brannten plötzlich, doch sie konnte nicht an ihnen reiben, um die Schminke nicht zu verwischen. Raphael mußte etwas bemerkt haben,

„Bist du müde?“, fragte er, „Hast du zuviel gearbeitet heute?“

„Vielleicht.“

Raphael überlegte eine Weile. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, dann wurde er wieder ernst, ergriff ihre Hand und fragte sie rundheraus:

„Sag mir einmal! Warum arbeitest du soviel? Warum bist du nicht zufrieden mit dir, so wie du bist? - Mir gefällst du jedenfalls auch ohne Zeichenstift oder Meißel.“

„Was meinst du?“, erwiderte Pauline irritiert.

„Ihr modernen Frauen seid wirklich geplagt! Ständig müßt ihr euch suchen oder finden! Warum müßtihr euch denn alle selbst verwirklichen? Und vor allem wohin? - Denn das Ziel dieser Selbstverwirklichung ist ja völlig unklar! - Nun habt ihr armen Frauen den Fluch, unter dem die Männer heutzutage leiden, auch auf euch gezogen, den Fluch der Männer, die sich ja ständig etwas beweisen müssen.“

„Es gibt nichts Wichtigeres, als die Kunst;", sagte sie, um etwas darauf zu antworten, „sie ist eine Aufgabe, die ich mir nicht ausgesucht habe!“ Raphael sah sie überrascht an und dachte eine Zeitlang nach.

„Nein! - Die Menschen sind wichtiger als jede Kunst!“, sagte er - dieser Ingenieur! „Aber ich bewundere dich wirklich!“, fuhr er fort, „Ich bewundere dich und ich mag deine Bilder und deine Skulpturen!“

„Du bist kein Künstler!“, sagte Pauline leise. Sie war plötzlich ganz erschöpft und mutlos geworden, „Du verstehst ihr Drama nicht, - du verstehst mich nicht!“

„Nein, ich bin Ingenieur, es gibt kein Drama des Ingenieurs!“ Es klang bescheiden, doch dann fügte er hinzu: „Gott sei Dank!“

„Ich kann nicht mit jemand die Ferien verbringen, der sich bloß verirrt hat zu mir.“ Diese Worte waren ihr nur herausgerutscht, und sie schämte sich, sie gesagt zu haben.

„Was meinst du?“, fragte er betroffen.

„Du lebst nicht in dieser Zeit“, sagte sie und war plötzlich erbittert, „Du hast dich hierher verirrt, du tust, als ob du ein moderner Mensch wärst, aber in Wirklichkeit lebst du in der Technik, in der Vergangenheit, in einem ganz anderen Kunstbegriff!“

„Ich lebe, wenn ich dich sehe,“, sagte er, und seine Stimme klang so ehrlich, daß sich ihr Herz vor freudigem Schreck zusammenkrampfte, „sonst lebe ich überhaupt nicht, ich habe noch nie gewußt, was das Leben ist. Ich habe immer nur das Leben gespielt. Oder gearbeitet. - Jetzt sehe ich dich; das Leben suche ich bei dir, - aber ich kann nicht daran glauben, daß du es mir geben wirst, - ich wage es nicht einmal zu hoffen!“

Erschrocken nestelte Pauline an ihrer Serviette. Wie immer, wenn sie besonders verlegen war, nahm sie den Ringfinger ihrer rechten Hand und rieb an ihm. Sie konnte Raphael nicht in die Augen sehen, sah auf das Meer und bemerkte mit einem Teil ihrer Aufmerksamkeit, wie die Sonne ganz bleich und matt irgendwo unterging, ohne den Himmel zu verbrennen. Er hatte vielleicht, dachte sie, hinter seiner Maske des offenen, unkomplizierten Mannes, Jahre gebraucht, um zu dieser Ernsthaftigkeit in ein paar einfachen Worten zu gelangen.

„Schau mich nicht so an!“, sagte sie, um nur irgendetwas zu sagen.

„Ich weiß nicht, wie ich dich anschaue. - Ich bin traurig. - Ich kann mich selbst manchmal nicht anschauen und mag mich an manchen Tagen nicht einmal rasieren, - weil ich mich erschießen könnte, wenn ich mich im Spiegel erblicke, so traurig bin ich!“

Er erzählte dann von Catania vom Castello Ursino, dieser mächtigen mittelalterlichen Burg; die riesigen Mauern fünf, sechs, sieben Stockwerke hoch . . . - Da fiel Pauline ein, mitten in seiner Erzählung, sie mußte das Deutschheft einer Schülerin, das sie unsinnigerweise mitgenommen hatte, um es zu korrigieren, nach den Ferien dem Mädchen zurückgeben. Bei diesem Gedanken lächelte sie blöde. Raphael bemerkte es und war einen Moment verunsichert, stockte beim Reden, mußte einen Schluck Wein trinken, dann fuhr er fort,

„Etwas Verrücktes,“, sagte er, „sind diese Stauferburgen, es gibt sie überall in Süditalien und Sizilien. Wie riesige steinerne Spinnen lauern sie an den schönsten Plätzen und bedrohen und beherrschen das Land.

Vor Jahren habe ich eine dieser Burgen besichtigt, eng und hochgebaute Mauern, düster und doch dem Lichte zugereckt. - Eine kleine Stadt, eine eigene Welt für sich sind diese Burgen, aber eine bedrückende. - Hinterher mußte ich mich tagelang von dem Besuch erholen. - Wie eine derartige Umgebung das Leben beeinflußt haben mußte, - wie alles in hohe steinerne Formen gepreßt war, - auch das Denken, auch die Umgangsformen, auch die Bewegungen, auch der Herzschlag, alles! - auch die Liebe!“

Pauline hatte ein wenig gelangweilt zugehört und war gerade dabei, die Lichter der Boote auf dem inzwischen dunklen Meer zu zählen und blickte erschrocken hoch, aber sie mußte an ihm vorbeisehen, sie konnte Raphael jetzt nicht ansehen. - Und da erst begriff sie. Er hatte 'Liebe' gesagt!

„Ja!“ ,wiederholte er, „Auch die Liebe. Denn auch diese Menschen damals haben natürlich geliebt.“

Es schien, als sei irgendetwas Unfaßbares, Ungreifbares geschehen. Vielleicht war ein Wort zu früh gefallen, das magische Wort 'Liebe'. - Vielleicht aber handelte es sich gar nicht um Liebe zwischen ihnen?

Pauline wurde plötzlich unruhig, „Wollen wir gehen?“, sagte sie. Er nickte, sie standen auf, standen noch eine Minute am Fenster und sahen hinaus in diese dunkle Weite des Meeres, die beim Schauen immer weiter wurde, immer endloser, wie ein endloses Verlangen und Sehnen.

Ganz leise schüttelte Pauline den Kopf. Beide lösten sich gleichzeitig, wie in geheimer Verabredung, von diesem Blick auf das dunkel lockende Meer. Raphael zahlte im Vorbeigehen an der Kasse. Der Kellner bedankte sich höflich, hielt Pauline die Tür auf beim Gehen.

Oben, im Bauernhof war sie dann doch enttäuscht, als er sie vor ihrer Tür einfach ablieferte, - wie sollte sie es sonst nennen? - ihr einen Kuß auf die Wange gab und sagte: „Ich bin müde; ich bin heute fast den ganzen Tag mit dem Auto gefahren. Jetzt muß ich ins Bett. Gute Nacht!"

„Gute Nacht!“ Ruhig stieg er seine Treppe hinauf, zu seinem Schwalbennest. Die Treppe knarrte und endlich schloß er auch die Tür. Sie lauschte noch ein paar Sekunden in die Nacht, in die schwarze, abweisende Stille. Kein Vogel, nichts war zu hören, nur das ewige Gezirpe der Grillen, auf die sie wütend wurde.

Mein Gott! Wie ungenutzt vergingen diese Nächte! Keine Seufzer, kein Liebesgeflüster!

Täubchen alla Boscaiola

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