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4 (Dienstag, 23. April 2013)

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Penetrant, aggressiv und unaufhörlich klingelte um 06.30 Uhr der dunkelblaue Funkwecker. Mit ihrer rechten Hand stellte Petra Neuhaus den störenden überlauten Ton ab. «Mistding!» Ihre Hände fassten als nächstes an ihre Stirn, schon wieder Kopfschmerzen, diese verdammten pochenden Kopfschmerzen, täglich, stündlich, immer und immer wieder. Schon als junges Mädchen litt sie darunter, jetzt mit beinahe vierzig Jahren waren die Schmerzen längst zur chronischen Plage geworden. Seit über zwanzig Jahren war sie deswegen immer wieder in ärztlicher Behandlung. Was sie schon alles versucht hatte: Akupunktur, Fussreflexzonenmassage, Biofeedback, Hypnosetherapie, Progressive Relaxation, Autogene Entspannung, Medikamentenentzug, Raucherentwöhnung, HNC (human neuro cybrainetics), Osteopathie, Ernährungsberatung, Magnesium und Vitamin B Kur, Lach-Yoga, Baunscheidt-Therapie … Die Liste der unzähligen Versuche ihre Kopfschmerzen zu besiegen, schien ihr unendlich lange zu sein. Chronische Spannungskopfschmerzen hat ihr Neurologe Dr. Emanuel Wohlers diagnostiziert, dazu ist in den letzten Jahren noch eine chronische Migräne hinzugekommen. Langsam bewegte sie ihren Kopf auf dem Kopfkissen hin und her, irgendwann bringt mich mein Kopf noch um! Die weisse Rose auf dem nackten Po – ihre Gedanken wanderten zur jungen toten Frau, die letzte Nacht aufgefunden wurde. Nach nur knapp zwei Stunden Schlaf holte sie der Alltag bereits wieder ein, unbarmherzig und gnadenlos. Sie schlug ihre von der Müdigkeit gereizten Augen auf, das Licht empfand sie als störend und doch wusste sie, dass sie aufstehen musste, da gab es kein Zurück. Noch etwas unbeweglich kroch sie aus ihrem, für eine Person eigentlich viel zu grossen Bett. Sie trug nur einen eng geschnittenen schwarzen Slip und ein T-Shirt. Beides zog sie aus und warf es wütend auf das Bett, das sie beinahe verfehlte, «Scheissmorgen», sagte sie sich. Mit noch ziemlich schweren Beinen ging sie schleppend ins Bad. Ich bin viel zu müde um aufzustehen, oh, einmal einen ganzen Tag im Bett bleiben. Erst mal duschen, einen starken Kaffee trinken und ein paar Schmerztabletten runterschlucken. Dann wird die Welt gleich wieder viel besser aussehen. Zwei Minuten nach acht Uhr schritt die Kriminalkommissarin die Stufen hinauf in ihr Büro in Aarau. Sie hatte bereits zwei verschiedene Schmerzmittel und ein Antidepressivum geschluckt. Wie die chronischen Kopfschmerzen waren auch die Depressionen zu einem festen Bestandteil ihres täglichen Lebens geworden. Doch davon wussten ihre Kollegen und Kolleginnen nichts. Sie konnte es sich nicht erlauben, Schwäche zu zeigen. Eine Frau in ihrer Position musste stets stark und unverletzlich erscheinen, wie ein Fels in der wilden tobenden Brandung eines reissenden Wasserfalls. Dabei war sie doch gar nicht so widerstandsfähig und stabil beschaffen, wie sie in der Öffentlichkeit stets den Anschein machte. Eigentlich sehnte sie sich sehr danach, einen Mann an ihrer Seite zu haben, dem sie alle ihre Schwächen zeigen durfte. Doch Männer sahen in ihr immer nur die unantastbare, starke Emanze, was sie doch gar nicht war, nicht mehr, nicht mehr sein wollte. Seit Jahren hatte sie keine dauerhafte Beziehung mehr. Seit damals, seit Ulrich Zumsteg sie verliess, das war nun schon acht Jahre her. In diesen acht Jahren gab es immer wieder Partner an ihrer Seite, doch irgendwie schien sie einfach immer etwas Pech in ihren Beziehungen zu haben. Oder war es ganz einfach so, dass sie sich von einer Partnerschaft zu viel erhoffte? Die perfekte Beziehung, die in den Medien oft idealisiert wird, die gab es für sie ganz einfach nicht. Zweimal hatte sie sogar schon erotische Dates mit Frauen gehabt, einmal da war es richtig toll. Ja, Maria-Dolores hatte es ihr damals vollkommen angetan, aber eine dauerhafte Partnerschaft mit einer Frau, nein, das konnte sie sich denn doch nicht vorstellen. Somit blieb es bei einer einmaligen Affäre mit der temperamentvollen Italo-Argentinierin. Petra bezeichnete sich selbst weder als lesbisch noch bisexuell, sondern einfach offen für alles.

«Gibt’s was Neues?», fragte sie ihren Kollegen Erwin Leubin, der ihr im Mordfall Weisse Rose zur Seite stand. Erwin Leubin war vor ein paar Wochen erstmals Vater geworden. Seine Tochter Melanie schaffte es noch nicht, die ganze Nacht durchzuschlafen, darunter litt natürlich auch der Schlaf von Erwin. Dementsprechend müde und erschöpft blickte er seiner Arbeitskollegin an diesem Morgen entgegen.

«Die Ergebnisse der Obduktion sind vor ein paar Minuten eingetroffen», sagte Erwin und reichte der Kommissarin gähnend ein Dokument über den Tisch. Während sie die Zeilen las, setzte sie sich auf ihren schwarzen Bürostuhl. «Vergiftet?», sie sah ihren Kollegen verwundert und fragend an. «Damit habe ich nun wirklich nicht gerechnet.»

«Der Pathologe Josef Heidenreich sieht nicht den geringsten Zweifel. Und du weisst, Heidenreich ist eine Koryphäe, er ist schon gefühlte 50 Jahre bei uns tätig. Das Opfer ist am Nervengift Atropin, das aus der Tollkirsche gewonnen wird, gestorben. Als Todeszeitpunkt wird die Zeit zwischen 15 und 18 Uhr gestern Abend angegeben.»

«Spuren von Gewaltanwendungen oder Anzeichen einer Vergewaltigung?»

«Nein, überhaupt nichts. Nur ein paar Schürfungen, die aber wohl von ihrem Transport in den Wald herrühren.»

«Hmhm …» Petra musste nachdenken, es passte einfach nicht zusammen. «Aber warum um alles in der Welt wird die Frau vergiftet und dann, als sie tot war, in den Wald geschafft? Das macht doch keinen Sinn. Was soll denn das? Hast du darauf vielleicht eine Antwort?»

Erwin Leubin zog seine Augenbrauen hoch. Auch für ihn war diese Vorgehensweise des Mörders nicht nachvollziehbar. Kann ein Mord denn überhaupt nachvollziehbar sein? «Ach, was weiss ich, vielleicht haben wir es hier mit einem Psychopathen zu tun. Vielleicht wollte der Mörder auch nur ein Zeichen setzen.»

«Ein Zeichen?»

«Tja, wer kann denn schon ins Gehirn eines Mörders oder einer Mörderin schauen?»

«War das eine Frage oder eine Feststellung?»

«Hm, ich würde sagen, eine feststellende Frage, oder doch eher eine fragende Feststellung?»

«Werde jetzt bloss nicht philosophisch, Erwin. Und sonst?» Petra blickte ihren Kollegen forschend an. Sie wollte, sie musste mehr erfahren.

«Nun, der starke Regen macht die Spurensuche nicht ganz einfach, das kannst du dir ja wohl selbst vorstellen. Wir können aber davon ausgehen, dass die Frau mit einem Auto bis zu dem Waldhaus geschafft wurde. Trotz des Regens konnten wir deutliche Reifenspuren erkennen. Ebenso gibt es Fussspuren, die vom Waldhaus zum Fundort der Leiche führen. Beim Weg zum Fundort sind diese tiefer als beim Weg zurück zum Waldhaus. Daher scheint es als sicher, dass die Leiche bis zum Fundort getragen wurde.»

«Verfluchte Scheisse!» Mit einem schnellen Ruck stand Kommissarin Petra Neuhaus auf.

«Was?»

«Es entbehrt jeder Logik, verstehst du? Es muss einen Grund geben, warum die Frau in den Wald gebracht wurde.»

«Ja schon, aber was für einen?»

Petras Schritte führten sie ans Fenster, das sie öffnete. Sie kniff ihre Augen zusammen und schaute hinaus, sie atmete frische Frühlingsluft ein. Endlich schien wieder mal die Sonne und es war angenehm warm. «Die weisse Rose, es dreht sich alles um die weisse Rose. Der Wald muss im Zusammenhang mit der weissen Rose stehen. Dann macht es einen Sinn, weshalb die Tote dorthin gebracht worden ist. Ich bin der Meinung, dass nichts ohne Grund geschieht.»

«Ja, das ist mir bekannt, Petra.» Erwin kannte seine Arbeitspartnerin gut genug, um dies zu wissen. Manchmal kamen sich die beiden wie ein altes Ehepaar vor, was nach so langer intensiver Zusammenarbeit auch nicht weiter zu verwundern war.

«Über die Identität der Frau ist noch nichts bekannt?»

«Nein, sie trug nichts auf sich, das uns irgendeinen Anhaltspunkt geben könnte. Keinen Schmuck, keine Ausweise, keine Handtasche, rein gar nichts.»

«Das stimmt nicht ganz. Du vergisst die Halskette mit dem Schutzengel, auf dem der Buchstabe S steht, Erwin.»

«Ja, das ist richtig, der Täter hat dies wohl übersehen. Das ist aber auch wirklich alles was wir haben. Nur eine Kleinigkeit, aber vielleicht hilft uns die Kette wirklich noch weiter.»

«Und wie steht es mit den DNA-Spuren? Der Täter muss doch irgendwelche Spuren hinterlassen haben.»

«Die Spurensicherung hat nichts gefunden. Der oder die Täter müssen wohl Handschuhe getragen haben, und sind auch sonst überaus vorsichtig ans Werk gegangen.» Erwin trat ans Fenster nahe an Petra heran. «Glaubst du, dass es sich bei ihr um eine Prostituierte handelt?»

Petra wandte sich um und ging wieder zu ihrem Schreibtisch zurück, auf dem sich noch immer die Fotos der Toten befanden. Sie setzte sich und betrachtete die Bilder. «Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube aber auch nicht, dass es sich um eine Beziehungsgeschichte handelt. Wenn wirklich keine DNA-Spuren zu finden sind, dann muss es sich um einen gezielt geplanten Mord handeln.»

«Davon müssen wir wohl ausgehen.»

«Wo könnte sie vor ihrem Tod gewesen sein? Ich meine, ihre ganze Aufmachung mit den High Heels, dem Minirock und der weissen, fast schon durchsichtigen Bluse, muss doch einen Grund haben.»

«Ich denke mir, dass sie wohl auf einer Party gewesen ist.»

«So Erwin, das denkst du, das ist ja wirklich wahnsinnig hilfreich. Gibt es denn keine Vermisstenanzeige?»

«Nein, bisher nicht.»

«Es kann doch nicht sein, dass sie von niemanden vermisst wird.» Sie verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf, streckte sich und schloss die Augen. Sie versuchte nachzudenken, aber sie fühlte sich leer, so unendlich leer. Ihre Gedanken bahnten sich einen eigenen Weg durch ihren Kopf. Manchmal hasste sie ihren Job und sie fühlte sich so hilflos, beinahe schon ohnmächtig gegenüber all den Verbrechen, die da begangen werden. Dabei hatte sie es ja gar nicht so oft mit solchen schweren Gewaltverbrechen zu tun. So voller Mörder ist die Welt nämlich gar nicht, wie man dies aufgrund der vielen Kriminalfilme und -romane eigentlich annehmen könnte.

«Geht es dir gut?» Erwin schien sich um seine Kollegin echte Sorgen zu machen. Seit sieben Jahren arbeiteten die beiden nun schon zusammen und sie waren nicht nur Arbeitskollegen. Nein, sie waren inzwischen richtig gute Freunde geworden.

«Aber natürlich geht es mir gut, sehr gut sogar. Denn schliesslich darf ich einen Mord an einer bildhübschen jungen Frau aufklären, die noch ihr ganzes Leben vor sich hatte. Wahrscheinlich wieder einer der unzähligen, vollkommen überflüssigen Morde.»

«Höre ich da einen kleinen ironischen Unterton? Und eigentlich ist es doch so, dass jeder Mord überflüssig ist, nicht wahr?»

«Es gibt Morde, die sind noch überflüssiger als andere.» Petra Neuhaus öffnete ihre Augen, die sie so schmerzten. «Bringst du mir bitte einen Kaffee, Erwin?»

«Klar, bin schon unterwegs», bereits hielt Erwin den Türgriff in der Hand und wollte Petras Büro verlassen.

«Wie steht es mit einer Pressekonferenz? Wir müssen doch die Medien informieren.»

«Die Staatsanwaltschaft hat bereits einen Termin festgelegt, heute um 16.30 Uhr.»

«Ach? Und warum sagst du mir das erst jetzt? Was soll denn das? Du musst mich doch über solche Sachen informieren!» Petra wirkte verbittert und wütend. Erwin verliess kopfnickend mit einem leisen «Sorry» das Büro, während Petra wieder die Augen schloss und an etwas längst Vergangenes dachte. Etwas, das sie schon lange aus ihrem Gedächtnis versuchte zu löschen, was ihr aber nicht gelang, nie gelingen würde.

Petra musste so etwa sechzehn, siebzehn Jahre alt gewesen sein. Sie lebte zusammen mit ihrer Schwester Anita und ihren Eltern in Baden. Ihr Vater Josef war ein leitender Angestellter in der damaligen BBC. Es war gerade zu jener Zeit als die BBC mit der schwedischen ASEA fusionierte, daraus resultierte dann der neue ABB-Konzern. Petras Mutter Therese arbeitete als Sekundarlehrerin in Wettingen. Petra stammte also aus einem sogenannt guten, beinahe schon perfekten Elternhaus. Doch wie es halt oft so ist, mussten Anita und Petra auch Entbehrungen in Kauf nehmen, denn ihre Eltern hatten nicht so viel Zeit für sie, wie sich dies die Kinder von ihnen wünschten. Eventuell war es aber auch so, dass die Eltern Zeit gehabt hätten, wenn sie denn nur wollten. So zumindest kam es Petra leider oft vor.

Anita war drei Jahre älter als Petra und studierte in Bern an der Uni Biochemie und Molekularbiologie. Während der Woche wohnte Anita mit drei Studienkolleginnen in einer WG an der Gerichtsgasse in Bern. Lediglich die Wochenenden verbrachte sie in Baden. Zunächst fiel Petra die Veränderung von Anita gar nicht auf. Doch irgendwann schien es ihr, dass Anita immer nervöser und unkonzentrierter wurde, sich immer mehr auf Freundschaften auch mit dubiosen Gestalten einliess. Eines Tages dann, als sie zusammen im Hallenbad waren, sah sie mit Erschrecken die Einstiche an ihrem Bauch.

«Hey Anita, was hast du denn da?», fragte sie entsetzt.

«Ach, das ist nichts, das ist bloss so ein komischer Hautausschlag, kommt wohl von einer Allergie. Das geht schon wieder vorbei.»

Petra fasste Anitas Hand: «Spritzt du dir etwa Drogen?»

«Lass mich doch in Ruhe», erwiderte Anita resolut. Sie riss sich von Petra los, setzte sich abrupt auf und sprang ins erfrischende Wasser, das hoch aufspritzte und wie ein Gewitterregen wieder hinunter prasselte. Petra sah ihr zu, wie sie wütend und kraftvoll einige Längen schwamm. Ausser Atem kletterte sie aus dem Schwimmbecken, liess sich neben Petra auf ihr Badetuch fallen, die zu ihr sagte: «Mach bloss keinen Scheiss, Anita!»

Anita wusste nun, dass Petra bemerkt hatte, dass sie sich Drogen spritzte, nämlich Heroin. Die ersten Versuche mit Heroin machte sie an der Silvesterparty vor etwa fünf Monaten. Sie sass mit ihren WG-Kolleginnen am Tisch, als dieser Pedro auftauchte. Pedro Alvare hiess der Uruguayer, den eine ihrer Kolleginnen, Jeanette Hugenschmidt, kannte. Anita konnte sich später noch gut an ihn erinnern. Seine Arme waren stark tätowiert, seine Haare hatte er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, seine Augen blickten geheimnisvoll in die Welt hinaus. Ihr schien, als wäre er aus einer anderen Welt zu ihnen gekommen. Nach einigen Caipirinhas sagte er dann: «Kommt Mädels, ich hab’ da was für euch, das macht euch so richtig schön happy, wollt ihr das ausprobieren? Wollen wir zusammen eine Reise ins unendliche und vollkommene Glück unternehmen?» Bevor sie richtig denken konnten, waren die vier jungen Frauen mit Pedro auch schon in einem Hinterhof angelangt. Als sich Anita am nächsten Tag versuchte zu erinnern, schien es ihr schwer die Zusammenhänge klar zu deuten. Es fiel ihr wieder ein, dass Pedro sagte: «Lasst uns ein Spiel machen. Wer verliert, der bekommt von mir als Trostpreis eine Spritze voller Glückseligkeit geschenkt.»

Eine Spritze, ja eine Spritze voller Glückseligkeit sagte er, er meinte natürlich eine Dosis Heroin. Sie wusste nicht mehr was geschah, sie spielten irgendein Kartenspiel, das Pedro wie von Zauberhand immer wieder gewann und die vier jungen Frauen bekamen in ihrem Alkoholrausch allesamt ihre erste Heroinspritze verpasst. Von der ersten Spritze bis zur Abhängigkeit war es dann nur ein kleiner Schritt, ein Katzensprung, wie man sagt.

Nachdem Petra ihre Drogenabhängigkeit entdeckt hatte, verbrachte Anita nur noch selten ihre Wochenenden in Baden. Sie entfremdete sich immer mehr, was ihren Eltern aber gar nicht auffiel, da sie ja so sehr mit sich selbst beschäftigt waren. Petra jedoch machte sich immer mehr Sorgen und so suchte sie ihre Schwester eines Tages in Bern auf, um ein ernstes Wort mit ihr zu reden. Ein Wort von Schwester zu Schwester. Sie musste mehrmals klingeln, bis Anita endlich die Türe öffnete. «Mensch Petra, was machst du denn hier? Ist etwas passiert?»

«Ich muss mit dir sprechen, unbedingt, ich mach mir ernsthafte Sorgen um dich.» Petra schritt in die Wohnung, die ihr wie eine Art moderne Müllhalde vorkam. «Sag mal, wie sieht es denn hier aus?»

«Warum?»

«Warum? Sieh dich um! Wann habt ihr denn das letzte Mal aufgeräumt?»

«Wer aufräumt, der ist nur zu faul um zu suchen», erwiderte ihre Schwester und ging ihr voraus in ihr Zimmer, in dem ein wahres Chaos herrschte. Petra musste sich mit ihren Füssen buchstäblich einen Weg durchs Zimmer freibahnen. Sie hielt den Atem an und öffnete schnell das Fenster. «Sag mal, lüftest du eigentlich nie?»

«Weshalb denn, ich hab’ genügend Luft. Bist du zu mir gekommen, um mich zu beatmen oder was?»

Petra blieb zunächst am Fenster stehen, damit es ihr durch den abgestandenen Zimmergeruch nicht doch noch übel wurde. Sie blickte ihre Schwester besorgt an, die sich inzwischen auf ihrem Bett hingelegt hatte. Sie wusste nicht mehr, wie lange sie sich die ausgemergelte Anita angesehen hatte, vielleicht zehn Sekunden, vielleicht fünf Minuten. «Was willst du von mir?», brach Anita das Schweigen.

«Du hast uns schon lange nicht mehr besucht.»

«Muss ich das denn?»

«Müssen? Nein.»

«Na eben.»

Pause, eine sehr beklemmende Pause machte sich breit. Wer würde wohl als Erste den Bann brechen?

Petra setzte sich zu Anita ans Bett, das wohl schon seit Wochen keine frisch gewaschene Bettwäsche mehr gesehen hatte. Sie musste ihre aufkommenden Tränen unterdrücken, was ihr nur schwerlich gelang. «Ich weiss warum du nicht mehr kommst. Du kannst mir nichts vormachen oder mich für dumm verkaufen, du nimmst Drogen. Das ist ein ganz grosser Blödsinn, was du da machst. Eine richtige Scheisse ist das!»

«Oh, meine kleine Schwester macht mir Vorwürfe, sie will mir sagen, wie ich zu leben habe, wie ich mich verhalten muss, was ich darf und was nicht.»

«Mach dich nicht lächerlich, es ist viel zu ernst.»

Anita setzte sich auf und blickte Petra mit traurigen schmerzerfüllten Augen an: «Wissen es die Eltern?»

«Nein, ich habe ihnen nichts gesagt.» Wieder machte sich eine beängstigend lange Pause zwischen den beiden Schwestern breit. Anita sah auf den Boden und sagte, oder genauer, sie flüsterte kaum hörbar: «Danke.»

«Hier ist dein Kaffee, Petra.» Jäh wurde die Kommissarin aus ihrer tiefen Gedankenwelt herausgerissen, als Erwin mit dem bestellten, wohlriechenden Kaffee ins Büro trat. Der Duft des Fair-Trade-Kaf-fees aus Bolivien erfüllte den Raum. «Was ist los, störe ich etwa?»

«Ach nein, ich war mit meinen Gedanken nur etwas abgeschweift.» Sie nahm die Tasse von Erwin und trank genussvoll den Kaffee, der ihr wie ein kleines Wunder vorkam. Eine grossartige Erfindung so ein Kaffee, wie würde ich wohl ohne Kaffee den Alltag überleben? Wahrscheinlich überhaupt nicht. Ein dreifaches Hoch auf die Personen, die dieses Wundergetränk entdeckt haben. «Das tut gut. Sag mal Erwin, hast du schon mal irgendwas von einem Mord gehört, bei dem eine weisse Rose mit im Spiel war?»

Erwin dachte kurz nach, doch er schüttelte sofort entschieden den Kopf. «Nein, nicht dass ich wüsste, wirklich nicht. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, was die weisse Rose bedeutet, welche Rolle sie spielt.»

Petra setzte sich an ihren Computer. «Wollen wir doch mal schauen, ob ich irgendwas rausfinde. Vielleicht gab es ja früher schon mal einen Mordfall mit einer weissen Rose. Vielleicht irgendwo an einem anderen Ort in der Schweiz oder sogar im Ausland. Und du fragst nochmal nach, ob mittlerweile eine Vermisstenanzeige eingegangen ist. Irgendwer muss die junge Frau doch vermissen.» Wortlos zustimmend verliess Erwin das Büro der Kriminalkommissarin.

Petra betätigte sich indes eifrig an ihrem Computer. Wollen wir doch mal schauen, ob wir zwei das Geheimnis der weissen Rose knacken können. Komm schon Harry. Harry, ja Harry, so nannte sie ihren Computer.

Plötzlich fuhr ein schrecklicher Gedanke in ihre rasenden Gehirnzellen, ein Gedanke, der beinahe erstarren liess: Weisse Rosen, ja weisse Rosen, waren da nicht weisse Rosen auf dem Grab bei der Beerdigung meiner Schwester Anita? Weisse Rosen von einem unbekannten Verehrer, wie ich und meine Eltern annahmen. Doch steckte etwas ganz anderes hinter diesen weissen Rosen?

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