Читать книгу Das Ende des Laufstegs - Martin Willi - Страница 7

1 (Montag, 22. April 2013)

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Einfach unglaublich dieser Frühling in diesem Jahr, dachte sich Hans-Peter Huber nun schon zum wiederholten Male als er gegen den finsteren, fast etwas unheimlich wirkenden Nachthimmel emporblickte, jetzt haben wir doch schon den 22. April und wir hatten noch kaum einen warmen Tag. Das gibt’s doch gar nicht so was. Das hab’ ich wirklich noch nicht oft erlebt. Es musste wohl in der Tat schon seit Tagen unaufhörlich geregnet, nein, schon eher geschüttet haben. Zumindest war der schmale Waldweg dermassen verdreckt und schwer zu begehen, wie es Hans-Peter Huber noch kaum angetroffen hatte. Und dies hatte nun tatsächlich etwas zu bedeuten, Hans-Peter war doch schon knappe 70 Jahre alt. Ein starker Südwestwind wehte durch die Bäume und Sträucher, deren wildes, ungestümes Rauschen überaus deutlich zu vernehmen war. Ganz offensichtlich herrschte hier ein Kampf des Windes gegen die Bäume, die er mit aller Kraft zu entwurzeln versuchte, doch dafür war er denn doch zu schwach. Oder etwa doch nicht? Zumindest vernahm Hans-Peter das Knarren der dunklen Bäume und es schien ihm, als sei es nur eine Frage der Zeit, bis die ersten Baumstämme den Kampf gegen den Sturm verlieren und wie Zahnstocher auseinanderbrechen.

Die Bäume knarren …, ja so heisst doch ein Gedicht des deutschen Lyrikers Georg Heym, erinnerte sich Hans-Peter Huber, als er kurz innehielt und mit schneller klopfendem Herz dem bedrohlichen Knarzen und Krachen lauschte. Ein Gedicht, das er in seiner Schulzeit auswendig lernen musste und auch jetzt noch immer kannte und überaus liebte: Die Bäume knarren, wirr betäubt. Sie wissen nicht, was sie auseinandertreibt, ihre haarlosen Schöpfe. Und die Raben, über den Wäldern gesträubt, streifen in das Verschneite weit, eine klagende Herde. Die Blumen starben in der goldenen Zeit und Winter jagt uns über dunkle Erde. Georg Heym, ja dieser Dichter hatte es Hans-Peter Huber schwer angetan, er bezeichnete sich selbst gerne als absoluten Heym-Fan. Dies obwohl Heym aufgrund seines frühen Todes nicht wirklich bei Jedermann bekannt war, dies war ja auch gar nicht möglich. Heym verstarb mit erst 25 Jahren beim Schlittschuhlaufen auf der Havel, als er seinen Freund vor dem Ertrinken retten wollte. Dennoch hinterliess der Autor seiner Nachwelt die stolze Zahl von über 500 Gedichten und literarischen Werken. Trotz seines kurzen Lebens gilt Heym heute als einer der bedeutendsten Lyriker deutscher Sprache und Wegbereiter des literarischen Expressionismus. Was wäre wohl aus ihm geworden, wenn er länger gelebt hätte? Flurin, Hans-Peters treuer Hund schien heute nur widerwillig den für ihn eigentlich gewohnten Abendspaziergang mitzumachen. Dies war nun wahrhaftig unschwer zu erkennen. Geräusche wie Wind und Donner waren dem fünfjährigen reinrassigen deutschen Schäferhund mit dem vollen Namen «Flurin von Hohenroggen» ein richtiger Gräuel. Bei einem Gewitter wurde der sonst so stolze kräftige Hund zu einem Jammerlappen. Da verkroch er sich am liebsten winselnd im ruhigen Keller des Einfamilienhauses, in dem Hans-Peter seit dem Tod seiner Gattin Dora mit seinem Hund alleine lebte. Für Hans-Peter war Flurin viel mehr als nur ein Hund. Vor allem seit Doras Tod war Flurin zu einem Kameraden, ja zu einem treuen Freund und Begleiter geworden, den er mit Bestimmtheit nicht mehr missen wollte. Das Sprichwort «Der Hund ist des Menschen bester Freund», hatte für Hans-Peter seine absolute Richtigkeit.

Vor etwas mehr als zwei Jahren war es, als Dora plötzlich ohne Vorwarnung erkrankte – Speiseröhrenkrebs war die alles vernichtende, niederschmetternde Todesdiagnose der behandelnden Ärzte. Wie oft wünschte sich Hans-Peter, dass seine Dora, die er mehr liebte als alles andere auf der Welt, das für ihn so sehr verhasste Rauchen endlich aufgeben würde. Doch alle seine Versuche waren umsonst, für Dora war das Rauchen ein Genuss, ein Lebensgefühl, auf das sie nicht verzichten wollte, unter gar keinen Umständen. Das kam für sie überhaupt nicht in Frage. Es war ihr, ganz einfach gesagt, zu wichtig um aufgegeben zu werden. Für Hans-Peter waren Doras Ansichten über das Rauchen schlichtweg unverständlich. «Wie kann denn Rauchen ein Genuss sein? Du nimmst eine stinkige Zigarette in den Mund und der Rauch bahnt sich unaufhaltsam einen Weg durch deinen lieblichen sinnlichen Mund, deinen Hals, deine Lunge und deine Nase. Überall hinterlässt der verdammte Rauch seine Spuren. So etwas kann man doch nicht geniessen, Dora! Das ist unmöglich!»

Doch Dora hielt Hans-Peters Angst um ihre Gesundheit, aber auch den Ekel, den er vor dem Gestank hatte, als masslos übertrieben. Immer und immer wieder versuchte Hans-Peter seiner Frau die Gründe seines Abscheus, seines fast schon abgrundtiefen Hasses auf das Rauchen zu erklären. In vielen, fast schon unzähligen Gesprächen, bat er seine Frau darum, die Sucht zu bekämpfen. Es war mehr als nur ein Bitten, es war ein stetes Flehen, er hätte alles getan als Gegenleistung. Alles, wirklich alles? Nun, alles kann ein Mensch eigentlich gar nicht tun, das geht gar nicht, das war Hans-Peter selbstverständlich auch bewusst. Aber auf alle Fälle hätte er versucht alles zu tun, was ihm möglich gewesen wäre. Doch je mehr er bei Dora flehte, umso trotziger und widerwilliger reagierte sie auf seine unzähligen Versuche. So blieb Hans-Peter am Schluss nichts Anderes übrig, als das Ganze resigniert, zermürbt und hoffnungslos zu akzeptieren. Dora schien es gar nicht zu bemerken, wie Hans-Peter sich von ihr distanzierte, da er sich so sehr vor dem Geruch ekelte, obwohl er sie doch mehr liebte, als alles andere auf der grossen weiten Welt. Für Hans-Peter schien es oft wie ein Teufelskreis zu sein, aus dem er und Dora nicht mehr herausfanden. Wie oft dachte Hans-Peter daran seinem Leben ein Ende zu machen, weil er mit der ganzen Situation überfordert war. Und doch schaffte er es nicht, seine Dora alleine zu lassen.

Nur gerade sieben Monate dauerte es von der Diagnose bis zur Beerdigung. Es waren sieben unendlich lange Monate, die Hans-Peter wie sieben Jahre oder noch länger vorkamen. Unerdenklich waren die Schmerzen, an denen seine Dora in den letzten Wochen litt, ihr Tod war schlussendlich wie eine Erlösung für sie, aber auch für ihn. Die ersten paar Wochen nach Doras Tod waren für den plötzlich einsamen Hans-Peter fast nicht auszuhalten. Zu sehr vermisste er die Frau, mit der er über vierzig Jahre Seite an Seite zusammenlebte und die ihn nun alleine liess. Ein Herz und eine Seele waren sie zwar nicht immer, aber richtigen Streit gab es während dieser Zeit auch keinen, ab und zu die zum Leben gehörenden Differenzen und Meinungsverschiedenheiten. Aber sonst, sonst herrschte eigentlich eine recht harmonische Beziehung, wenn nur das Problem mit dem Rauchen nicht gewesen wäre. Es dauerte einige Monate bis sich Hans-Peter in seinem neuen Leben als Wittwer richtig orientieren konnte und sich wieder zurechtfand.

Und auch wenn die Ärzte keinen direkten Zusammenhang von Doras Rauchgenuss und dem Speiseröhrenkrebs bestätigten, so war und ist für Hans-Peter auch heute noch eindeutig klar, dass seine geliebte Frau vor allem durch das Nikotin krank geworden war. Seit dieser Zeit hatte sich sein Hass auf das Nikotin als Ganzes noch um ein Vielfaches verschärft.

Unvermittelt prasselte der starke Frühjahrsregen auf den Waldweg, aus dem Städtchen Laufenburg herauf waren die Glocken der reformierten sowie der römisch-katholischen Kirche zu vernehmen, aber auch die Glocken der Heilig Geist Kirche ennet des Rheins, aus dem deutschen Laufenburg, waren überaus deutlich zu hören. Seit seiner Geburt lebte Hans-Peter immer in Laufenburg, er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass er je an einem anderen Ort der Welt hätte leben können. «Einmal Laufenburg, immer Laufenburg, von der Geburt bis zum Tod, von der Wiege bis zur Bahre», pflegte er jeweils voller Überzeugung zu sagen, wenn er daraufhin angesprochen wurde. Er liebte diesen malerischen Ort am Rhein, seine idyllische Altstadt, die alten Türme aus längst vergangenen Zeiten, wie die Menschen die hier lebten. Auch die Geschichte der Stadt hatte es ihm angetan. Die Stadt, die durch die Französische Revolution getrennt wurde, denn, der am 9. Februar 1801 unterzeichnete Friede von Lunéville, teilte Laufenburg in zwei Hälften. Der von der Einwohnerzahl her kleinere rechtsrheinische Teil gelangte zum Grossherzogtum Baden, umfasste aber etwa zwei Drittel des Gemeindebanns. Am 20. Februar 1802 wurde der linksrheinische Teil Laufenburgs Hauptort des gleichnamigen Distrikts im Kanton Fricktal, der sich im August der Helvetischen Republik anschloss, damit war dieser Teil Laufenburgs schweizerisch geworden.

Trotz Wind und Regen waren die Glockenschläge sehr gut hörbar, zehn Uhr abends war es, als Hans-Peter sich mit Flurin dem Waldhaus näherte. «Dort bei der Hütte machen wir eine kleine Pause, Flurin. Das haben wir uns nun wahrlich verdient, meinst du nicht auch? Wir müssen ja bescheuert sein, bei diesem Wetter einen Spaziergang zu machen. Ich werde wohl nur noch älter und dümmer. Oder was meinst du? Du sagst natürlich wieder nichts, so wie immer. Na egal, auf alle Fälle gibt’s jetzt erst mal eine Pause. Vielleicht hört der Regen ja doch noch auf.» Der Hund spitzte seine Ohren; Pause, dieses Wort kannte und liebte er. Schnellen Schrittes eilten die beiden durchnässten Gestalten dem langsam nahenden Waldhaus entgegen.

Vielleicht noch fünfzig Meter trennte die beiden bis zum schützenden Dach. Aber was war denn jetzt bloss mit Flurin los? Wie angewurzelt blieb der Vierbeiner urplötzlich stehen, sein aufgeregter Blick richtete sich zu einigen alten grossen Tannen hin. Der Schäferhund fletschte die Zähne, er knurrte und liess alsbald ein kräftiges drohendes Bellen ertönen. «Was soll denn das? Flurin, spinnst du denn? Hör auf zu bellen und komm endlich. Ich will mir hier wegen dir nicht den Tod holen. Ich will eigentlich noch ein paar Jahre leben. Hörst du nicht, jetzt komm endlich!» Hans-Peter zerrte mit all seiner vorhandenen Kraft an der ledernen dunkelbraunen Leine, die er seinem Hund erst vor wenigen Tagen gekauft hatte. In einem Schweizer Fachgeschäft natürlich, denn Qualität darf auch etwas kosten, das war Hans-Peters Meinung. Doch wie sehr sein Meister auch zerrte, so liess Flurin sich nicht dazu bewegen, den Weg gemeinsam in Richtung des vor der Nässe schützenden Waldhauses fortzusetzen. «Na gut, du störrischer alter Bock was du bist», sagte sich Hans-Peter und liess sich von seinem Hund zu den mächtigen Tannen führen, die ihm einen beängstigenden Eindruck machten.

Was ist denn das? Ein Schuh? Das kann doch gar nicht sein, ich muss mich irren. Doch Hans-Peters Blick schien ihn nicht getäuscht zu haben. Da lag wirklich ein roter Schuh, ein Stöckelschuh um genau zu sein. «Jaja, ist ja schon gut Flurin, führ dich nicht so auf wie ein wild gewordener bockiger Esel.» Schnell bückte sich nun der Hundehalter und wollte schon den Stöckelschuh ergreifen und an sich nehmen, als sein Blick durch etwas anderes abgelenkt wurde. Das schon nicht mehr ganz junge Herz von Hans-Peter Huber blieb einen Sekundenbruchteil stehen, sein Blick starrte auf etwas Ungeheuerliches, nicht mal im schlimmsten Traum hätte Hans-Peter daran gedacht, dass ihm jemals so etwas passieren würde.

Nur wenige Meter von ihm entfernt lag eine Gestalt, ein Mensch, eine junge Frau, wie er unschwer erkennen konnte. Kurz hielt Hans-Peter in der gebückten Stellung inne, bevor er sich langsam, beinahe schon in Zeitlupentempo, erhob. Flurin bellte wie wild um sich. «Oh Gott, das darf doch nicht wahr sein», entfuhr es Hans-Peter, während er unsicher um sich blickte. Sein Atem begann flach zu rasen. Der nun angsterfüllte Rentner zögerte, sollte er sich der ein paar Meter vor ihm liegenden Frau nähern? Langsam tastete er mit den Schritten den Boden ab und wagte sich an die Frau heran, beinahe schon Zentimeter um Zentimeter. «Hallo, kann ich Ihnen helfen?» Warum rufe ich überhaupt, die ist doch bestimmt tot. Und wirklich, jetzt wo sich Hans-Peter in Schrittnähe zur Frau befand, war für ihn klar ersichtlich, dass die Frau nicht mehr leben konnte. Sie lag auf dem Bauch, den Kopf nach unten im Schlamm. Ihre langen roten Haare waren nass und verdreckt, sie bedeckten fast den ganzen Kopf. Den Oberkörper bekleidete eine einst wohl weisse Bluse. Ihre schlanken wohlgeformten Beine zierten schwarze Netzstrümpfe und am rechten Fuss trug sie noch immer den roten Stöckelschuh, der zweite des Paares, von dem Hans-Peter bereits einen kurz davor entdeckt hatte. Was Hans-Peter Huber jedoch als Erstes auffiel und was ihn sehr verwunderte, aber auch schockierte, war die Tatsache, dass der schwarze Minirock und der ebenso schwarze Slip der jungen Frau hinuntergezogen waren und dass sich eine weisse Rose auf dem nackten Hinterteil befand.

Die entsetzten, weit aufgerissenen, Augen des Mannes starrten noch immer auf die weisse Rose, während er mit der einen Hand seinen intensiv schnuppernden Hund hielt und mit der anderen sein Mobiltelefon aus der Jacke klaubte. Erst vor wenigen Wochen hatte er sich erstmals ein sogenanntes Handy gekauft. «Nur für den absoluten Notfall», sagte er sich damals. Ohne zu ahnen, dass dieser Notfall schon so bald eintreffen würde. Die zitternden Hände wählten mühsam die Nummer des Polizeinotrufs: 117

Rund eine Stunde später sass der noch immer verwirrte und etwas zitternde Hans-Peter mit einer grauen wärmenden Wolldecke umschlungen im Waldhaus, das sich nahe vom Tatort befand. Zu seinen Füssen lag ein sichtlich erschöpfter Flurin. Ein gutes Dutzend Polizisten durchkämmte die nähere Umgebung, sie untersuchten den Tatort, sicherten die Spuren, fotografierten die tote Frau. Wenigstens hat es endlich aufgehört zu regnen, das wurde aber auch Zeit, dachte sich Hans-Peter, als er durchs Fenster hinaus in die Dunkelheit spähte, damit er erkennen konnte, was draussen denn überhaupt so alles vor sich ging. Genau in diesem Augenblick drückte eine kräftige Hand die eiserne Türklinke des Waldhauses nach unten. Ein Polizist in Uniform trat in das Innere der Hütte, gefolgt von einer Frau in Zivil. «Guten Abend Herr Huber. Mein Name ist Petra Neuhaus, ich bin Kriminalkommissarin und leite die Untersuchung dieses Mordfalls. Sie haben die Tote also gefunden und uns angerufen, nicht wahr?» Mit ihrer ruhigen sinnlichen Stimme richtete sie diese Worte an Hans-Peter. Was für eine hübsche Frau, die sieht ja fast so aus wie die Christine Neubauer vom Fernsehen, nur etwas jünger. So dachte er sich noch, bevor er mit einem knappen «Ja», die Frage beantworten konnte.

«Haben Sie ausser dem roten Stöckelschuh sonst noch etwas gefunden oder ist Ihnen irgendetwas besonderes oder merkwürdiges aufgefallen?»

«Nein, tut mir leid, aber ich kann Ihnen in dieser Angelegenheit wohl nicht weiterhelfen.»

«Ihnen ist auf Ihrem Spaziergang durch den Wald auch niemand begegnet?»

«Nein, wirklich nicht. Bei diesem Wetter traut sich wohl niemand raus, wenn er nicht muss. Wenn ich keinen Hund hätte, so wäre ich bestimmt auch im Trockenen geblieben. Das können Sie mir nun wirklich glauben.»

Allerdings, dachte sich Petra Neuhaus. Wie schön wäre es doch bei diesem furchtbaren Wetter Zuhause im warmen weichen Bett zu liegen. Und am liebsten mit einem tollen Mann der mich verwöhnen würde, bis ich schreie vor Glück, das wäre wundervoll. «Ich denke mir, dass es am besten ist, wenn ein Kollege Sie und Ihren Hund nach Hause fährt. Wir haben ja Ihre Personalien und werden uns wieder melden, sofern wir Sie noch benötigen.» Die Hand der Polizistin ergriff eine Zigarettenschachtel im Innenteil ihrer Jacke und zog diese gewandt und wie selbstverständlich heraus. Noch während der uniformierte Polizist ihr entgegenkommend die Zigarette anzünden konnte, fragte Hans-Peter: «Rauchen Sie schon lange?»

«Seit meiner Jugend.»

«Und warum?»

«Wie bitte?», die Kommissarin war verwundert über die ihr so direkt gestellte Frage. Verblüfft schaute sie den Barträger an, der sie mit starrem Blick anvisierte.

«Warum tun Sie das, wenn ich Sie fragen darf?», Hans-Peters Stimme erklang nun wie auf einen Schlag hartnäckig, beinahe schon dominant und eisern.

«Es gefällt mir, es ist wie ein Lebenselixier für mich», antwortete die attraktive Frau mit dem Ansatz eines gewinnenden Lächelns. Gleichzeitig entwich eine kleine Wolke mit Zigarettenrauch aus ihrem Mund. Innert Sekundenbruchteilen schlossen sich ihre vollen sinnlichen Lippen wieder um die Zigarette, damit sie den nächsten Zug inhalieren konnte.

Hans-Peter schloss zunächst kurz die Augen und blickte dann zur Seite. Er schaffte es nicht, der Kommissarin beim Rauchen zuzusehen. Zu sehr wurde er an den Tod seiner innig geliebten Dora erinnert. Doch nach einigen Sekunden und mit den Worten: «Meiner Frau hat es auch gefallen, bis sie an diesem verfluchten Scheissgift gestorben ist», stand Hans-Peter bestimmend auf. Sein Blick richtete sich genau gezielt und gestochen scharf in die graublauen Augen von Petra Neuhaus. Fünf, vielleicht zehn Sekunden standen die beiden da und schauten, nein, sie starrten sich beinahe an. Eine beklemmende Stille umgab die Beiden.

«Entschuldigung, das habe ich nicht gewusst, es tut mir sehr leid. Bitte glauben Sie mir, Herr Huber!» Sichtlich getroffen und nachdenklich drückte die Kommissarin ihre Zigarette im runden gläsernen Aschenbecher aus, der auf einem der kleinen Tische des Waldhauses stand. Währenddessen verwunderte sie sich selbst, weshalb es hier in dieser Lokalität immer noch Aschenbecher gab und das Rauchen damit legalisiert wurde.

Hans-Peter strich mit seiner rechten Hand über seinen Bart. Für ihn jeweils ein Zeichen, dass er sich nicht wohl fühlte. «Nein, mir tut es leid, ich bin zu weit gegangen. Ich habe nicht das Recht über Sie zu urteilen. Das steht mir nicht zu, ich möchte Sie um Verzeihung bitten.»

«Schon gut, ich werde jetzt dafür sorgen, dass Sie sicher und schnell nach Hause kommen.»

«Auf Wiedersehen, Frau Neubauer. Ach, Entschuldigung, Frau Neuhaus, ich bin ganz durcheinander.»

Leise tickte die Uhr auf dem Schreibtisch von Petra Neuhaus. Knapp vor zwei Uhr nachts war es bereits, dies deuteten ihr die schwarzen Zeiger unbarmherzig an, die unaufhörlich und regelmässig ihre Arbeit taten, als würde es kein Ende geben. Während Hans-Peter längst zuhause war und zu schlafen versuchte, ging die Arbeit für die Kriminalkommissarin mit den langen brünetten Haaren erst so richtig los. Hans-Peter Huber hatte Recht, sie hatte wirklich eine starke Ähnlichkeit mit der Filmschauspielerin Christine Neubauer, dies wurde ihr schon mehrmals so gesagt. Sie musste schmunzeln, als sie daran dachte, dass Hans-Peter Huber ihr beim Abschied aus Versehen Frau Neubauer sagte. Das war ihr bislang wirklich noch nie passiert, aber sie fühlte sich darüber auch etwas geschmeichelt.

Vor ihr lagen in einem Halbkreis rund ein Dutzend Fotos von der tot aufgefundenen jungen Frau. Immer wieder nahm sie auch die Halskette der Toten in die Hand, die als Anhänger einen Schutzengel mit dem Buchstaben S zierte. Ein S, dachte sich Petra, ein S für den Vornamen, für Susanne, Svenja, Sonja, Silvia, Sabine, Sandra, Silke, Stella, Sabrina, Slavka, Sarah … Oder ein S für den Vornamen ihres Freundes, für Samuel, Silas, Sven, Sebastian, Simon, Severin, Stefan, Sean, Siegfried, Sulejman, Sigismund … Oder ganz einfach ein S für Schutzengel … Aber vielleicht hat der Buchstabe ja gar keine Bedeutung.

Nachdenklich betrachtete die Kriminalpolizistin die verschiedenen Fotos, die vor ihr lagen und nach Antworten suchten. Wer bist du, S?, fragte sich Petra innerlich aufgewühlt, als sie ein Foto in der rechten Hand hielt, die leicht ins Zittern gekommen war. Warum hat man dich umgebracht? In was für einer Scheisswelt leben wir eigentlich? Du warst doch noch so jung, du hattest dein ganzes Leben noch vor dir. Warum um alles in der Welt musstest du sterben, warum?

Das Ende des Laufstegs

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