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5 (Dienstag 23. April 2013)

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«Sachdienliche Hinweise sind an die Kantonspolizei Aargau in Aarau oder an jede andere Dienststelle zu richten.»

Jolanda Wyss stand der bare Schrecken ins Gesicht geschrieben. Das Stückchen Schokolade, das sie sich soeben gönnen wollte, blieb ihr buchstäblich im Halse stecken. Ihr Atem stockte und das Herz pochte wie verrückt unter ihrem Busen. Wie erstarrt und mit der Gesichtsfarbe eines Gespenstes blickte sie auf den Bildschirm ihres Fernsehers. «Mit einer weissen Rose auf ihrem Hinterteil aufgefunden.» So lautete die aktuelle Polizeimeldung. «Sie trug eine Halskette mit einem Schutzengel, auf dem der Buchstabe S eingraviert war.» Na also, alles klar, das ist Sabrina! Wie in Trance stellte die junge mollige Frau das Fernsehgerät ab, blieb minutenlang sitzen, bevor sie dann endlich langsam aufstehen konnte. Sie trug ein weisses T-Shirt und schwarze eng anliegende Leggings. Eine Bekleidung, die ihrer Figur so gar nicht entgegenkam, ganz im Gegenteil. Doch Schwarz und Weiss, das waren Jolandas Lieblingsfarben, auch wenn dies ganz genau genommen eigentlich gar keine Farben sind. Dies sagte zumindest Newtons physikalische Lehre, obwohl es zahlreiche kluge Menschen gab, die hier ganz anderer Meinung waren, so auch Jolanda – oder Goethe. Für sie galten schwarz und weiss genauso zu den Farben wie zum Beispiel rot, blau, gelb und grün. Jolanda trug gerne Leggings, zumindest Zuhause, auch wenn sie darin eher noch molliger aussah, als sie in Wirklichkeit war. «Zieh dich doch nicht immer so unvorteilhaft an!», sagte ihr Sabrina noch vor wenigen Wochen vorwurfsvoll und nun war sie tot, einfach tot!

Die weisse Rose. Sabrina hatte ihr von diesen weissen Rosen erzählt. Sie öffnete die Balkontüre ihrer Dreieinhalbzimmerwohnung, die sich in Holziken in einem Sechsfamilienhaus befand. Es war keine luxuriöse Wohnung, nein, das bestimmt nicht, dazu fehlte ihr auch das Geld. Nicht einmal einen Geschirrspüler gab es hier und die Waschmaschine musste sie sich mit den anderen Mietern teilen. Aber Jolanda verstand es, ihre Wohnung gemütlich und mit viel Liebe zum Detail einzurichten. Frische Luft, Jolanda brauchte jetzt frische Luft, viel frische klare Luft, unbedingt und sehr schnell.

Wie sagte Sabrina noch zu ihr im letzten Sommer am Hallwilersee? «Du wirst dich noch wundern über mich. Ich mach noch ganz grosse Schlagzeilen! Ach was, ich werde selbst zu einer Schlagzeile!» Ja, jetzt wurde Sabrina tatsächlich zu einer Schlagzeile. Scheisse, was soll ich jetzt bloss tun? Sollte sie sich bei der Polizei melden und sagen, dass sie die junge tote Frau kennt oder kannte? Aber das würden doch bestimmt bereits ihre Eltern tun. Die armen Eltern, welch grosse Hoffnungen setzten sie doch in Sabrina, und jetzt? Alles aus und vorbei. Auf immer und ewig!

Jolanda setzte sich auf den weissen Gartenstuhl, der auf ihrem kleinen, spartanisch eingerichteten Balkon stand. Ihr Blick richtete sich hinüber zum Wald, der langsam aus dem Winterschlaf erwachte. Wie versteinert blickten ihre Augen hinaus in die Welt. Ein Glas Wein, ja ein Glas Wein wäre jetzt gar nicht schlecht. Oder am besten gleich eine ganze Flasche. Aber sie musste nun einen klaren Kopf behalten. Die weissen Rosen, es gab irgendein Geheimnis, das mit diesen weissen Rosen in Verbindung stand, aber was? Was hat mir Sabrina bloss über die weissen Rosen erzählt? Wenn ich mich doch nur erinnern könnte. Wenn ich den Menschen richtig zuhören würde, so wüsste ich das jetzt noch bestimmt. «Ich habe Sabrina ja gesagt, dass dies mit der ermodcast.ch eine Scheisse ist. Ermodcast.ch, genau, das ist es.»

Jolanda schloss ihre braunen Augen. Neunzig Prozent der Menschheit besitzt ja bekanntlich braune Augen und sie hätte gerne zu den anderen zehn Prozent gehört. Braune Augen sind so normal, gewöhnlich und langweilig, so glaubte sie es zumindest. Doch spielte das denn wirklich eine Rolle? Ja es spielte eine grosse Rolle, sie wollte nicht gewöhnlich und langweilig sein. Aber in diesem Augenblick gab es für sie ganz andere wichtigere Probleme als ihre braune Augenfarbe. Wichtigeres als ihr gewöhnliches, langweiliges Dasein auf dieser Welt.

Sabrina hat mir doch mal von ihrem Boss erzählt. Wie war doch schon wieder sein Name? Irgendwas ausländisches, Pietro, Pierre? Erinnere dich Jolanda, erinnere dich, na klar, Pedro, genau. Plötzlich öffnete Jolanda ihre Augen und sprang auf. Schnell schritt sie in ihre Wohnung, die sie seit etwas mehr als einem Jahr bewohnte. Natürlich allein, welcher Mann sollte sich denn schon für so eine mollige 08/15 Frau interessieren, dachte sie sich immer wieder. Irgendwo musste sie doch die Visitenkarte haben, die ihr Sabrina vor einigen Wochen mal abgegeben hatte. «Verdammter Mist, Sabrina hat mir doch die Karte von ermodcast.ch gegeben. Wo habe ich diese blöde Karte bloss hingetan? Warum muss ich immer alles suchen? Ich bin einfach zu blöd!» Laut lamentierend schritt sie durch ihre Wohnräume und ärgerte sich dabei über sich selbst. Die Suche in ihrer Geldbörse, wie auch in ihrer Handtasche war ohne Erfolg. Auch der Blick an den Kühlschrank, der mit Postkarten, Notizzetteln, Telefonnummern, Visitenkarten, Terminerinnerungen und desgleichen tapeziert war, blieb erfolglos.

Mit schnellen Schritten und einer gesteigerten Nervosität trat sie in das Allzweckzimmer ihrer Wohnung, das ihr als Büro, Bügelraum und Abstellecke diente. «Mein Zimmer für alles», sagte sie sich immer wieder. Ihre Augen blickten auf den unordentlichen Schreibtisch. Rechnungen sollten auch wieder mal bezahlt werden, auch diverse Korrespondenz und Dokumente warteten darauf, in Schubladen, Ordnern und desgleichen abgelegt zu werden. Tja, Büroarbeit, das war eben nicht wirklich die Lieblingsbeschäftigung von Jolanda.

Das Herausziehen der ersten Schublade erbrachte kein positives Ergebnis an den Tag. Unter Briefmarken, Geburtstagskarten, Briefumschlägen und Reissnägeln fand sie die gesuchte Visitenkarte auch nicht. Beim Betrachten des Inhalts der zweiten und somit auch mittleren Schublade konnte sie nun endlich ein erfolgreiches Resultat für sich verbuchen. Denn hier fand sie tatsächlich die Visitenkarte von Sabrinas Boss.

«ermodcast.ch – Pedro Alvare – Inhaber und CEO». Mit der Visitenkarte in der rechten Hand eilte sie ins Wohnzimmer, wo sie ihr Mobiltelefon abgelegt hatte. «Und jetzt? Was mache ich denn nun?» Mit der Visitenkarte in der einen und dem Telefon in der anderen Hand setzte sie sich auf das kleine Stoffsofa. Sollte sie Pedro Alvare wirklich anrufen? Was sollte sie ihm denn sagen? Sie konnte ja nicht einfach seine Nummer wählen und dann zu ihm sagen: «Hallo hier ist Jolanda, darf ich Sie etwas fragen? Haben Sie meine Freundin Sabrina umgebracht?»

Nein, das ging selbstverständlich nicht, das Vorgehen musste genau überlegt sein. Sie konnte natürlich mit der Visitenkarte zur Polizei gehen und den Beamten alles erzählen was sie über ermodcast.ch, Pedro Alvare und Sabrinas Tätigkeit bei dieser Agentur wusste. Das wäre im Moment die einfachste und vernünftigste Lösung gewesen. Doch würden es die Polizeibeamten dann auch wirklich schaffen, Pedro Alvare den Mord zu beweisen? Und eigentlich wusste sie ja gar nicht so viel, das sie den Beamten hätte erzählen können. Ihre braunen, etwas zu gross geratenen Augen, schauten zum Bücherregal, auf dem ein Foto von Sabrina und ihr stand, das vor etwa zwei Jahren aufgenommen wurde. Das war doch auf der Seebodenalp unterhalb der Rigi. Wieso waren wir denn eigentlich dort? Ach ja, Sabrina wollte sich unbedingt die Kapelle anschauen. Sie hatte doch tatsächlich die Absicht dort zu heiraten, ach, sie war manchmal so hoffnungslos romantisch. Plötzlich begann sie zu schluchzen, warum musste Sabrina denn sterben? Was haben sie mit ihr gemacht?

«Jetzt stell dich doch nicht so an wie ein Mauerblümchen. Das ist ja zum wahnsinnig werden mit dir.» Pedro Alvare war wütend, wieder einmal. Wehe, wenn sein südamerikanisches Temperament mit ihm durchging und sein Blut förmlich zum Kochen brachte, da konnte alles passieren. «Glaubst du denn, dies hier ist nur Spass? Wenn du erfolgreich werden willst, so musst du auch mal über deinen eigenen Schatten springen. Du bist hier nicht in einer Wohlfühloase, kapier das endlich!»

Sabrina Eckert warf ihren Kopf empor, ihre Augen funkelten wie eine glühende Zündschnur. Es war bereits das dritte Mal, dass Pedro von ihr verlangte, in einem Pornostreifen mitzuwirken. «Verpiss dich Pedro, ich habe dir schon hundertmal gesagt, dass ich das nicht mache, niemals. Das ist für mich ein NO GO! Ich bin hier als Fotomodell angestellt, ich will auf dem Laufsteg Karriere machen. In unserem Vertrag steht nichts von Sexfilmen.»

«Aber es steht darin, dass der Arbeitgeber, also ich, vom Arbeitnehmer, also von dir, Leistungen verlangen kann, die nicht ausdrücklich im Vertrag erwähnt wurden, sofern es dem Wohle der Firma dient. Es würde dem Wohl der Firma sehr dienlich sein, dich als schwanzlutschendes und spermaschluckendes Luder in einem Porno zu sehen. Kapierst du das, geht dies in dein verdammtes Spatzenhirn? Oder soll ich es dir vielleicht mit meinen eisernen Fäusten hineinprügeln?» Pedro nahm sein Glas Whisky und trank es in einem Zug leer um es gleich wieder aufzufüllen. Er drehte sich auf dem Barhocker mit dem Rücken zu Sabrina. Seine rechte Hand umklammerte das Whiskyglas mit einer immensen Kraft, so als würde das Glas demnächst unter dem Druck zerbersten. Sein Atem ging schwer, beinahe wie bei einem schnaubenden Pferd nach einem langen Ritt im Galopp.

Sabrina sass an einem kleinen Tisch in der Privatbar von Pedro. Die Bar befand sich in Pedros Villa am Zürichsee. Bei Partys fanden hier rund fünfzig Personen Einlass, aber natürlich nur erlesene Gäste, denn Pedro wusste genau welche Menschen für ihn nützlich waren. Die Partys bei Pedro waren allseits beliebt und manch ein Politiker oder Geschäftsmann war um jede Einladung in diese Privatbar froh und dankbar. Hier wurden schon Geschäfte in Millionenhöhe abgewickelt. Jetzt war Sabrina jedoch schon seit einer halben Stunde alleine hier mit Pedro. Das machte ihr Angst, sie fühlte sich mehr als nur unwohl, denn ihr Chef Pedro Alvare galt als unberechenbar. Ihre Arbeitskollegin Cécile Kleiner sagte vor ein paar Tagen unter vorgehaltener Hand zu ihr: «Pedro ist ein Teufel in Menschengestalt. Pass auf, er hat es auf dich abgesehen. Und dies schon seit er dich das erste Mal gesehen hat. Er will mit dir Geld, richtig viel Geld verdienen und dazu ist ihm jedes Mittel Recht.»

«Okay Baby», Pedros Stimme klang hart und eiskalt «du kannst gehen, dann muss halt eine deiner Kolleginnen dran glauben.»

«Aber …»

«Nichts aber, mach dass du verschwindest, bevor ich es mir noch anders überlege. Oder willst du, dass ich dich auf den Tisch lege, so frei nach dem Motto: Ein Quickie in Ehren kann niemand verwehren?»

Schnell ergriff Sabrina ihre Handtasche und schritt ohne Pedro noch eines Blickes zu würdigen zur Ausgangstüre. Bereits hatte sie die Türfalle in ihrer rechten Hand.

«Sabrina!»

«Ja?», ohne sich umzudrehen verharrte die flüchtende Sabrina. Ihr Atem glich dem eines fliehenden Rehs, das sich vor dem Jäger zu verstecken sucht. Was denn noch? Wird er mich doch nicht gehen lassen? Fällt er über mich her? Oh Gott, bitte hilf mir, bitte! «Du wirst es bereuen! Eines Tages wirst du es bereuen! Und wenn es das Letzte ist, was du machst.» Pedros höllisches Lachen begleitete Sabrina auf dem Weg hinaus an die Luft.

Mit einem Papiertaschentuch wischte sich Jolanda die fliessenden Tränen ab. Sie musste jetzt stark sein, stark für Sabrina, auch wenn ihr das nichts mehr nützen würde. Langsam nahm sie ihr Mobiltelefon in die Hand. Ihre Augen starrten unentschlossen auf die Visitenkarte. Sollte sie bei ermodcast.ch anrufen? Sollte sie sich bei der Polizei melden? Langsam wählte sie die Telefonnummer, die sich auf der Visitenkarte befand. Ihr Atem ging rasend schnell, es klingelte, einmal, zweimal, dreimal, und dann …

«ermodcast.ch, Nicole Schmidlin, guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?»

Jolanda blieben die Worte wie ein schwerer Stein im Halse stecken, sie konnte nicht antworten.

«Hallo, ist da jemand?», tönte es schrill am Telefon. «Melden Sie sich doch.» Bereits wollte Nicole Schmidlin das Telefon wieder weglegen, doch da war doch noch eine Antwort zu vernehmen.

«Ja, äh … Ich … Also, ist Pedro Alvare zu sprechen?»

«Nur einen Augenblick, wen darf ich anmelden?»

«Fischli ist mein Name, Franziska Fischli von der Modezeitschrift Anatevka». Jolanda war selbst über ihren Blitzentscheid überrascht. Scheisse, was sag ich denn da?

Das Ende des Laufstegs

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