Читать книгу Das Ende des Laufstegs - Martin Willi - Страница 9

3 (16. August 2012)

Оглавление

«Stampflistrasse 41, ja, hier bin ich richtig.» Sabrina stand vor dem fünfstöckigen, bereits etwas älteren Geschäftshaus inmitten der Altstadt von Zug. Offensichtlich hatte das Haus auch schon bessere Zeiten gesehen. Die Fassade hätte jedenfalls dringend einen neuen Anstrich nötig gehabt, und dies nicht erst seit gestern. Ach, egal, dachte sich Sabrina, als sie an dem Haus emporblickte, die Fassade ist nicht so wichtig, wichtig ist der Inhalt. Bei Männern ist das doch auch so, das Aussehen ist nicht so wichtig, sondern das, was sich darunter verbirgt. Frohen Mutes schritt die junge Frau selbstbewusst zur gläsernen Eingangstüre. Dabei schaute sie noch kurz kontrollierend auf ihre Armbanduhr. Das heisst, eigentlich war es ja nicht ihre Uhr, die sie heute an ihrem linken Arm trug, sondern diejenige ihrer Cousine Tatjana Buchser. Diese sah etwas wertvoller aus als ihre eigene billige Uhr, die sie voriges Jahr für 9 Franken 50 auf dem Fricker Fasnachtsmarkt erworben hatte. Schliesslich wollte sie heute ja einen guten positiven Eindruck hinterlassen, deshalb fragte sie Tatjana, ob sie deren Armbanduhr ausleihen dürfe. Natürlich zeigte sich ihre Cousine dazu sehr gerne bereit. «Wozu sind denn Freunde da?», meinte Tatjana und wünschte ihr alles Glück der Welt für ihr allererstes Casting in ihrem Leben.

Tatjana war die Tochter von Sabrinas Tante Christine, der um drei Jahre älteren Schwester ihrer Mutter. Tatjana lebte noch bei ihren Eltern in Laufenburg, dies obwohl sie doch schon 23 Jahre alt war. Eigentlich wäre Tatjana ja schon lange gerne ausgezogen, aber da sie sich noch immer im Studium in Basel befand, war dies aus finanziellen Gründen derzeit nicht möglich. Sabrina und Tatjana verband seit ihrer Kindheit eine enge Beziehung, deshalb verbrachten sie auch immer viel Zeit zusammen. Wenngleich dies oftmals nicht ganz einfach war, da Sabrina am Hallwilersee wohnte und Tatjana in Laufenburg.

15.50 Uhr – in zehn Minuten hatte sie ihren Termin. 15 Namensschilder mit Türklingeln zählte sie, drei Reihen mit jeweils fünf Schildern. In der dritten Reihe zuunterst stand «ermodcast.ch – dritter Stock – klingeln und eintreten». Sabrinas Herz begann innert Sekundenbruchteilen schneller zu schlagen, ihr Puls fing förmlich an zu rasen. Auf dem Weg von ihrem Zuhause bis hierhin war sie noch ziemlich ruhig, doch jetzt machten sich ihre Nerven doch noch bemerkbar, dies ganz ohne Voranmeldung. «Ruhig, verdammt Sabrina, bleib jetzt bloss ruhig, sonst vermasselst du noch alles mit deiner blödsinnigen Nervosität», ärgerte sie sich selbst. In diesen Sekunden und Minuten bereute sie es, das Angebot ihrer Freundin Jolanda nicht angenommen zu haben, die sie gerne an das Casting begleitet hätte. Mit der rechten Hand kramte sie in ihrer knallroten Handtasche um ihren Taschenspiegel zu suchen. Wo ist denn dieses verdammte Mistding schon wieder? Warum finde ich in meiner Handtasche nie das was ich suche? Endlich fand sie den gesuchten Gegenstand und so konnte sie noch den unabdingbaren letzten Kontrollblick in den kleinen Spiegel werfen. Ihr langes rotes Haar fiel wallend auf ihre Schultern. Schnell zog sie noch die Lippen mit ihrem Lippenstift nach, besprühte sich mit dem Parfüm Marke «Bulgari Omnia Green Jade». Vor kurzem las Sabrina in einer deutschen Illustrierten, als sie beim Zahnarzt im Wartezimmer sass, dass dieser Duft sehr verführerisch sei. Das wollen wir doch jetzt mal ausprobieren, dachte sie sich und drückte mutig auf den Klingelknopf. Nur wenige Sekunden später vernahm sie einen Summton und sie konnte die Eingangstüre aufstossen und mit dem Lift in den dritten Stock hinauffahren.

Der Lift machte auf das angehende Modell einen mehr als verlotterten Eindruck. Oh Gott, lass mich bloss nicht steckenbleiben mit diesem alten Mistding. Doch die Ängste waren unnötig, die Lifttüre öffnete sich mit einem leisen summenden Ton und Sabrina Eckert trat schnell in den Flur hinaus, in dem nur ein gedämpftes Licht brannte. Neugierig und wachsam spähte sie die nicht sehr einladende Diele entlang. Wo bin ich denn hier bloss hingeraten? Zuvorderst brannte neben der Türe ein hellblaues Neonlicht. Wie magisch davon angezogen schritt sie diesem Licht entgegen und wirklich, ihr Spürsinn liess sie nicht im Stich. Als sie bei der Türe angelangt war, las sie darauf «ermodcast.ch – tritt ein und mach dein Glück». Noch einmal griff sie nach ihrem Taschenspiegel in ihrer Handtasche, in der sich unter anderem auch ein Taschenmesser und ein Pfefferspray befanden. «Man kann ja schliesslich nie wissen», sagte sie sich immer wieder, «es gibt so viel Schlechtigkeit auf der Welt, da will ich gewappnet sein.» Ein allerletzter Blick in ihren Spiegel ermunterte sie und so trat sie mit grossen Erwartungen am Donnerstag, den 16. August 2012 um 15.56 Uhr in die, wie man so treffend sagt, heiligen Geschäftsräume von «ermodcast.ch» ein.

Einen Empfang oder ein Sekretariat gab es hier ganz offenbar nicht, was Sabrina doch mit einiger Verwunderung feststellen musste. Als erstes konnte sie einen Vorraum mit Türen zu vier, nein zu fünf Räumen erkennen. Und was nun, was soll ich tun? Doch länger konnte sich die etwas angespannte Sabrina keine Gedanken über ihre Situation machen. Mit einem breiten, aufgesetzten, nicht ganz echt wirkenden Lächeln trat eine junge Frau, wohl etwas älter als Sabrina, aus der zweiten Türe rechts und eilte Sabrina wild gestikulierend entgegen.

«Hallo, du musst die Sabrina sein, ich bin die Nicole», sagte sie und während sie sprach, war ein kleines glitzerndes Piercing auf einem Zahn des Oberkiefers sichtbar. Nicole hatte schulterlange blonde Haare, sie trug ein knappes Rosa-T-Shirt mit dem Aufdruck «Sorry Leute, aber ich bin so geil». Die Jeans, die sie trug waren dermassen eng geschnitten, dass sich Sabrina fragte, ob Nicole sich nicht bei jedem Schritt wehtun würde. High Heels mit Absätzen von schätzungsweise zwölf bis vierzehn Zentimetern rundeten das durchaus ansehnliche Outfit von Nicole Schmidlin ab. «Schön, dass du hier bist, möchtest du einen Kaffee, ein Glas Wasser oder sonst irgendeine Erfrischung?»

«Nein, danke.» Bloss nichts trinken, dachte sich Sabrina, sonst muss ich während des Castings noch aufs Klo. Das wäre bestimmt ziemlich peinlich. Das darf mir nun echt nicht passieren. Ich habe ja eh eine schwache Blase, da darf ich kein Risiko eingehen. «Okay Mädchen, dann komm doch mal mit.» Sabrina folgte Nicole in den Raum, aus dem die blonde junge Frau ihr eben erst entgegentrat. Der Raum war etwa vier auf vier Meter gross. Auf der gegenüberliegenden Seite der Eingangstüre befand sich ein Fenster, das jedoch mit einem dicken grünen Vorhang abgedeckt war, der praktisch null Prozent Helligkeit in den Raum liess. An der gleichen Wand waren Fotos und Poster in allen Grössen zu sehen, auf denen junge, meist leicht bekleidete Frauen zu betrachten waren.

«Haben Sie in Ihrer Agentur denn gar keine männlichen Models unter Vertrag?» Sabrinas Frage an Nicole blieb unbeantwortet, stattdessen sagte sie nur lächelnd: «Setz dich bitte», und zeigte auf ein kleines graues Sofa aus Leder.

«Danke.» Sabrina setzte sich und musterte den Salontisch, der vor dem Sofa stand. Darauf befanden sich Zeitschriften, Zeitungen, Schreibwaren und eine Dose mit Pralinen. Die neugierigen Augen Sabrinas wanderten weiter durch den ihr neuen, bisher unbekannten, Raum. Den Raum aufnehmen, wahrnehmen und sich mit ihm vertraut machen. Das hat doch die Theaterpädagogin immer wieder gesagt, die an unserer Schule das Freifach Theater geleitet hat. Genau das mache ich jetzt, ich muss mich hier wohlfühlen, bevor das Casting beginnt. An den beiden Wänden links und rechts standen Regale, auf denen sich Videos, Bücher, Ordner und desgleichen aneinanderreihten. Ihr Blick ruhte nun auf dem Schreibtisch, der in ihren Augen ein furchtbares Chaos offenbarte. Verwundert zeigte sie sich jedoch vor allem an einem Strauss weisser Rosen, die sich in einer schwarzen Vase auf dem Schreibtisch befanden. Irgendwie schien es ihr, als ob gerade der Blumenstrauss so gar nicht in diesen Raum hineinpassen würde.

«So, Sabrina Darling, unser Fotograf kommt in einigen Minuten, um die Fotos zu schiessen. Inzwischen kannst du schon mal dieses Personaldatenblatt hier ausfüllen.» Nicole reichte Sabrina ein A4-Blatt. «Bitte die Rückseite nicht vergessen, ja? Das kommt immer wieder mal vor. Ich komme gleich wieder. Und iss doch ein paar Pralinen, Schokolade beruhigt die Nerven, Schätzchen.»

«Ich bin doch gar nicht nervös.»

«Das sagen sie alle.» Mit diesen Worten eilte Nicole auch schon auf ihren High Heels arschwippend durch die Türe aus dem Raum hinaus.

Die hat ja nen richtigen Knackarsch, dachte sich Sabrina. Mit diesem Gedanken stand sie auf und strich mit ihren Händen über ihren eigenen Po, um ihn zu betasten und zu begutachten, ob er denn auch so knackig wie derjenige von Nicole sei. «Ein Arsch wie ein Lebkuchenherz, so richtig zum reinbeissen», sagte mal ein Jugendfreund von ihr. Ich finde, das ist immer noch so – ganz ohne Zweifel. Zufrieden mit ihrem Hinterteil setzte sie sich wieder auf das Ledersofa, das wohl auch nicht mehr das Neueste war. Mit einem schwarzen Kugelschreiber, den sie nach einigem Suchen auf dem Tisch unter all den Zeitschriften fand, begann sie das Formular auszufüllen. Das heisst, zunächst ass sie wirklich eine Praline, eine mit Marzipan. Schokolade mit Marzipan, da konnte sie ganz einfach nicht widerstehen. Genüsslich liess sie die Praline in ihrem Mund zergehen. Die meisten der Fragen waren so ziemlich banal oder belanglos, weshalb sie auch schneller vorankam, als sie zunächst angenommen hatte. Was die alles von mir wissen wollen, das gibt’s doch nicht, das ist doch alles völlig idiotisches Zeug. Gerade als Sabrina bei der letzten Frage angelangt war, öffnete sich die Türe und Nicole kam mit einem Mann herein, der Sabrina auf Anhieb unsympathisch war. Kudi Roggenmoser war etwa 50 Jahre alt, hatte lange lockige Haare, die ihm bis über die Schultern reichten und Sabrina ziemlich fettig erschienen. Sein knochig markantes Gesicht mit grauen Augen war mit einem etwa Zehntagebart bedeckt. Was Sabrina jedoch ganz besonders störte, war der unangenehme Geruch, der von diesem Kudi ausging. Ein Duft von stinkigem Schweiss, den der Fotograf offensichtlich versuchte, mit einem süsslichen Parfüm zu überdecken. Sabrina atmete tief durch, schluckte zweimal leer. Nicole jedoch lächelte ihr wohl süssestes und herzlichstes Lächeln: «Darf ich dir unseren Fotografen, Kudi Roggenmoser, vorstellen? Er ist ein wahrer Meister seines Faches, wie du schon bald selbst feststellen wirst.»

«Freut mich», mehr vermochte Sabrina wirklich nicht auf Nicoles Worte zu antworten. Sie musste aufpassen, dass ihr beim Anblick von Kudi nicht übel wurde, dermassen abstossend wirkte er auf sie.

«Hey du», sagte Kudi bloss und stellte sich kurz ans Fenster. Er zog den Vorhang beiseite und spähte hinaus. Wenige Sekunden schaute er aus dem Fenster, dabei rülpste er dreimal laut auf und zog dann den grünen dunklen Vorhang wieder zu. Dann drehte er sich mit einer schnellen Drehung um und ging zielstrebig auf Sabrina zu. Mit Adlerblicken schaute er sie an. Wie zwei scharfe Dolche bohrten sich seine Augen in den Körper von Sabrina. Keinen Zentimeter schien er bei seiner Begutachtung auszulassen. Sabrina fühlte sich so, als würde eine schmierige Hand ihrem Körper entlanggleiten, besonders lange hielt sich die Hand an ihren Brüsten und zwischen ihren Beinen auf. «Zuerst etwas Vitamine», meinte der Fotograf nun und griff in seine rechte Hosentasche. Von dort holte er ein Pillenröhrchen hervor und griff darauf in seine linke Westentasche. Daraus nahm er einen Flachmann und schnell schluckte er etwa fünf Tabletten, so meinte es Sabrina zumindest gesehen zu haben. «Willst du auch? Das macht dich so richtig schön locker und frei.» Kudi streckte Sabrina schelmisch lächelnd das Pillenröhrchen entgegen.

«Nein, danke.»

«Ach, sei doch nicht so zurückhaltend, nur ein paar. Es wird dir schon nicht schaden.»

«Nein, wirklich nicht.», sagte sie mit Bestimmtheit.

«Wie du willst. Also komm schon Baby, zeig mir was du draufhast.» Kudi ergriff seinen Fotoapparat und begann wie in Ekstase zu knipsen, während Nicole dem angehenden Fotomodell Anweisungen gab, wie sie sich zu verhalten hatte. Sabrina stellte sich zunächst etwas unbeholfen, beinahe schon hölzern an, doch Nicole sagte dann: «Sei einfach du selbst. Stell dir vor, du bist so richtig megascharf auf Kudi und du willst ihn ficken. Mach ihn an! Heiss soll es ihm in seiner Hose werden! Sein Ding soll anschwellen zu einem Giganten!»

Bei dem Gedanken mit Kudi intim zu werden, hätte sich Sabrina am liebsten erbrochen, doch sie versuchte sich einfach einen anderen Mann vorzustellen. Und siehe da, je länger das Fotoshooting dauerte, umso selbstbewusster präsentierte sie sich dem Fotografen.

Im Nebenraum sass Pedro Alvare vor einem Bildschirm und schaute sich die Szene mit wachsendem Interesse an. Alvare war ein gebürtiger Uruguayer, doch er lebte nun schon seit rund fünfundzwanzig Jahren in der Schweiz. Seine Arme und sein nackter Oberkörper offenbarten viele Tätowierungen und seine langen Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ohja, dachte er sich, das ist eine scharfe Braut, und seine Hände glitten langsam zwischen die eigenen Beine. Langsam knöpfte er sich den Knopf seiner Jeans auf und zog den Reissverschluss hinunter. Er spreizte die Beine und seine Hände spielten mit seiner vor Geilheit strotzenden Mannespracht.

«Okay Baby, das wird schon was», sagte Kudi Roggenmoser. «Fahr mit deinen Händen durchs Haar, so ist es gut, ja … Knöpf deine Bluse auf, ja das ist toll … Dreh dich um, zeig mir deinen geilen Arsch … Törn mich an du kleines Luder … Und jetzt zieh den BH aus und zeig mir deine scharfen Titten.»

Von Minute zu Minute wurde Sabrina hemmungsloser, beinahe schon in Ekstase folgte sie den Worten des Fotografen, die wie von weit her zu ihr ins Ohr schwebten wie eine sanfte, wogende, immer wieder kommende Welle des Ozeans.

Aus dem Nebenraum war derweil ein leises wohliges stöhnen von Pedro Alvare zu hören. Es war das stöhnen eines Mannes, der sich mit Wollust seinem sexuellen Höhepunkt näherte. Das stöhnen wurde immer lauter, bis sich Pedro schliesslich entladen konnte.

Das Ende des Laufstegs

Подняться наверх