Читать книгу Verkörperter Wandel - Martin Witthöft - Страница 8
Prolog
ОглавлениеIch erinnere mich noch sehr genau an diesen Moment. Ein Jahr zuvor hatte ich meine Ausbildung zum Yogalehrer absolviert und eine weitere Ausbildung in tiefenpsychologisch orientierter Körperpsychotherapie abgeschlossen.
Unsere Tochter war gerade drei Jahre alt. Wir saßen auf dem Balkon und genossen den weiten Blick über das Tal. Die Sonne schien heiß. Ich schnitt auf einem Teller Gemüse für das Mittagessen, während sie am Tisch eines dieser wunderbaren Bilder malte.
Nach ihrer Geburt waren meine Frau und ich aufs Land gezogen, etwas abseits des Dorfes, in die Nähe eines Bauernhofs, von Wiesen und Wäldern umgeben. Jetzt im Juli war das dominante Gelb der Löwenzahnblüte schon den feinen Farben der Wiesenkräuter gewichen. Die Kühe standen auf ihrer täglichen Wanderung nah am Haus, und wir hörten ihr Schmatzen und Reißen am Gras.
Als meine Tochter von ihrem Stuhl aus über den Balkonrand zu den Kühen schaute, bat ich sie, sich nicht weiter über das Geländer zu beugen. Das sei gefährlich, sagte ich. Meist antwortete sie dann: »Ja, ja.« Ein Ja zu viel, wie ich als Vater finde. Doch dieses Mal schaute sie mich nur an und erklärte: »Du musst keine Angst haben! Jeder Mensch hat Schutzengel, die ihn bewachen.« Ich war überrascht, legte das Gemüse auf den Teller ab und fragte: »Jeder Mensch?« »Ja!«, antwortete sie, als wäre es selbstverständlich. »Jeder Mensch hat drei Schutzengel. Einen blauen, einen grünen und einen roten!« »Woher weißt du das«, fragte ich, »habe ich auch drei Schutzengel?« »Natürlich! Der blaue und der rote sitzen auf deiner Schulter.« Sie zeigte rechts neben meinen Kopf: »Und der grüne ist auf der anderen Seite.«
Damals lebte ich beruflich wie privat in einer herausfordernden Zeit. Der dauernde Wechsel zwischen meiner Rolle als Vater, meiner inneren Arbeit und der gerade beginnenden Tätigkeit mit Klient*innen machte mir zu schaffen. Ich erlebte die Übergänge oft als mühsam und empfand sie als Bruch. Gab es nicht ein gemeinsames inneres Zentrum dieser Lebensfelder, eine beständige Essenz, auf die ich mich ausrichten könnte? So würden alle Wechsel und ihre entsprechenden Rollen rein äußerlich bleiben. Die Suche nach einer in sich ruhenden und zugleich mit dem Leben verbundenen Nabe beschäftigte mich sehr.
Zurück in der Küche, noch berührt vom schönen Engelbild meiner Tochter, setzten sich etwas später – fast plötzlich – Vatersein, Meditation und Psychologie wie Puzzleteile in mir zusammen. Ich erkannte, dass ich lernen musste, mich dem Leben selbst anzuvertrauen, um die in mir empfundenen Brüche zu überwinden. »Du brauchst keine Angst zu haben …«, hatte sie so unbeirrt gesagt. »Wir alle werden beschützt. Du auch!«
Aber was bedeutet es, mich dem Leben anzuvertrauen? Wer oder wo ist das Leben? Sofort schoss mir die die Antwort ins Bewusstsein: Das Leben ist hier, in mir, unmittelbar. Dem Leben vertrauen bedeutet, meinem Körper, meinen Gefühlen und meinem Geist zu vertrauen. Jede dieser drei Ebenen hat einen vollkommen reinen und makellosen Anteil, gleich den drei Wesen, von denen meine Tochter so selbstverständlich sprach. Das konnte ich spüren.
Dem Bild folgend, steht der rote Engel für das beständige und ausgleichende Pulsieren meines Körpers, für die Essenz jeder lebendigen Körperlichkeit. Alles was lebt, pulsiert. Denn das Leben ist kein Zustand, sondern drückt sich in einer fortdauernden, rhythmischen Bewegung aus.
Der grüne Engel steht für den Urgrund meiner emotionalen Ebene: das Mitgefühl. Voraussetzung für wahrhaftige Begegnung, Ausgangspunkt jeder Beziehung und Quelle der Liebe.
Zuletzt repräsentiert der blaue Engel die Essenz meines geistigen Feldes: die Achtsamkeit. Tor meines Bewusstseins in die Welt, stiller Beobachter und anhaftungslose Quelle des Seins. Was für eine Freude!
Pulsation, Mitgefühl und Achtsamkeit bilden als Kernqualitäten die Verbindung zwischen dem Absoluten und dem Konkreten. In ihrer gemeinsamen Mitte befindet sich die eigenschaftslose Quelle des Seins. Alle drei fühlen sich wie der intimste Teil von mir an, sind zugleich aber das, was mich liebevoll und beständig über meine Persönlichkeit hinausführt.
Ich verstand, dass im Spektrum meiner verschiedenen Tätigkeiten Mitgefühl, Achtsamkeit und Pulsation der heilsamste Ausdruck meines Selbst waren. Dieser Einsicht bin ich seither beständig gefolgt. Mit den Jahren ist sie zur Grundlage eines einheitlichen und zugleich vielseitigen Modells geworden, in dem sich das Wissen der traditionellen Spiritualität und einer modernen transpersonalen Psychologie miteinander verbinden.
Ein wesentlicher Punkt besteht dabei in der Beobachtung, dass tiefgreifende Veränderungen immer dann – und oft wie von »selbst« – geschehen, wenn wir das werden, was wir sind. Mitfühlend und achtsam betrachtet, ist jeder Ausdruck unserer Seele, mag er zunächst auch noch so niedrig oder egoistisch erscheinen, immer auch ein notwendiger Teil unserer spirituellen Entwicklung. Wenn ich lernen will, mich dem Leben hinzugeben, werde ich Fehler machen. Aber, wie Miles Davis so treffend sagte: »When you hit a wrong note, it’s the next note that makes it good or bad.«
Das Leben ist nun mal nicht perfekt. Perfektion ist ein Konzept, ein Hindernis, eine Idee des Egos. Wenn wir lernen, die nächste Note aus dem Zentrum von Mitgefühl und Achtsamkeit zu spielen, können wir uns dem pulsierenden Leben vollständig anvertrauen. Dann stehen wir weniger zwischen dem Absoluten und dem Konkreten, sondern erscheinen als die Verkörperung des einen im anderen.
Staunend und dankbar betrachtete ich meine Tochter beim Essen. Fühlen, Denken und Handeln kamen bei ihr aus einer Quelle und widmeten sich in diesem Augenblick leidenschaftlich den Kartoffeln. Die Kühe waren ein Stück weitergezogen und suchten die Kühle im Schatten eines Baumes. Am Horizont tauchten Wolken auf, und die Luft roch bereits nach der erdigen Feuchte des Regens.