Читать книгу Der Zarewitsch - Martin Woletz - Страница 10
Acht
ОглавлениеAls ich an diesem Abend meine Wohnung betrat, begann ich diese sehr genau aufzuräumen. Das geschah nicht, weil ich einen Reinlichkeitswahn hatte, sondern weil ich so am leichtesten feststellen konnte, ob ich während meiner Abwesenheit ungebetenen Besuch bekommen hatte oder nicht. Diese Vorgehensweise hatte mir schon ein paar Mal das Leben gerettet. Ich platzierte an gewissen Stellen in der Wohnung unauffällig einzelne Haare oder Staub. An diesen Merkmalen konnte ich später sofort erkennen, ob jemand eine Tür geöffnet, Möbel verschoben oder sich hinter einem Schrank versteckt hatte. Leider konnte diese Taktik auch nach hinten losgehen. Meine letzte Freundin wollte mich einmal überraschen und hatte sich unauffällig meinen Zweitschlüssel besorgt. Sie hatte fast unbekleidet in meinem Bett in der völlig dunklen Wohnung gewartet. Ich war gerade mit einem gefährlichen Fall beschäftigt und als ich nach Hause kam, schrillten meine Alarmglocken, da gleich bei der Eingangstür der angebrachte Hinweis fehlte. Mit der Waffe im Anschlag schlich ich durch die Wohnung. Als ich aus dem Schlafzimmer Geräusche hörte, krachte ich hinein und stand mit der Waffe im Anschlag vor einer fast nackten aber umso willigeren 25-jährigen Brünetten. Aus dem netten Abend zu zweit wurde eine trostlose Nacht alleine. Am nächsten Tag hatte sie mich dann endgültig zum Wahnsinnigen erklärt und in die Wüste geschickt.
Auf dem Heimweg war ich an einem Elektrogeschäft vorbei gegangen und hatte einen Blick auf den großen Bildschirm in der Auslage geworfen. Ich blieb stehen. In den Kurznachrichten brachten sie gerade einen Bericht über die Mafia in Russland. Zurzeit schien es vor allem in Moskau fast täglich zu Zwischenfällen zu kommen. Die Miliz war in Alarmbereitschaft und konnte sich nur durch eine Sondergesetzgebung einen gewissen Spielraum gegenüber den Verbrechern schaffen. Mir war zu diesem Zeitpunkt nicht klar, dass diese Vorkommnisse eng mit meinem Fall zu tun haben sollten.
Nachdem ich heute Morgen aus dem Russen nichts von Bedeutung herausgebracht hatte, musste ich mir meine Informationen anderen Orts beschaffen. Vor allem ging mir der eine Satz von Dmitri nicht mehr aus dem Kopf: „Korelev, Sie und Ihre Bullenkollegen sind schon so gut wie tot.“
Natürlich hatte ich schon viele Drohungen erhalten, aber dass mich ein mir völlig Unbekannter so vertraut beim Namen nannte, war neu. Ich musste meine Informanten abklappern, in die einschlägigen Lokale gehen und meine Unbeliebtheit in diesen Kreisen in die Waagschale werfen. Zur Not hatte ich ja noch meinen Ausweis und meine Waffe mit. Ich verließ meine präparierte Wohnung und ging ein paar Minuten die Hauptstraße entlang. Dann bog ich in eine schmale Seitengasse und betrat das nächstgelegene Lokal. Das Licht in der Bar war gedämpft, fast schon nicht mehr wahrnehmbar. Nur die Bar selbst war hell erleuchtet. An ihr saßen - wie Schaufensterpuppen aneinander gereiht - einige Damen in verschiedensten spärlichen Outfits. Der Laden hatte immer schon die Ehre die Nummer Eins meiner Tour zu sein. Hier erfuhr ich zwar selten etwas wirklich Wichtiges, aber die Atmosphäre half mir dabei, in die richtige Stimmung zu kommen. Ich wusste, dass hier alle logen ohne dass sie etwas gegen mich gehabt hätten. Die Angestellten waren harmlos, aber einem Polizisten gegenüber konnten sie einfach nicht die Wahrheit sagen. Wenn ich nach bestimmten Namen fragte, kannten sie niemanden und hatten diese Personen mit Sicherheit auch nie in ihrem Leben gesehen. Wenn ich Bilder herumzeigte, waren die Fotos scheinbar so schlecht, dass niemand erkennbar war. Wenn ich nach dem Wetter fragte, regnete es selbst wenn die Sonne schien. Wenn ich ein Bier bestellte, bekam ich Kaffee. Ich blickte in die Gesichter der adretten Damen, die frisch herausgeputzt auf ihren Hockern saßen, und des Barkeepers und sah ihnen beim Lügen zu.
„Welche Ehre, dass Sie uns besuchen, Herr Inspektor!“, verkündete der Barkeeper deutlich zu laut, als ich den schweren roten Samtvorhang hinter der Eingangstür zur Seite schob. Die Schaufensterpuppen blickten zu mir herüber, griffen zu einem Glas Sekt oder pafften an ihrer Zigarette. In den dunklen, kaum beleuchteten Sitzecken stoppten die Unterhaltungen und es wurde unnatürlich ruhig im Lokal.
„Vielen Dank für die Begrüßung“, antwortete ich und schob mich zwischen die Damen.
„Was darf’s sein?“ fragte der Barkeeper.
„ Mineralwasser bitte!“
Kurz darauf stand ein doppelter Cognac vor mir. Ich hasste Cognac. Ich musterte ein Mädchen nach dem anderen und wandte mich dann an eine blonde, schon etwas reifere Dame.
„Na, gar keine neuen Mädchen dabei? Alte Ware ist schlecht fürs Geschäft oder täusche ich mich da?“ Erbost verließen zwei Nutten die Theke und verschwanden im Hinterzimmer.
„Charmant wie eh und je, der Herr Inspektor. Sie wissen doch, wir haben fast nur Stammpublikum und brauchen kaum neues Personal. Unsere Gesellschafterinnen sind gebildet und einfühlsam. Das wollen unsere Gäste.“
„Na da bin ich dann wohl der mit der frohen Botschaft“, warf ich einen Köder aus, „denn gerade heute Morgen hatte ich ein sehr informatives Gespräch mit einem - sagen wir mal - Reisebegleiter, der mir versichert hat, dass viel Frischfleisch im Anrollen ist. Da wird dann auch sicher die eine oder andere Schlampe für Sie dabei sein, Goldlöckchen!“
Der kaum bedeckte Busen der Chefin begann zu beben und ihre kunstvoll geschminkten Augen wurden schmal.
„Du warst bisher immer gerne gesehen bei mir, Korelev, aber wenn Du geschmacklos wirst, dann wird es Zeit für Dich zu gehen.“
„Hab ich da einen wunden Punkt getroffen, Süße? Das tut mir leid. Ich wollte doch nur wissen, wann es sich lohnt wieder vorbei zu kommen um mal neue Gesichter bei Ihnen zu sehen. Aber wenn das so ist, dann komme ich eben jeden Abend vorbei, bis ich die neuen Gesichter sehe. Ob das Ihren anderen Gästen so gut gefällt, weiß ich allerdings nicht!“ Bei den letzten Worten drehte ich mich in die Richtung der dunklen Kojen und hob die Stimme. Das sollte reichen, um der blonden vollbusigen Schaufensterpuppe klar zu machen, dass man bei mir mit der Wahrheit immer noch am besten fährt. Ich war nun in Stimmung und beschloss weiter zu ziehen.
„Sie wissen, wo Sie mich finden, Goldlöckchen. Bin immer für Neuigkeiten zu haben.“ Ich schob dem Barkeeper einen Zwanziger über die Theke und steckte das Wechselgeld ohne nachzuzählen in die Manteltasche. Als ich wieder auf die Straße trat, ging ich ein paar Schritte bis zur nächsten Straßenlaterne. Dann fasste ich in meine Manteltasche und fummelte einen kleinen weißen Zettel hervor, der zwischen dem Wechselgeld steckte. Ich warf einen Blick auf beide Seiten, knüllte den Zettel zusammen und versenkte ihn verärgert durch das nächste Kanalgitter. Die nächsten Lokale, die ich besuchte, waren diverse Kulturvereine. Ich hatte während meiner Zeit als Asylant viele Menschen kennengelernt und das kam mir jetzt zugute. Ich konnte selbst als Polizist in diese Lokale gehen, bekam meinen Tee oder Kaffee und erhielt ab und zu Tipps über Aktionen oder Personen, denen ich auf der Spur war. Doch heute Abend war es irgendwie anders. Ich bekam zwar meinen Tee oder auch meinen Kaffee, aber was ich diesmal nicht bekam, waren Tipps. Natürlich konnte ich nicht einfach danach fragen. Es war eigentlich immer eine Art Tauschgeschäft. Wenn ich bei einem ihrer Probleme helfen konnte, dann halfen sie mir auch bei meinen Problemen. Das konnte alles Mögliche sein. Einmal ging es um ein Besuchervisum für einen nahen Verwandten, das nächste Mal um die richtigen Formulare für eine Wohnung oder um die Aufnahme eines Asylverfahrens. Nichts Illegales, nur ein bisschen Amtshilfe. Und je nachdem wie wichtig die Lösung des einen Problems war, desto größer oder kleiner war der Tipp, den ich für meine Probleme bekam.
„Ich habe für Ihren Neffen die Sache mit dem Parkschaden regeln können. Wenn er sich bereit erklärt, den Schaden reparieren zu lassen, dann verzichtet der Besitzer auf eine Anzeige. Das kann er ja sicherlich in Ihrer Werkstatt machen.“
Mein Gegenüber war ein grauhaariger Mann Mitte Sechzig. Er war stellvertretender Vorsitzender eines türkischen Kulturvereins. Ich hatte mit ihm vor zirka drei Wochen bei einem Tee geplaudert und er hat mir von seinem Neffen erzählt, der mit seinem neuen Motorrad einen Unfall verursacht hat. Dass der bereits aktenkundige Lieblingsneffe des stellvertretenden Vorsitzenden wahrscheinlich ein Einreiseverbot erhalten werden würde, wenn er nochmals vor den Richter kam, war allen klar. Das wäre für die Familie des Mannes nicht gerade ein Imagegewinn. Und mit Schande gingen diese Männer nicht zimperlich um. Ich hatte das für den Mann nicht unwesentliche Problem gelöst - doch heute bekam er dafür außer einem ehrlichen Dank nichts zurück.
„Nun, ich bin froh, dass ich helfen konnte. Wir haben ja alle irgendwelche Probleme, bei denen wir uns sehr freuen, wenn wir Hilfe bekommen.“ Ich wollte es noch einmal versuchen, auf mein aktuelles Problem hinzuweisen, ohne jedoch aufdringlich zu wirken.
„Ja das stimmt. Du hast mir geholfen, dafür bin ich Dir sehr dankbar. Und das, obwohl Du selbst sicherlich gerade jetzt auch sehr, sehr große Probleme hast.“ Der alte Mann nickte und ich blickte von ihm zu den anderen Männern am Tisch. Sie rührten mit den kleinen silbernen Löffeln in ihren kleinen gläsernen Teeschalen herum, schienen sich sehr darauf zu konzentrieren, dass sich der Würfelzucker ganz auflöste und nickten zustimmend aber schweigend. Wieso war das Gespräch heute eine Sackgasse? Scheiße! Das gibt’s doch gar nicht! Was war denn heute los? Je weiter ich in diesem Fall ermittelte umso weiter schien ich mich von meinem Ziel zu entfernen. Selbst meine besten Quellen waren versiegt! Heute Morgen war sich ein beschissener Schlepper bereits sicher, dass ich schon so gut wie tot sei, aber in der ganzen Stadt wusste niemand etwas davon! Das war doch nicht normal! Dann musste ich mich noch gegen Kollegen und diesen Spitzer vor Major Kahl verantworten, weil die Paragrafenhengste meine Ermittlungsmethoden in Frage stellten und vor mir lagen nur noch ein paar Lokale, für die ich sicherheitshalber meine Waffe eingesteckt hatte.
Auf dem Weg aus dem Lokal schüttelte ich noch dem einen oder anderen die Hand, wie es üblich war, und verschwand durch die Milchglastüre. Nach wenigen Schritten öffnete ich meine Faust, nahm wieder einen weißen Zettel heraus und blickte kurz auf beide Seiten. Dieses ansonsten so verlässliche Nachrichtensystem ließ mich heute im Stich. Missmutig hantelte ich mich von einer Bar in die nächste und von einem Bordell ins andere, klopfte bei mehreren Clubs an, doch wie nicht anders zu erwarten, gab es keine Informationen. Nur leere weiße Zettel. Immerhin erfuhr ich von einem Clubbesitzer, den ich schon mehrere Male wegen unerlaubter Prostitution und fehlender Arbeitserlaubnis festgenommen hatte, dass er sich freuen würde, wenn mir wirklich mal jemand eine auf mein Maul hauen würde. Und für den Fall, dass ich mich davon nicht mehr erholen würde, lobte er vor mir eine Belohnung von zehntausend Euro aus. Nun war ich endgültig so übel gelaunt, dass ich ihm den kleinen und den Ringfinger seiner rechten Hand brach, als er mir zum Abschied auf die Schultern klopfen wollte.
An Abenden wie diesem, wenn der ganze Tag schon schlecht gelaufen war und ich an jeder Ecke und an jedem Ende nur Absagen, Lügen und Müll aufgetischt bekam, wurde mir manchmal bewusst, dass ich niemanden hatte, den ich anschreien oder für diesen Tag verantwortlich machen konnte. Außer mich selbst. Es war auch niemand da, der mich wieder aufbaute, der mich anfeuerte und der sagte: „Mach Dir nichts draus, morgen ist ein neuer Tag. Morgen wird sicher alles besser!“ Außer mir selbst. Und es war auch niemand da, mit dem ich mich ins Bett legen konnte und mit dem ich zumindest Sex haben konnte. Es war schon einige Zeit her, dass ich mich an der 25-jährigen Brünetten versucht hatte. Das Klischee von der Unverträglichkeit zwischen Polizeiarbeit und Beziehung hatte meist gnadenlos zugeschlagen. Mein Pech, dass ich mit meiner Waffe auf sie gezielt hatte. Es war so ein Abend, an dem ich mir insgeheim wünschte, dass daheim eine wunderschöne Frau auf mich warten und mir jeden Wunsch erfüllen würde. Auf der anderen Seite könnte ich sie wahrscheinlich schon morgens wieder verlieren, denn im Alltag war ich beziehungsuntauglich und keine einigermaßen intelligente und hübsche Frau würde bei mir bleiben und sich meinen Launen hingeben. Ich überlegte noch ob ich ein paar hundert Euro in eine leidenschaftliche Nacht investieren sollte, als ich entschied in dem Café in der Nähe meiner Wohnung noch einen Drink zu nehmen und mir über die Haarfarbe und Ausstattung meiner anstehenden Investition klar zu werden. Ich bestellte mir einen Black Russian und ein paar Erdnüsse. Nachdem ich mit mir endlich über die wichtigsten Attribute meiner zukünftigen nächtlichen Gespielin übereingekommen war und zahlen wollte, schweifte mein Blick durch das Lokal.
Das interessante an misslungenen Vorhaben und damit verbundenen vor Selbstmitleid strotzenden Stunden ist, dass man zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist um um sich herum noch irgendetwas wahrnehmen zu können. Ich hätte ehrlich nicht sagen können, ob die mit einem knappen schwarzen Seidenkleid bekleidete, hübsche junge Dame bereits im Lokal saß, als ich vorhin eintrat, oder ob diese wundervollen kastanienbraunen Locken und das verschmitzte Lächeln erst das Lokal betreten hatten, als ich mich mit meinem Nachtprogramm beschäftigt hatte. Jedenfalls stellte ich fest, dass die meisten nicht unwesentlichen Eigenschaften, die ich mir vorgenommen hatte heute Nacht gegen Bezahlung in Anspruch zu nehmen, sich in jenem Wesen wiederfanden, das so ganz und gar nicht professionell und käuflich wirkte. Sie schien eher gerade aus der Oper oder einem Theater in der Nähe zu kommen und selbst den Abend noch nett ausklingen lassen zu wollen. Doch warum war so eine attraktive Frau alleine im Lokal? Es musste doch ein Begleiter in der Nähe sein. Ich beobachtete die Szenerie unauffällig und wartete einige Augenblicke, ob nicht doch noch ein reicher Schnösel an ihre Seite treten würde. Doch nichts dergleichen geschah. Die Dame saß an der Bar, plauderte mit dem Barmann, als würden sich die beiden bereits seit geraumer Zeit kennen. Zwischendurch nippte sie an einem Glas Weißwein. Ich ließ meinen Tag nochmals kurz im Geiste ablaufen und fand, dass ich mich mit dieser Frau bekannt machen sollte. Würde sie mich abblitzen lassen, so wäre das nur eine weitere Niederlage an einem ohnehin beschissenen Tag. Käme es aber zu einem Gespräch so könnte dieser Scheißtag vielleicht noch ein nettes Ende nehmen.
Ich stand also auf, nahm meinen Black Russian und die Erdnüsse mit, und ging zu der Rothaarigen hinüber. Sie bemerkte meine Absichten, lächelte und bot mir den Hocker neben ihr an. Ich stellte mich vor und erhielt die erste wichtige Information des Abends: die Frau hieß Sophia. Wir kamen schnell ins Gespräch und ich wunderte mich, wie leicht es mir fiel, mich mit ihr zu unterhalten. Ich erfuhr, dass sie als freie Journalistin arbeitete und erst vor kurzem nach Wien gezogen war. Sie kam von einer Firmenfeier und dieses Lokal lag auf ihrem Heimweg. Sie wohnte nicht weit weg von hier. Und damit auch nicht weit weg von mir! Wir plauderten noch lange und als der Barmann um drei Uhr morgens das Lokal schloss, verabredeten wir uns für den nächsten Abend am gleichen Ort. Ich ging heim und stellte zufrieden fest, dass ich keine Frustnummer hatte bezahlen müssen. Sophia war ein sehr positiver Abschluss dieses total verkorksten Tages.