Читать книгу Der Zarewitsch - Martin Woletz - Страница 8
Sechs
ОглавлениеIch lenkte den Wagen zügig durch den Frühverkehr, querte die Donau und fuhr zielsicher durch das Straßengeflecht jenseits des Flusses. Die Adresse war mir nur zu gut bekannt. Es handelte sich um ein Haus, das immer wieder von illegalen Flüchtlingen zum Übernachten benutzt wurde. Ab und zu stattete ich dem Eigentümer einen Besuch ab, um sicher zu gehen, dass er wusste, dass ich wusste, was er tat. Wir ließen den Hauswirt gewähren, da er nicht ganz freiwillig als Informant für mich arbeitete. Ich hatte ihn vor drei Jahren bei einer Razzia geschnappt und gleich erkannt, dass der Mann ein feiges Schwein war, das nur auf das schnelle Geld aus und dem Menschen völlig egal waren. Ich stellte den nach kaltem Zigarettenrauch und Schweiß stinkenden Fettsack damals vor die Wahl, für mich zu arbeiten oder ihn an die Schlepper auszuliefern. Mein damaliger Partner wollte wegen einer anstehenden Beförderung unbedingt die Verhaftung des Hauswirtes haben, doch ich erwirkte, dass der Mann mit einer Anzeige auf freiem Fuß entlassen wurde. Der Protest meines Kollegen ließ mich kalt. Ich hatte mein Ziel erreicht und jetzt einen Spitzel in der Organisation. Nur das zählte. Mein Partner musste auf die Beförderung warten. Seit dem arbeitete ich ohne Partner.
Als ich meinen Wagen vor dem Haus abgestellt hatte und ausgestiegen war, zog ich den Mantel zu und ging rasch durch den Regen in den Hausflur des heruntergekommenen graubraunen, zweigeschossigen Gebäudes. Absperrbänder und Menschen in weißen Einwegoveralls sprangen mir ins Auge. Die Szenerie eines Kapitalverbrechens. Ich hatte am Telefon erfahren, dass am frühen Morgen ein Asylant tot in einem Zimmer von einem Mitbewohner aufgefunden wurde.
„Was haben wir?“ fragte ich die schwarzhaarige Revierinspektorin in Uniform an der Zimmertüre.
„Der Mann - wahrscheinlich Russe oder so - wurde offenbar in der Nacht mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen. Es gibt keine Papiere oder Wertsachen. Dürfte sich um Raubmord unter den Typen gehandelt haben“, antwortete die Uniformierte in herablassendem Tonfall. Ich blickte sie scharf an. Mag sein, dass ich in manchen Situationen überreagierte, aber Diskriminierung duldete ich nicht. Vielleicht, weil ich selbst als Flüchtling nach Österreich gekommen war. Außerdem fand ich, dass es den Blick für das Wesentliche trübte, wenn man von vornherein an die Schuld von bestimmten Menschen glaubte.
„Was meinen Sie mit „Typen“?“
„Entschuldigung, Chefinspektor. Das ist mir so rausgerutscht.“ Ich hatte mich direkt vor der fast einen Meter achtzig großen sportlichen Frau aufgebaut, so dass sich unsere Nasen fast berührten.
„Bin ich auch nur so ein „Typ“ für Sie?“ Meine Stimme wurde härter und schneidender.
„Nein, natürlich nicht. Soll ich den Leichenbeschauer für Sie holen?“ versuchte die Beamtin rasch das Thema zu wechseln. Ich blickte sie bedrohlich an und wandte mich ohne Antwort ab. Ich ging in das Zimmer, in dem der Tote neben dem Fenster auf dem Bauch lag. Sein Hinterkopf war eingeschlagen und eine große Blutlacke hatte sich auf dem Holzboden ausgebreitet. Die Vorhänge waren zugezogen. In dem rund vier Mal fünf Meter großen Zimmer lagen sechs schäbige, mit jeder Menge Flecken übersäte, Matratzen am Fußboden. Auf manchen Matratzen lagen zerschlissene Decken oder ein übel riechender Polster. Sie schienen kürzlich nicht benutzt worden zu sein, jedenfalls waren sie kalt. Wenn in dieser Nacht jemand hier geschlafen hatte, dann waren der- oder diejenigen schon lange fort. Es gab keine Anzeichen eines Kampfes. Der Mann war vermutlich am Fenster gestanden und von hinten angegriffen worden.
„Es gibt keine Abwehrspuren. Ich werde mir den Toten natürlich noch genau in der Pathologie ansehen, aber so wie es aussieht, ist der arme Mann völlig überrascht worden.“ Die Pathologin und ich kannten uns von einigen früheren Fällen. Wir schätzten einander auf kollegialer Ebene, aber weder Dr. Karner noch ich wären je auf die Idee gekommen, unsere Freizeit miteinander zu verbringen. „Wahrscheinlich hat sich der Angreifer von hinten angeschlichen und ihn erschlagen. Als Tatwaffe kommt ein stumpfer Gegenstand in Frage, etwa ein Baseballschläger.“ Ich blickte auf.
„Haben Sie in der Wunde einen gefunden oder wie kommen Sie gerade auf einen Baseballschläger?“
„Das nicht direkt, aber es sind einige Holzsplitter in der Wunde. Ich muss sie erst analysieren.“
„Der Bericht ist morgen früh fertig?“ Ich betonte die Frage wie eine Aufforderung. Die Mundwinkel der Ärztin verzogen sich zu einem kleinen Lächeln. Sie kannte meine Ungeduld. Ich hasste es aus bürokratischen Gründen nichts unternehmen zu können.
„Habe ich Sie je länger warten lassen, als unbedingt notwendig, Chefinspektor? Spätestens morgen Mittag ist der Bericht auf ihrem Schreibtisch.“
Ich blickte mich um und winkte den Polizeifotografen zu mir, gab ihm einige knappe Anweisungen, welche Fotografien ich zusätzlich zum normalen Umfang gerne hätte und verlangte die Abzüge ebenfalls bis zum nächsten Morgen. Dann verließ ich den Raum.
„Gibt es Zeugen?“ fragte ich die Beamtin vor der Tür.
„Wir haben alle im Nebenraum zusammen geholt. Aber die sprechen nur russisch oder so ein Zeug.“ Im gleichen Moment wurde ihr bewusst, dass sie in das nächste Fettnäpfchen getreten war. Sie blickte entschuldigend zu mir. Doch ich überhörte diese Bemerkung diesmal und begab mich zum Nebenraum.
„Bringen Sie mir den Hauswirten“, befahl ich einem Kollegen in Uniform. Ich betrat den Raum und sah zwei Männer, die mit Handschellen gefesselt am Boden saßen. Zwei Uniformierte bewachten die beiden Männer, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Einer von ihnen war klein, wirkte ausgezehrt und hatte ausgebleichte und leicht verschlissene Kleidung am Körper. Er saß am Boden und blickte ängstlich zu mir herauf. Der andere war ein Stück größer als ich, wog sicherlich einhundertzwanzig Kilo und passte so gar nicht in das herkömmliche Flüchtlingsschema. Sein Äußeres war gepflegt, er saß kerzengerade vor mir und blickte mich gleichgültig an. Ich witterte eine freudige Überraschung, denn wenn ich Glück hatte, war das sogar ein Schlepper!
Ich wandte mich direkt den Männern zu, blieb rund einen Meter vor ihnen stehen und betrachtete jeden einzelnen eingehend.
„Sollen wir die Männer gleich mit aufs Revier mitnehmen, Chefinspektor?“ unterbrach einer der Uniformierten, ein weiterer Revierinspektor, meine Psychospielchen. Ich reagierte auf die Frage nicht. Ich fixierte die beiden Männer am Boden mit meinen Augen. Einer von ihnen würde auspacken und ich suchte nach jenen Anzeichen, die mir verrieten, wer das sein konnte. Ausweichende Blicke, übergroße Nervosität und gutgemeinte Ratschläge waren die häufigsten Merkmale. Ich selbst konnte ebenfalls mehrere Rollen spielen um rasch an mein Ziel zu kommen. Den guten Polizisten, der mit Verständnis und Hilfsbereitschaft auf die Flüchtlinge zuging. Den bösen Bullen, der sie einschüchterte und bedrohte oder auch den gleichgültigen Beamten, der nur seiner Pflicht nachging und streng nach Vorschrift arbeitete. Und dabei wollte ich immer nur eines: So schnell als möglich ans Ziel kommen. Daher war es mir egal, in welche Rolle ich schlüpfte.
„Mehr als die beiden und den Toten haben Sie nicht gesehen?“
„Nein, auch der Hauswirt meinte, dass nur die drei Männer da waren“, antwortete ein Beamter. Das war ungewöhnlich. Bisher waren bei jeder Razzia mindestens ein Dutzend Personen aufgegriffen worden, überwiegend Frauen und junge Mädchen. Eine Gruppe wie diese hatte ich bisher noch nicht gesehen.
Für mich war es unerklärlich, warum sich die Menschen solchen Verbrechern auslieferten. Ich wusste, dass viele mit ihrem Leben bezahlen mussten, irgendwem musste doch schon aufgefallen sein, dass kaum einer hier ankam! Und wenn es mir gelang, einige wenige zu finden, bevor sie in Bordellen oder Leichenschauhäusern landeten, dann waren sie so stumm wie Fische und behielten alle wichtigen Hinweise über die Verbrecher für sich. Mich ärgerte diese penetrante Verstocktheit maßlos. Diese mangelnde Courage. Wo wäre ich heute, wenn ich mich damals nicht dafür entschieden hätte, alleine in den Wald zu laufen?! Entgegen den Befehlen der Schlepper. Tot und verscharrt im Wald. Nach meiner Genesung und der Einbürgerung war es für mich glasklar gewesen, dass ich diese Verbrecher weiter bekämpfen würde. Wenn es von Bulgarien aus nicht mehr ging, dann eben von hier. Aber nichts zu sagen, wäre für mich nie in Frage gekommen. Klar hatte ich mich nicht freiwillig für die Flucht entschieden, außer für den letzten Teil. Und ich hatte vielleicht auch keine Verwandten und Freunde mehr in der Heimat, die man unter Druck setzen konnte. Obwohl ich immer noch hoffte, meine Mutter und meine Schwester eines Tages lebend zu finden. Aber ob ich nun auf der Flucht mein Leben riskierte oder durch meine Aussage, war doch egal. War es diesen Menschen denn immer noch nicht klar, dass sie sich und allen anderen einen Gefallen taten, wenn sie auspackten und die Hintermänner preisgaben? Damit niemand mehr in einsamen Wäldern von Kugeln durchsiebt werden würde.
„Woher kommen Sie?“ eröffnete ich die Befragung mit ruhiger, klarer Stimme. Ich hatte mich vor den kleineren Mann auf den Boden gehockt und blickte ihm direkt in die Augen. Der Mann war etwa vierzig bis fünfundvierzig Jahre alt, sah aber bei weitem älter aus. Sein gebräuntes Gesicht war von einem stoppeligen Bart geprägt, der schon mehr grau als schwarz war. Die Wangen waren eingefallen und von tiefen Falten geprägt. Auf der Stirn war eine verkrustete Wunde zu sehen, so als hätte er sich vor ein paar Tagen den Kopf gestoßen. Die Haare waren ungepflegt, jedoch noch dunkel bis auf die Ränder.
„Woher kommen Sie?“, wiederholte ich die Frage eine Spur lauter und eindringlicher. Ich zog den Mann an den Handschellen nach oben und stand ihm nun gegenüber. Schmale Schultern, sehnige Arme. Ich war davon überzeugt, dass dieser Mann eine lange harte Flucht hinter sich hatte. Die an sich gebräunte Haut hatte einen grauen Teint. Seine Augen waren milchig-gelb. Sein Atem roch schlecht und war flach. Der Mann war am Ende seiner Kräfte, fertig, wahrscheinlich krank. Doch gleichzeitig versuchte er sich nichts anmerken zu lassen. Er wich meinem Blick nicht aus. Er wartete einfach ab. Es schien, als habe er nichts mehr zu verlieren.
„Verstehen Sie meine Frage?“, lockte ich ihn.
„Verstehen Sie, was ich von Ihnen wissen möchte?“ Noch immer kam keine Reaktion. Ich trat einen Schritt zurück und blieb noch einen Augenblick vor den Männern stehen, drehte mich dann um und ging zur Tür zurück. Den beiden Beamten befahl ich, die Männer zu bewachen.
„Wo ist der Hauswirt?“, fragte ich die Beamtin.
„Hier!“ antwortete sie sofort und deutete in Richtung Eingangstür. Dort stand ein nervöser fetter Mann, jenseits der fünfzig im Unterhemd und Jogginghose. Er war ungepflegt mit gelben Zähnen. Er stank nach Schweiß und kaltem Rauch. Ich öffnete eine Türe im Flur.
„Hier rein!“ herrschte ich den Mann an. Die Beamtin schickte sich an mitzugehen, doch ich blockte sie im Türrahmen ab.
„Sie bleiben hier. Wenn ich wieder rauskomme, dann sagen sie mir, wie Sie darauf gekommen sind, dass die Männer aus Russland stammen.“
„Das kann ich Ihnen auch gleich sagen, Chefinspektor. Für mich klingen „Stoy“ und „Njet“ nach den russischen Wörtern für „Stopp“ und „Nein“.“ Die Kollegin lächelte triumphierend und war sich sicher, die Scharte von vorhin ausgemerzt zu haben.
„Das ist alles?“ fragte ich sie gelangweilt. Ich hatte nicht vor, sie Oberwasser gewinnen zu lassen.
„Ich hoffe, Ihnen fallen noch bessere Gründe ein.“ Damit ließ ich die verdutzte Polizistin stehen und schloss die Türe von innen.
„Warum ist der Kerl so ein Arschloch?“, fragte die Polizistin die beiden Kollegen nachdem ich die Türe von innen geschlossen hatte.
„Nimm’s nicht so tragisch. Er hat seine Macken aber er ist ein genialer Ermittler. Ich hab gehört, dass er bei seiner eigenen Flucht fast draufgegangen wäre. Seine ganze Familie ist seitdem verschollen oder tot. Wahrscheinlich haben die dran glauben müssen. Bleib auf Distanz und mach nur, was er sagt. Dann ist alles ok.“ Der ältere der beiden Kollegen, ein Gruppeninspektor, ließ den Oberlehrer raushängen.
„Ist das alles? Ich streng mich an, zermartere mir den Kopf und das Einzige, was er sagt, ist, dass mir hoffentlich noch was Besseres einfällt. Der kann mich mal! Wenn er mir nochmal blöd kommt, dann lernt er mich kennen! Wofür hält der sich eigentlich?! Nur weil er Chefinspektor ist, hat er noch lange kein Recht, mich wie eine Anfängerin hinzustellen!“ Die attraktive Beamtin war auf Hundert.
„Ich kann Dir nur raten, keinen Ärger mit Korelev zu suchen. Der Kerl kennt kein Erbarmen. Du kennst doch Chefinspektor Spitzer, den Macho-Man?“
„Ja natürlich, auch so ein eingebildeter Kerl.“
„Die beiden haben Stress, wann immer sie sich sehen. Aber ich hab bisher noch nie erlebt, dass Spitzer irgendwie an Korelev herangekommen wäre. Der hat ihn immer noch geschnupft und manche meinen, dass ihm das nicht immer nur mit Worten gelungen ist. Wenn der Spitzer könnte, dann würde er den Korelev mit Freude ins Weltall schießen. Mit Papas Hilfe könnte es ihm vielleicht sogar gelingen, wenn der Korelev nicht höllisch aufpasst.“
Der Vermieter hatte sich auf den Rand der Badewanne gesetzt. Eigentlich hätte er in die Badewanne gehört, denn die hatte er sicherlich seit einigen Wochen nicht mehr von innen gesehen, so wie er stank. Der aufgeschwemmte Körper schien die bleiche, dünne Haut des Mannes zum Platzen zu bringen. An den Oberarmen entdeckte ich frische rote Flecken, die nach Schlagmalen aussahen. Das dünne, strähnige Haar hing ungepflegt ins Gesicht und der hässliche Dreitagesbart sah nicht nach Absicht aus.
„Warum hab ich von Ihnen nichts gehört?“ Ich hatte es mir zur Angewohnheit gemacht, meine Gesprächspartner immer mit „Sie“ anzusprechen. Nicht aus Respekt oder der Etikette wegen, sondern weil ich keine Vertraulichkeiten mit Menschen austauschen wollte, mit denen ich nur beruflich zu tun haben musste.
„Mann, Chef, ich wollte das gleich heute machen. Ich schwör‘s Ihnen! Die sind erst gestern Abend zu mir gekommen. Und heute ist Einer tot. Scheiße, Mann! Ich wollte es Ihnen wirklich gleich sagen, aber ich hab selbst nichts davon gewusst.“
„Wovon haben Sie nichts gewusst?“
„Na, dass ich wieder eine Lieferung bekomme. Das war diesmal anders.“
„Wie anders?“
„Normalerweise kriege ich vier oder fünf Tage vorher Bescheid. Dann richte ich alles her und sehe zu, dass die Vorräte aufgefüllt sind. Wenn ich plötzlich für zehn oder zwanzig Leute einkaufen gehe, dann fällt das gleich auf. Na und diesmal war gar nichts. Die sind in der Nacht einfach vor der Tür gestanden und ich musste sie rein lassen. Der große Typ hat gesagt, dass sie nur ein oder zwei Tage bei mir bleiben und dann weiter ziehen. Wenn die Lieferung angekündigt ist, sind sie länger bei mir.“
„Und weiter.“
„Nichts weiter. Heute Morgen komme ich runter um Ihnen Ihr Frühstück zu bringen und da liegt der eine vor dem Fenster und rührt sich nicht mehr. Keine fünf Minuten später rückt hier die halbe Armee an und stellt mir das Haus auf den Kopf.“
„Haben Sie die Polizei angerufen?“ hakte ich nach.
„Nein, Mann, haben Sie nicht zugehört? Ich hab den Toten selber noch nicht mal richtig gesehen, da wart Ihr schon vor der Haustüre.“
„Gibt es in dieser Wohnung ein Telefon?“
„Nein, Chef, machen Sie Witze? Ich weiß nicht, wer angerufen hat.“
„Wie sollte es weitergehen? Wann werden die Männer abgeholt?“
„Ehrlich Chef, das weiß ich nicht. Sie haben gesagt, sie melden sich heute oder morgen bei mir. Bis dahin soll ich aufpassen und die Penner nicht vor die Hunde gehen lassen.“ Ich machte einen kleinen Schritt auf den Vermieter zu und blickte zu ihm herab. Der Mann war um gut zehn Zentimeter kleiner und mir stieg der fettige Schweißgeruch aus seinen Haaren in die Nase. Ich musste mich beherrschen, dass ich nicht gleich wieder einen Schritt zurück machte.
„Sie haben jetzt noch genau fünf Sekunden Zeit, Schweiger, mir irgendeine vernünftige Antwort zu geben. Außer, dass Sie von nichts gewusst haben, niemanden erkannt haben und nicht wissen wie es weitergehen soll, haben Sie mir noch nichts gesagt. Schweiger, Sie machen ihrem Namen alle Ehre.“ Der Mann lächelte verlegen - eine Mischung aus Unsicherheit und Hoffnung. Gerade als er zu einer weiteren Ausrede ansetzen wollte, ging ich zum Angriff über. Mit einer raschen Bewegung versetzte ich dem Mann einen Stoß und beförderte ihn damit krachend in die Badewanne. Schweiger versuchte noch sich festzuhalten, schlug aber mit Rücken und Hinterkopf auf den Wannenrand und die Mauer. Ein lauter Schmerzensschrei und ein hochroter schwitzender Schädel waren die Folge. Die Beamtin im Flur drehte sich um als sie den Lärm und den Schrei hörte und stürzte zur Badezimmertür herein. Ich lehnte auf den Beinen des Vermieters, der mit dem Hintern in der Wanne saß und sich nach Luft schnappend den Hinterkopf rieb.
„Helfen Sie mir!“, keuchte der Mann und ich fuhr herum.
„Verschwinden Sie hier!“ fauchte ich die Beamtin an.
„Ich…äh…wir haben Krach gehört und ich …“, stotterte die Polizistin.
„Was!!“ herrschte ich sie an. „Verschwinden Sie.“
„Sie wissen, dass das gegen die Vorschrift ist?“, versuchte ihm die Polizistin Paroli zu bieten. Ich drehte mich zu ihr um und ging langsam auf sie zu.
„Macht es Ihnen Spaß, mich bei meiner Arbeit zu behindern? Wenn es Ihnen nämlich Spaß macht, dann können Sie sich bereits als Klofrau im Prater bewerben.“ Meine Stimme war leise, fast flüsternd, aber schneidend und bedrohlich.
„Und Ihre Vorschriften liegen dort, wo sie hingehören. In der Schublade im Schreibtisch. Wenn Sie auf Kriminelle treffen, dann gebe ich Ihnen den Tipp, vergessen Sie die Vorschriften und machen Sie ihre Arbeit. Und jetzt suchen Sie sich eine Aufgabe, die uns hilft, diese Mistkerle festzunageln und lassen Sie mich in Ruhe. Wenn ich mit dem Gespräch mit Herrn Schweiger fertig bin, möchte ich Sie auf meinem Tatort nicht mehr sehen. Ist das klar?“ Dann bugsierte ich die Beamtin auf den Flur und schloss die Türe wieder.
Während ich mich wieder zu Schweiger umdrehte, der immer noch jammernd in der Badewanne steckte, versuchte ich die nervige Kollegin aus meinen Gedanken zu verdrängen und mich wieder auf mein Ziel zu konzentrieren. Ich war mir sicher, dass ich wegen dieses Zwischenfalls wieder bei diesem Schreibtisch-Napoleon von der Internen Abteilung antreten musste. Seit der die Leitung der Abteilung übernommen und damit die Chance bekommen hatte, den ganzen Tag hinter dem Schreibtisch zu hocken, hatte er das auch getan. Der Major kannte natürlich alle Vorschriften auswendig und zitierte mit Freude die einzelnen Paragraphen, gegen die ich bei meinen Ermittlungen verstoßen hatte. Meistens handelte es sich dabei um die Art und Weise, wie ich meine Informationen erhielt. Natürlich war es entscheidend, ob die Beweise und Aussagen vor Gericht halten würden, doch ich hatte ein sehr feines Gespür für den notwendigen Grad an Überzeugungskraft. Legalität war für mich extrem wichtig, sonst wäre ich nicht Polizist geworden. Aber für mich war es entscheidend, Kriminelle aus dem Verkehr zu ziehen. Und wenn dafür die Vorschriften und Gesetze nicht ausreichten, dann erweiterte ich spontan meinen Spielraum. Ein schlechtes Gewissen hatte ich deswegen nicht. Auch nicht, wenn eine Befragung einmal rauer wurde. Kriminelle hielten sich auch nicht an Vorschriften und Gesetze. In erster Linie war mir das Ergebnis wichtig und erst in zweiter Linie der Weg bis dahin. Zwischen dem Major und mir herrschten klare Verhältnisse. Der Major konnte mich nicht leiden und umgekehrt war es genauso. Der einzige Unterschied zwischen uns beiden bestand darin, dass ich mit dieser Situation kein Problem hatte. Im Gegensatz dazu hatte es sich der Major zur Aufgabe gemacht, mich so rasch als möglich loszuwerden. Und wenn ich dabei noch in den tiefsten Keller verschwinden würde, dann wäre das aus seiner Sicht das Beste. Doch die Erfolge gaben bisher immer mir Recht. Und die Rüffel, die ich mir wegen meiner Ermittlungsmethoden einfing, betrachtete ich als Teil meiner Arbeit.
Ich drehte mich wieder zu Schweiger um. Der ruderte wild mit den Armen in der Badewanne und versuchte hinter meinem Rücken wieder auf die Beine zu kommen.
„Lassen Sie das, Schweiger. Und machen Sie den Mund auf. Was sind das für Leute? Was wollen die hier? Und warum sind keine Mädchen dabei?“
„Chef, ich weiß es wirklich nicht. Das sind keine normalen Jungs. Das sehe ich auch. Aber ich weiß wirklich nicht, was die wollen!“ Er machte eine kurze Pause.
„Mir wird das Ganze zu heiß. Können Sie mich nicht mitnehmen. In Schutzhaft oder sowas. Mann, Sie müssen mich schützen!“
Schweiger hatte seine Taktik geändert, aber ich fiel auf den Trick nicht herein.
„Ich hab Angst vor diesen Typen. Die machen keine Gefangenen. Wenn die mitkriegen, dass die Polizei da war, dann bin ich Geschichte. Ich flehe Sie an. Nehmen Sie mich mit, bitte!“
Wenn er nicht so ein hässliches, stinkendes Schwein wäre, hätte er einem fast leidtun können.
„Ich werde Sie mitnehmen, Schweiger. Aber freuen Sie sich nicht zu früh. Wir beide sind noch nicht fertig. Sie werden sich noch an Dinge erinnern, von denen Sie gar nicht wussten, dass sie sie jemals vergessen haben. Das verspreche ich Ihnen. Und Gnade Ihnen Gott, wenn ich dahinter komme, dass Sie mich belogen haben!“
Ich öffnete die Badezimmertür und trat auf den Flur hinaus. Ich blieb einen Augenblick stehen und zog dann langsam meinen Mantel aus.
„Jetzt legt er erst richtig los“, raunte der ältere Polizist seinem jüngeren Kollegen ins Ohr. In seiner Stimme schwang ein Unterton irgendwo zwischen Achtung und Sorge mit.
„Ich hab den Chefinspektor einmal beobachtet, wie er einen knallharten Burschen, der mit uns nur gespielt hat, innerhalb von fünfzehn Minuten zum Singen gebracht hat. Ein Gespräch unter Männern, verstehst Du?“ Der junge Kollege nickte und wäre beinahe in Versuchung gekommen, mich zu seinem Vorbild zu machen.
„Allerdings konnte Korelev das Geständnis nicht verwenden, weil ihn der Typ beim Staatsanwalt angezeigt hat. Tja, übertreiben darf man’s natürlich nicht. Da hat er dann zum Rapport müssen und hat einen gewaltigen Anschiss bekommen.“
Sein jüngerer Kollege verwarf die Idee mit dem Vorbild wieder.
„Und hat er den Typen dann doch festnageln können?“
„Ja. Er hat einen Mann in die Zelle eingeschleust und dem hat der Trottel alles brühwarm erzählt.“ Nun war ich doch noch zum Vorbild geworden.
„Kommen Sie her!“ rief ich dem Erzähler zu. Der Beamte setzte sich sofort in Bewegung.
„Bringen Sie Herrn Schweiger zur Dienststelle und lassen Sie ihn wegen Menschenhandels in eine Zelle stecken. Um den Papierkram kümmern Sie sich auch.“ Mit dieser Anweisung ließ ich den Kollegen alleine und ging wieder zu dem Zimmer, in dem die unbekannten Männer warteten.
„Wir fangen nochmals von vorne an.“ Diesmal sprach ich russisch. Ich sprach laut und sah mir die Männer genau an.
„Ich werde Sie jetzt nochmals fragen, wer Sie sind und woher sie kommen. Ich werde Sie einzeln fragen. Derjenige von Ihnen, der mir als erster brauchbare Informationen gibt, darf vielleicht in Österreich bleiben. Den anderen lasse ich noch heute zur Grenze bringen.“ Ich machte eine kurze Pause und las in den Gesichtern, wer am deutlichsten reagierte. Mittlerweile war ich sicher, dass mich die Männer verstanden. Beide versuchten betont uninteressiert zu wirken. Der ruhige, ausgezehrte Mann blickte mich die ganze Zeit mit müden Augen an, während der andere abwechselnd lässig auf mich und den anderen Mann blickte.
„Wer von Ihnen möchte beginnen?“ Ich setzte mein Spiel fort. Noch bevor einer der Männer reagieren konnte, sprach ich weiter.
„Ok, wenn Sie wollen, fangen wir also mit Ihnen an.“ Er trat wieder auf den kleineren Mann zu, der mittlerweile wieder am Boden saß. Ich tat, als hätte er sich gemeldet und bekam die erwartete Reaktion des anderen Kerls. Der blickte wütend auf den hageren Kerl, der erschrocken zur Seite rutschte. Damit hatte ich den ersten Stachel in das Fleisch getrieben. Wenn sich die beiden nicht mehr sicher sein konnten, dass der andere schwieg, war sicher bald eine Information zu bekommen.
„Berger, Sie und Ihr Kollege haben weiterhin ein Auge auf den anderen. Sie melden mir umgehend alle Auffälligkeiten, ist das klar?“ Ich blickte den älteren Beamten prüfend an.
„Was meinen Sie mit Auffälligkeiten, Chefinspektor?“ Berger wollte sicher gehen, dass er mich richtig verstanden hatte.
„Ich meine damit, dass Sie mir sagen sollen, wenn er Sie anblickt, anspricht oder anrempelt. Ich meine damit, dass mir sagen sollen, wenn er umkippt, zum Heulen anfängt oder nach seiner Mami ruft. Haben Sie das verstanden?“
„Ja natürlich, Herr Chefinspektor. Hab ich verstanden.“ Der Polizist tippte sich beflissen an die Mütze.
„Wir werden ja sehen.“ Ich hievte den anderen an den Handgelenken hoch.
„Wir gehen nach nebenan. Sorgen Sie dafür, dass wir nicht gestört werden, Kollege.“ Der Auftrag richtete sich an den jüngeren Beamten.
„Ich bin Revierinspektor Novotny, Herr Chefinspektor.“
„Sollten Sie sonst auch noch etwas zum Fall beitragen können, dann werde ich mir Ihren Namen merken. In Ordnung?“ Ich konnte Informationen, die ich nicht verlangt hatte, nicht leiden. Das war vielleicht menschlich eine Schwäche, half mir aber, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren.
„Gehen wir.“ Ich führte den Mann absichtlich in das Zimmer, in dem der Tote gelegen hatte. Auf dem Boden war die übliche Skizze zu sehen. Eine weiße Linie zeichnete die Umrisse des toten Körpers nach. An der Stelle, an der der Kopf gelegen hatte, klebte ein Blutfleck am Parkett.
Diesen Fall würde ich bis Mittag geklärt haben. Es war mir schon ziemlich klar, was geschehen war. Ich war schon mitten in meinem Schauspiel. Es war mir bereits gelungen, einen Zweifel zwischen die Männer zu bringen. Die weicheren Jungs klappten meistens bereits zusammen, wenn ich sie in den Raum zur Einzelbefragung führte, in dem das Verbrechen geschehen war. In den darauffolgenden Phasen gelang es mir dann immer, dem Verhörten die entscheidenden Informationen zu entlocken. Auf die eine oder andere Weise.
Als Junge hatte ich meinen Vater einige Male gefragt, wie es denn so sei, wenn man ein Verhör führen musste. Welche Tricks er angewandt hatte, wenn er einen Verbrecher überführen konnte? Wie weit er gehen durfte? Wie hatte er erkannt, ob der Befragte log oder die Wahrheit sagte? Vater hatte mir immer eine Antwort gegeben, aber ich war mir sicher, dass Vater nicht immer die ganze Wahrheit gesagt hatte. Die Kleinverbrecher, Trickdiebe oder Fälscher, waren nie ein Problem für ihn gewesen. Aber wenn sie einen vom organisierten Verbrechen geschnappt hatten, dann hatte die Sache sicher anders ausgesehen. Diese Männer waren Profis und einer strengen Hierarchie unterworfen. Sie wussten, dass sie ihr Todesurteil unterschreiben würden, wenn Sie der Miliz Hinweise auf die Organisation, deren Geschäfte oder Mitglieder gegeben hätten. Vater war Realist gewesen. Er hatte mir immer erklärt, dass Gewalt keine Probleme lösen würde, sondern der Grund für Probleme ist. Es gab genügend Möglichkeiten, einen Menschen zum Reden zu bringen, ohne auf ihn einschlagen zu müssen. Schlafmangel beispielsweise war eine der effizientesten Methoden, einen Gefangenen in Widersprüche zu verwickeln und ihn damit zum Sprechen zu bringen. Extrem laute Musik und Unterversorgung waren andere Methoden, von denen ich wusste, dass sie von den Milizbeamten angewandt wurden. Ich vertrat den Standpunkt, dass jeder Polizist die Vorschriften solange als möglich befolgen und die Rechte des anderen wahren sollte. „Solange als möglich“ hieß für mich, solange die Ermittlungen nicht behindert wurden. Und das hatte Vater wahrscheinlich auch gemacht. Zumindest wollte ich diese Wahrheit glauben. Verbrecher hatten auch ihre Regeln und die waren denen der Polizei fast immer überlegen, weil sie unmoralisch, asozial, illegal und gefährlich waren.
Der Mann schluckte, als er den Kreideumriss und das Blut am Boden sah. Ich sprach weiter russisch mit ihm.
„Ich werde Ihnen jetzt einmal die Situation erklären, in der Sie sich befinden. Und hören Sie damit auf so zu tun, als würden Sie mich nicht verstehen. Sie verstehen mich ausgezeichnet und ihre einzige Chance hier zu bleiben, ist mit mir zu reden. Ihr Freund da draußen glaubt jetzt bereits, dass Sie zum Verräter geworden sind. Da nützt es Ihnen gar nichts, dass ich Sie ausgetrickst habe.“ Der Mann blickte mich mit dunkelbraunen Augen traurig an. Ich hatte ihn gebrochen.
„Na sehen Sie, das ist ein Anfang. So ist es gut.“ Ich hatte den ersten Durchbruch geschafft. Die Männer sprachen also russisch und verstanden mich. Ich war auf die weiteren Erklärungen der Kollegin gespannt, die mir von einem kurzen Gespräch zwischen den Männern erzählt hatte, bevor ich am Tatort eingetroffen war. Eigentlich hatte nur der große Mann gesprochen, der kleine, mit dem ich gerade sprach, hatte nur genickt. Ich hoffte nur, dass die Beobachtungsgabe der Kollegin besser war, als ihre Ausdrucksweise.
„Dann sagen Sie mir jetzt, woher Sie kommen.“ Ich sah, wie der Mann mit sich kämpfte, entdeckte Angst und Verzweiflung in den Gesten des Mannes. Er würde bald reden. In diesem Moment war für mich nur die Information wichtig. Nicht die Motive, die dahinter steckten. Nicht, dass es mich völlig kalt ließ, aber es war in diesem Moment nicht entscheidend. Ob Angst, Verzweiflung, Gier, Neid, Rache oder ein psychischer Defekt - für mich waren diese Motive im Verhör nur Mittel zum Zweck. Wenn ich dann hatte, was ich wollte, überkamen mich ab und zu leichte Zweifel, ob ich zu weit gegangen war.
„Tschetschenien.“ Der Mann flüsterte das Wort.
„Ich komme aus Tschetschenien.“
„Wie heißen Sie.“
„Boris.“
„Boris, wie sind Sie hierhergekommen?“
„Schiff.“
Korelev wurde hellhörig. Mit dem Schiff waren seit einigen Jahren keine Flüchtlingsgruppen mehr gekommen.
„Wie sind Sie mit den Schleppern in Kontakt gekommen?“
„Vadim hat das gemacht.“ Der Mann deutete zum Boden.
„Vadim? Der Tote?“
Der Mann nickte.
„Vadim ist mein Bruder.“
„Und der andere Mann?“
Der Junge zuckte mit den Schultern.
„Weiß nicht. Er hat uns vom Schiff hierher gebracht.“
„Waren noch andere Leute am Schiff?“
„Nein.“
„Woher kannte Vadim den Mann.“
„Vadim und ich hatten Schulden bei dem Mann, weil er unsere Schwester nach Europa gebracht hatte. Sie musste vor ihrem Mann fliehen, weil sie studieren wollte. Der Mann hat Vadim und mir dann angeboten, einen Auftrag zu übernehmen. Damit wären wir die Schulden los gewesen.“ Der Mann sprach leise und abgehakt, als hätte er Angst, dass ihn der andere Mann hörte. Und er hatte ganz bestimmt Angst.
„Was für ein Auftrag ist das?“
„Das hat er nicht gesagt.“
„Solltet Ihr jemanden töten?“
„Ich weiß es nicht.“
„Wie hoch waren die Schulden?“
„Zehntausend Dollar.“ Der Mann flüsterte jetzt fast.
„Haben Sie Vadim getötet?“
„Nein, warum sollte ich!“ Jetzt war die Stimme des Mannes laut und fest.
„Hat der andere Mann Vadim getötet?“
„Ich habe geschlafen. Ich weiß es nicht. Ich bin erst aufgewacht, als die Polizei hier war.“
„Novotny!“, brüllte ich in den Flur. Eine Sekunde später stand der Uniformierte im Türrahmen.
„Ja, Chefinspektor?“
„Haben Sie ein Telefon oder ein Handy oder Funkgerät hier gefunden?“
„Nein, Herr Chefinspektor!“
Dann wandte ich mich wieder an Boris.
„Kommen Sie Boris.“ Ich winkte ihn mit einem freundlichen Lächeln zu mir. Als Boris neben mir stand, legte ich den Arm um seine Schultern. Für den anderen Mann, der uns im Flur sehen konnte, musste der Eindruck entstehen, dass Boris alles ausgeplaudert hatte und derjenige war, der den Jackpot gewonnen hatte. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich die Reaktion des Mannes auf die Szene und war zufrieden. Der Mann stieß einen wütenden Schrei in Richtung Boris aus und versuchte vergeblich die Handschellen abzustreifen. Ich ließ Boris auf einem Sessel im Raum Platz nehmen. Dann ging ich zu dem vor Wut schnaubenden zweiten Russen. Der war wirklich groß, kräftig gebaut und ein Kämpfer. Er sah mehr aus, wie ein Soldat und würde sicherlich nicht leicht zu knacken sein. Zumindest nicht mit bloßen Fragen.
„Novotny, kommen Sie her!“ Kaum hatte ich den Satz ausgesprochen, stand der Beamte neben ihm.
„Ja, Chefinspektor?“
„Novotny, nehmen Sie Boris und fahren Sie mit ihm ins Präsidium. Stecken Sie ihn in die gleiche Zelle wie Schweiger und achten Sie darauf, was die beiden tun. Vielleicht ist das noch wichtig.“
„Und soll ich Ihnen das dann sagen oder einen Bericht schreiben?“
„Novotny, wissen Sie, was einen guten Polizisten ausmacht?“
„Nein?“ antwortete der Beamte fragend, als wüsste nur ich die korrekte Antwort.
„Das sehe ich auch so. Fahren Sie jetzt endlich los. Berger!“
„Ja, Herr Chefinspektor?“
„Sie bleiben noch einen Moment hier bei unserem erregten Freund.“
„Und was soll ich tun, wenn er ausrastet?“
„Berger, was sind Sie? Polizist oder Hausmeister? Bringen Sie ihn dazu, dass er sich benimmt. Ist das machbar für Sie?“
Berger tippte wieder an die Mütze.
„Natürlich, Herr Chefinspektor. Ich wollte nur sicher gehen.“
Ich ging nochmals durch die Wohnung und suchte das Telefon, von dem aus der Anruf gekommen sein musste. Doch wie Schweiger gesagt hatte, war im ganzen Haus kein Handy zu finden. Entweder es war wirklich gut versteckt worden, oder der Anruf musste von außerhalb gekommen sein. Das würde allerdings dann bedeuten, dass das Ganze hier inszeniert und fast so etwas wie eine Falle war. Vielleicht dauerte die Aufklärung des Falles doch etwas länger. Mitten in meine Überlegungen hörte ich Lärm aus dem anderen Zimmer. Der Russe schien Ärger zu machen.
„Berger, sorgen Sie für Ruhe!“ rief ich über meine Schulter hinweg. Der Gruppeninspektor, der offensichtlich jedes Handgemenge vermeiden wollte, hob beschwichtigend die Arme und deutete dem Mann ruhig zu sein. Doch diese Versuche scheiterten kläglich.
„Berger, machen Sie schon!“ Ich ging in das Zimmer mit den beiden Männern zurück Als ich im Türrahmen stand, sah ich Berger zu, der immer noch versuchte den Mann zu beruhigen. Aber die Mittel hätten nicht einmal für ein fünfjähriges Kind ausgereicht.
„Berger, in zehn Sekunden ist der Mann ruhig! Ist das klar!“
„Ja, Chefinspektor! Kommen Sie schon, Mann. Beruhigen Sie sich. Es ist doch alles…“. Berger war auf den Gefesselten zugegangen, hatte aber nicht bedacht, dass nur die Hände gefesselt waren. Als er in Reichweite war, ließ sich der Mann auf den Rücken fallen, schwang gleichzeitig sein rechtes Bein in die Höhe und traf den Beamten genau zwischen die Beine. Berger knickte ein und fiel stöhnend zu Boden. Ich zog blitzschnell meine Waffe und sprang mit einem Satz auf den wild gewordenen Russen am Boden den zu. Der hatte keine Zeit, meinen Angriff abzuwehren. Ich landete mit meinem Knie genau auf seinem Brustkorb und schlug ihm einen harten rechten Schwinger an die Schläfe. Der Kopf des Mannes schlug heftig auf den Boden. Ich war sofort wieder auf den Beinen, packte meinen Gegner am rechten Fuß und drehte ihn mit einem Ruck zu Seite. Der Mann schrie auf und drehte sich auf den Bauch. Sonst hätte ich ihm den Knöchel gebrochen. Ich ließ mich mit dem Knie voran auf den Rücken des Mannes fallen. Wieder bäumte sich der Kerl vor Schmerz auf, aber ich fasste die Haare am Hinterkopf und knallte seinen Schädel fest auf den Boden. Das Krachen des Nasenbeins war die logische Folge. Nach einem erneuten Aufschrei drehte ich den Kopf zur Seite und beugte mich zum Ohr des blutenden und schnaufenden Mannes hinunter.
„Wie heißen Sie?“ Nachdem der Mann nicht antwortete, drückte ich den Kopf nochmals fest gegen den Boden.
„Ich hab Sie gefragt, wie Sie heißen und ich möchte eine Antwort! Jetzt!“
„Dmitri“, röchelte er Mann.
„Hören Sie jetzt ganz genau zu, Dmitri.“ Ich sprach leise und so ruhig, als hätte ich nicht gerade einen hundert Kilo Mann kampfunfähig getreten.
„Typen wie Sie hebe ich mir immer gerne zum Schluss auf. Und wissen Sie warum?“ Ich machte eine kleine Pause und beobachtete das Blut, das dem Kerl aus der Nase rann.
„Weil ich am Ende eines langen Tages gerne einen Schweinehund zur Strecke bringe. Und bei einem bin ich mir fast sicher. Dass Sie kein Flüchtling sind, sondern hier für die ganze Sauerei verantwortlich sind. Ein Schweinehund eben! Sie kommen mit ins Präsidium. Dort werde ich mich mit Ihnen noch ausführlich unterhalten. Sie haben tolle Chancen auf fünfzehn Jahre gesiebte Luft, mein Freund. Und wenn das der Fall ist, werde ich Sie täglich in Ihrer Zelle zum Plaudern besuchen. Ich freue mich schon auf alle ihre Geschichten.“
Der Mann war am Ende seiner Kräfte.
„Ab jetzt höre ich keinen Ton mehr von Ihnen oder ich werde sauer und fange an, grob zu werden. Ist das angekommen?“ Ich interpretierte das röchelnde Grunzen als Zustimmung. Dann stand ich langsam auf und wandte mich dem verletzten Polizisten zu, der sich immer noch am Boden wand und sein bestes Stücke hielt.
„Stehen Sie auf Berger. Bewachen Sie jetzt den Mann. Er wird keine Schwierigkeiten mehr machen.“
„Ich bin verletzt, Chefinspektor, ich muss ins Krankenhaus“, wimmerte Berger.
„In erster Linie müssen Sie jetzt einmal ihren Job machen und nicht wie eine verweichlichte Primaballerina herum jammern. Ins Krankenhaus können Sie nachher auch noch, wenn alles erledigt ist. Ein Tritt in ihre Männlichkeit kann bei Ihnen nicht wirklich Schaden angerichtet haben, oder?“ Ich hasste die Beamten, die nach jeder Schlägerei Krankenstand beantragten.
„Sie haben ja keine Ahnung, wie das weh tut. Da ist sicher was gerissen oder kaputt gegangen. Ich möchte zu einem Arzt. Jetzt.“
„Sie bleiben hier, das ist ein Befehl!“ Ich wurde sauer. Ich wollte nochmals Boris befragen und mich nicht um Bergers Weichteile kümmern.
„Das wird ein Nachspiel haben, Korelev. Ich werde Sie zur Verantwortung ziehen, wenn ich durch ihre Schuld einen Schaden davon trage!“
„Machen Sie das, Berger. Und jetzt bewachen Sie den Mann, bevor ich sie wegen Befehlsverweigerung zur Verantwortung ziehe!“
Ich ging aus dem Zimmer und rief im Präsidium an. Dort wurde mir gesagt, dass der Anruf von einem Wegwerfhandy außerhalb von Schweigers Bleibe gekommen war. Ich gab der Spurensicherung genaue Anweisungen, die nächste Umgebung des Haus auf den Kopf zu stellen und nach dem Handy abzusuchen.
„Berger, kommen Sie her!“
„Ich kann nicht, ich muss den Gefangenen bewachen“, stellte sich Berger stur.
„Ich sag es nicht noch einmal, Berger!“ Meine Stimme klang bedrohlich und es dauerte nicht lange, bis der Polizist im Türrahmen erschien.
„Wer und wann hat die Polizei informiert?“
„Wir erhielten einen anonymen Anruf gegen sieben Uhr dreißig und waren zehn Minuten später hier.“ Von Bergers anfänglicher Sympathie für mich war nichts mehr übrig geblieben. Er ratterte die Information wie eine Maschine herunter und ging wieder. Hätte er geahnt, dass ich genau das von ihm erwartete - lediglich eine sachliche Information - Berger hätte die Antwort sicherlich in einen ausführlichen Gefühlszustand über seine Männlichkeit verpackt, nur um mich zu ärgern.
„Berger, nehmen Sie den Mann und kommen Sie. Wir fahren ins Büro.“
Ich lenkte den Wagen durch den Mittagsverkehr. Es war ein normaler Montagmittag. Der Himmel war wolkenverhangen, die Luft kühl und es roch nach Regen. Berger saß neben mir am Beifahrersitz und grollte still vor sich hin. Er hatte sich vorgenommen Major Kahl Meldung über meine unterlassene Hilfeleistung zu erstatten. Nicht einmal jetzt ließ ich ihn bei dem Krankenhaus, an dem wir gerade vorbeifuhren, aussteigen. Ich blickte in den Rückspiegel und sah darin das zerschundene Gesicht von Dmitri. Der hatte sich scheinbar ein wenig erholt und starrte mich an. Der Mann war gefährlich. Er würde nicht zögern, mich auszuschalten, wenn er die Gelegenheit dazu bekommen würde. Ein Mann, der so auftrat, hatte keinen Grund, sich in ein Lager mit den Illegalen zu legen. Außer, er wurde geschickt, um einen Auftrag zu erledigen. Für mich war Dmitri ein Soldat, ein Söldner oder ein Auftragskiller, der gemeinsam mit Boris und Vadim nach Österreich geschleust wurde. Hatte Dmitri Vadim tatsächlich umgebracht? Wo war dann die Mordwaffe? Oder war er nur ein Aufpasser, sozusagen der zweite Mann, falls der erste Killer versagte? Wir hatten keinen Baseballschläger oder etwas Ähnliches gefunden. Es war also gut möglich, dass Dmitri dem Mörder in der Nacht die Tür geöffnet hatte. Dann musste ich immer noch klären, woher der Anruf kam. Wenn ein Plan hinter der ganzen Sache steckte, dann war es gut möglich, dass jemand sicher gehen wollte, dass der Mord sehr zeitig entdeckt wurde. Aber warum sollte das von Vorteil sein? Und für wen? Ich hatte noch jede Menge Fragen zu klären und wusste nicht, wie viel Zeit ich auf dem Revier dafür haben würde. Jedenfalls würde ich meinen Vorgesetzten und vielleicht sogar einen Anwalt oder schlimmeres im Nacken haben. Ich musste dringend vorher ein paar Antworten bekommen, noch bevor wir das Präsidium erreicht hatten.
„Das ist aber nicht der Weg ins Büro, Herr Chefinspektor? Fahren wir in ein Krankenhaus? Da hinten war doch eines?“ Berger schöpfte Hoffnung.
Ich verkniff mir die Antwort.
„Chefinspektor, was machen Sie?“
„Wir machen einen kleinen Umweg ins Grüne. Ich hab mit Dmitri noch etwas zu klären, bevor ich es vergesse.“
„Das können wir auf der Dienststelle doch auch machen. Sie wissen, dass das…“. Ich unterbrach ihn.
„…gegen die Vorschriften ist. Machen Sie eine Aktennotiz, wenn Ihnen leichter ist, Berger. Gleich unter die unterlassene Hilfeleistung. Und machen Sie eine Kopie fürs Archiv. Abstempeln und gegenzeichnen nicht vergessen.“
„Sie können sich ruhig über die Vorschriften lustig machen, Chefinspektor, aber ich bin sehr gut damit gefahren, wenn ich sie beachte. Sie erleichtern mir den Alltag und regeln klipp und klar, wie man in den gefährlichen Situationen der Polizeiarbeit vorgehen soll. Und das ist gut so.“
„Wiehern Sie ruhig weiter, Sie Amtsschimmel.“ Ich hatte keine Lust auf diese Diskussion und der Rapport bei Major Kahl war mir sowieso schon sicher.
„Chefinspektor, ich mach da nicht mit. Drehen Sie um und machen Sie die Befragung auf der Dienststelle.“ Ich bremste abrupt ab.
„Sie steigen hier aus und warten, bis wir zurückkommen.“
„Das werde ich nicht!“ protestierte Berger. Ich drehte mich zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Raus jetzt, oder ich mach ernst, Berger!“
Wenig später fuhr ich mit Dmitri tiefer in das Augebiet im Osten Wiens. Ich stoppte nachdem wir vom Hauptweg zweimal abgebogen waren, stieg aus und öffnete die hintere Tür. Dmitri ahnte, was auf ihn zukam, war aber nicht bereit, mir die Sache einfach zu machen. Ich zerrte ihn aus dem Auto, führte ihn ein Stück in den Wald und blieb dann stehen.
„Sie können mir jetzt einfach richtige Antworten auf meine Fragen geben, wir steigen wieder ins Auto und fahren zur Dienststelle.“ Ich musterte Dmitri, der mich mit einem herablassenden Lächeln angrinste.
„Oder wir machen dort weiter, wo wir in der Wohnung aufgehört haben. Und glauben Sie mir, Dmitri, ich kann Ihnen dann nicht garantieren, dass Sie diesen Wald noch aus eigener Kraft verlassen können. Und wegen Berger mache ich mir auch keine Sorgen. Dem ist sein Pension wichtiger, als so ein russischer Scheißkerl wie Sie.“
„Synsuka!“
„Auch wenn Sie meine Mutter zu beleidigen versuchen - mich interessiert das gar nicht, Dmitri. Es gibt Hurensöhne, die heute mächtiger sind, als Sie sich vorstellen können.“
Mit dieser Antwort hatte Dmitri nicht gerechnet.
„Ich will von Ihnen wissen, ob Sie Vadim getötet haben.“
Dmitri schwieg lächelnd.
„Wenn ich nicht innerhalb von fünf Sekunden eine zufriedenstellende Antwort bekomme, hänge ich Ihnen den Mord an, egal wer es war. Eins…zwei…“.
„Ich war‘ s nicht.“
„Gut, Dmitri, ich glaube Ihnen. Dann waren es entweder Boris, Schweiger oder ein Unbekannter. Wir sind schon bei drei.“
„Ich weiß es nicht. Ich sollte die beiden zum Haus bringen und dafür sorgen, dass uns niemand sah.“
„Dmitri, wir sind bei vier.“ Ich nahm meine Hand aus der Manteltasche und ballte Sie zu einer Faust.
„Dmitri, wer war es dann!“ Dmitri blickte wütend auf mich.
„Vielleicht muss ich Sie auch bei einem Fluchtversuch erschießen. Überlegen Sie es sich gut.“
Dmitri zögerte.
„Und eins ist fü...“
„Egal, ob ich es war, der Hausmeister oder ein anderer. Es würde nichts ändern.“ Er machte eine kurze Pause.
„Korelev, Sie und Ihre Bullenkollegen sind schon so gut wie tot.“
„Das haben schon viele geglaubt. Ist aber keine Antwort auf meine Frage. Wer hat die Polizei verständigt? Der Anruf kam von außerhalb des Hauses. Wer wusste von Euch?“
„Glauben Sie wirklich, ich bringe den armen Schlucker um und warte dann, bis die Polizei kommt? Für wie dämlich halten Sie mich, Korelev?“
„Sie haben dafür gesorgt, dass der Mörder unbemerkt ins Haus gelangte. Reden Sie, meine Geduld ist am Ende!“
„Du hast gar nichts gegen mich in der Hand, Bulle. Ich sage Dir überhaupt nichts, auch wenn Du mich totschlägst. Aber das wirst Du nicht tun. Ich bin in Null Komma Nichts wieder draußen!“ Aber Du wirst nie erfahren, was Du wissen willst!“
Ich starrte Dmitri wütend in die Augen. Wütend deshalb, weil er nicht unrecht hatte. Ich hatte keinen einzigen Beweis dafür, dass er mit dem Mord etwas zu tun hatte. Jeder picklige Pflichtverteidiger würde ihn innerhalb kürzester Zeit wieder auf freien Fuß bekommen.
„Dann nehme ich Sie eben in Schutzhaft.“ Ich zerrte Dmitri in den Wagen, sammelte einen wütenden Berger ein und fuhr zum Präsidium.