Читать книгу Der Zarewitsch - Martin Woletz - Страница 4
Zwei
ОглавлениеIch saß am Küchentisch und dachte an die Schreie. Mein Blick war auf den braunschwarzen Kreisel in meiner weißen Kaffeetasse gerichtet während ich abwesend mit einem kleinen zerkratzten Löffel darin umrührte. Neben der schlichten Kaffeetasse lag die aufgeschlagene Tageszeitung auf der grünen Tischfläche. Ich hatte die Schlagzeilen des Tages überflogen und war bei einem Artikel über den Aufgriff von Flüchtlingen im Grenzgebiet hängen geblieben. Ich hatte Schwierigkeiten mich zu konzentrieren. Der Einsatz der vergangenen Nacht hatte deutliche Spuren hinterlassen. Mein Blick glitt in die Ferne meiner Erinnerung und plötzlich hörte ich diese verdammten Schreie wieder.
Wir lebten in einer ruhigen Straße am Stadtrand von Plovdiv in Bulgarien. Ich war noch ein Junge. Mein Vater war ein schwer arbeitender Mann gewesen, ehe sich die Situation in unserer Heimat zugespitzt hatte. Er war bei der Miliz und hätte nur noch vier Jahre bis zu seiner Pensionierung gehabt. Meine Mutter war in einer Metallfabrik am Stadtrand am Fließband beschäftigt. Uns ging es für damalige Verhältnisse gut. Bis die Wirtschaft völlig zusammenbrach.
Meine Mutter verlor ihre Arbeit und wurde krank. Die wohlhabenden Menschen, wie der Direktor der Metallfabrik oder einige Stadträte und der Bankdirektor flohen in einer Nacht- und Nebelaktion und überließen die Stadt ihrem Schicksal. Nicht jedoch ohne sich vorher noch die Taschen mit Geld vollzustopfen. Die Metallfabrik war fast der einzige Arbeitgeber und von den Einnahmen durch die Fabrik bestritt die Stadt den größten Teil ihres Budgets. Damals war mit der Hilfe vom Staat nicht zu rechnen. Viele kleinere Städte gingen in dieser Zeit Bankrott und die Menschen versuchten entweder in der Hauptstadt ihr Glück oder schlossen sich Schleppern an, die sie in den Westen bringen wollten. Verbrecher nahmen das Ruder in die Hand. Banden aus dem Ausland, vor allem aus Russland und der Ukraine, versuchten die Situation für sich zu nutzen und lieferten sich untereinander erbitterte Kämpfe. Es war der junge Jurij Jokov, der am Ende den blutigen Unterweltkrieg für sich entschied. Zuerst mischte sich die Miliz nicht ein, denn es war in ihrem Interesse, dass sich die Banden selbst eliminierten.
Doch als der Bandenkrieg vorüber war, wurden die Bewohner Opfer von Jokovs Verbrechern und immer öfter mussten mein Vater und seine Kollegen eingreifen. Doch auf Dauer hatten sie keine Chance. Die Kriminellen waren der örtlichen Miliz zahlenmäßig überlegen und hatten die besseren Waffen. Die Polizisten mussten klein beigeben, wenn sie und ihre Familien in diesem Kampf nicht sterben wollten. Unterstützung aus der Hauptstadt oder vom Militär war nicht zu erwarten. Die Menschen lebten in Angst. Sie wurden erpresst und bestohlen. Die wenigen übergebliebenen einheimischen Geschäftsleute mussten Schutzgeld zahlen. Einige, wie der Bäcker und der Schneider in unserem Viertel, weigerten sich zu zahlen. Sie verschwanden über Nacht und niemand hat sie je wieder gefunden. Immer mehr Menschen verließen meine Heimatstadt.
Doch die Meisten wussten, dass es in nächster Zeit nirgendwo in Bulgarien genug Arbeit und Frieden für einen Neuanfang geben würde. Immer mehr wollten Bulgarien verlassen und nach Westeuropa oder gar nach Amerika auswandern. Jokovs Schlepperbande nutzte die Not der Menschen aus und nahm Ihnen für die Flucht in den Westen ihr letztes Hab und Gut ab. Terror und Einschüchterung regierten nun vor unserer Haustüre.
Ich war zwölf Jahre alt als ich zum ersten Mal diese Schreie hörte. Zuerst waren sie noch weit entfernt. Doch als ich eines Abends nach Hause ging, sah ich einen schwarzen großen Wagen vor einem schmalen dreistöckigen Haus stehen. Vor dem Auto standen zwei Männer in schwarzen Lederjacken an die Motorhaube gelehnt. Sie rauchten und unterhielten sich. Ab und zu lachte einer von Ihnen, als ob sie sich gegenseitig Witze erzählten. Im Erdgeschoß des Hauses befand sich ein Friseursalon. Das Licht brannte und aus der offenen Tür konnte ich laute Stimmen hören. Und diese Schreie! Ich spürte, dass hier etwas vor sich ging, das ich nicht sehen sollte. Bevor mich die beiden Männer am Wagen entdecken konnten, wechselte ich auf die andere Straßenseite. Ich fühlte immer stärker, dass ich einen Bogen um das riesige schwarze Auto und die beiden kräftigen Männer machen sollte. Im Schatten der Hausmauer schlich ich die Straße entlang und lugte immer wieder zum Friseurgeschäft hinüber. Durch die Auslage konnte ich noch zwei Männer in schwarzen Lederjacken erkennen, die mit Stöcken und Fäusten auf einen Mann im Geschäft einschlugen. Ein dritter Mann war von hinten über die Friseurin gebeugt, die immer wieder laut aufschrie. Es schien mir, als würde der Mann die Frau in den Rücken treten. Immer wieder schob er seinen Körper wuchtig vor und zurück. Mit der einen Hand drückte er die hübsche junge Frau nach unten, mit der anderen zog er sie an den Haaren zu sich zurück. Die Frau schrie und weinte, der Mann röchelte nur noch und hustete flach.
Ich erfuhr erst am nächsten Tag von meinem Vater, dass sich der Friseur geweigert hatte, sein Schutzgeld zu bezahlen. Er hatte es diesen Monat nicht geschafft, die verlangte Summe zusammen zu bekommen, denn für einen eleganten Haarschnitt hatte kaum mehr jemand Geld übrig. Sowohl der Friseur als auch sein Frau wurden von den Schlägern vergewaltigt und brutal misshandelt - als Abschreckung für andere, die nicht zahlen wollten oder konnten. An diesem Tag hörte ich auch den Namen Jokov das erste Mal. Jokovs Organisation wurde immer brutaler. Sie erpresste nicht mehr nur die Geschäftsleute, sondern schreckte nun auch vor ganz normalen Menschen, nicht einmal mehr Frauen, Kindern und Alten zurück.
Ich lebte gerne in dem Haus am Stadtrand. Es war aus Holz gebaut und manche Latten waren schon erheblich verwittert. Ich erinnerte mich, dass Vater, mein großer Bruder Plamen und ich schon viele Holzlatten getauscht, die Löcher geflickt und die Außenwände in einem schönen hellen Grün angemalt hatten. Seit dieser Zeit war Grün meine Lieblingsfarbe. Das Grün des Grases hatte ich am liebsten. An der Rückseite des Hauses befand sich eine kleine Terrasse, auf der einige Holzstühle standen, die Vater und ich gebaut hatten. Früher hatten wir im Sommer auf der Terrasse gekocht. Am liebsten aß ich Bob-Tschorba, eine mit Paprika geschärfte Bohnensuppe, Gjuwetsch oder Kavarma, ein Eintopf in vielen Varianten, der in einem Tongefäß zubereitet wird. Dann saßen Mutter, meine Schwester Radka und ich auf den Stühlen und bereiteten gemeinsam das Essen zu. Als Kind war ich selten in der Stadt. Ich hatte im Haus und im Garten alles, was ich mir zum Spielen wünschte. Pflanzen, Holz, Werkzeug - alles, womit Kinder ihrer Phantasie freien Lauf lassen konnten. Ich bastelte mit Vater und Plamen, kochte mit Radka und Mutter und spielte mit meinem besten Freund Simeon Räuber und Gendarm. Wenn Simeon und ich im Haus spielten, versteckten wir oft kleine Steine, die der andere dann mithilfe kleiner Rätsel, die wir auf kleine weiße Zettel kritzelten, finden musste. Simeon neigte dazu, zu schwindeln und wenn ich den Stein fast gefunden hatte, lenkte er mich ab um den Stein erneut zu verstecken.
Ich stand von meinem Stuhl auf und schlurfte in den eleganten Hausschuhen und im Schlafmantel zum Toaster. Ich schob zwei rechteckige Scheiben Roggentoast in die Schlitze und drückte den Schieber nach unten. Mein Blick war auf den Fussboden gerichtet. Ich hatte den Boden am vergangenen Wochenende mit einer Politur eingelassen. Der helle Parkettboden glänzte in der Morgensonne.
Anders als der Boden in dem kleinen grünen Haus damals. Der war dunkelbraun gewesen, fast schwarz, und hatte schon einige Risse. Die Holzdielen waren ganz glatt gehobelt von den tausenden Schritten und Tritten, die in fast siebzig Jahren darauf und darüber getreten hatten. In dem Haus hatten schon meine Großeltern gewohnt. Doch die waren sehr früh gestorben und Vater hatte das Haus übernommen. Vater wollte den Boden herrichten lassen, doch dazu kam er nicht mehr. Er sagte immer, dass dafür später genug Zeit sein würde. Wir hatten nie gedacht, dass es uns einmal so schlecht gehen könnte, dass wir kein Geld mehr für ein bisschen Bauholz haben würden. Unter dem Bretterboden waren einige Löcher und eines davon diente uns als Tresor. Es war ein Familiengeheimnis.
Doch nun waren Vater und Mutter damit beschäftigt die fünf Mäuler mit dem wenigen Geld, das Vater nach dem Zusammenbruch erhielt, zu stopfen. Im Winter oder an verregneten Tagen saß ich die meiste Zeit am Küchentisch und beobachtete das Treiben durch die weißen Spitzenvorhänge im Garten und auf der Straße vor dem Haus. An der Küchenwand hingen zwei Regale, auf denen verbeulte Blechdosen mit Mehl, Zucker, Salz und Zwiebeln standen. In der Ecke neben dem Fenster prangte der schwere gusseiserne Herd, der nicht nur zum Essen kochen diente sondern auch den Großteil des Hauses beheizte. Neben dem Herd stand ein wackeliger Holzschemel, auf dem meine Mutter gerne saß, wenn sie Kartoffeln, Rüben oder Karotten schälte. Vor allem im Winter, wenn es draußen stürmte und der Schnee sich türmte, blieb sie manchmal den ganzen Tag auf diesem Stuhl sitzen, wärmte sich und kochte das Essen. Neben dem Waschbecken ragte ein großer Schrank bis fast zur Decke, in dem sie das Geschirr, die Gläser und das Besteck aufbewahrten und in einer kleinen liebevoll verzierten Holztruhe neben dem Schrank lag fein säuberlich gewaschen und gebügelt die gute Tischwäsche für die Feiertage.
Der Toast sprang aus den Schlitzen. Ich legte die heißen Scheiben auf einen Teller. Dann nahm ich Butter und Erdbeermarmelade aus dem Kühlschrank und trug alles zum Küchentisch. Für ein Frühstück wie dieses hätte ich als Junge viel gegeben.
Wenn ich früher zu großen Hunger hatte, ging ich in das Wohnzimmer, setzte mich auf den Boden und drehte den Fernseher auf. Heute kam es mir eigenartig vor, dass wir zwar manchmal nicht genug zu essen aber einen Fernsehapparat hatten. Wenn ich mich auf die Geschichten im Fernseher konzentrierte, war der Hunger wieder weg. Ich versuchte mir jedes Wort und jedes Detail sofort zu merken und manchmal konnte ich noch viele Wochen später winzige Details oder auch ganze Passagen aus den Sendungen wiedergeben. Die Korelevs waren eine der ersten Familien in ihrem Viertel gewesen, die einen Fernseher bekommen hatten. Eines Tages war Vater mit dem Gerät in der Haustür gestanden und hatte über das ganze Gesicht gestrahlt. Er hatte eine Serie von Einbrüchen aufgeklärt und der Besitzer eines der betroffenen Geschäfte hatte ihm zum Dank dafür einen nagelneuen Fernsehapparat geschenkt. Es war das erste Mal, dass Vater gegen Jokovs Organisation etwas unternehmen musste und gewinnen konnte. Viele Menschen hielten Vater danach für einen Helden und oft kamen fremde Menschen zu unserem Haus um uns Obst, Fleisch oder andere Dinge zu schenken.
Doch oft hatten wir nur ein Stück schwarzes Brot und ein paar Rüben für den ganzen Tag zur Verfügung. Wir hätten natürlich im Garten Obst und Gemüse anbauen können. Wir hatten auch damit begonnen Salat, Karotten, Radieschen, Gurken und Kartoffeln zu pflanzen. Einige Zeit später standen plötzlich drei bedrohlich wirkende Männer in schwarzen Lederjacken in unserem Garten. Als ich diese Männer sah, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Ich erinnerte mich an jenen Abend ein paar Monate davor, an dem ich am Friseursalon vorbeigeschlichen war. Vater und Mutter waren gerade dabei, Kartoffeln zu ernten um sie am Abend mit ein paar Karotten und Kräutern zu einem schmackhaften Eintopf zu verkochen. Die Männer sprachen kurz mit ihnen. Dann nahmen sie ihnen Schaufel und Hacke aus der Hand und verwüsteten damit den Gemüsegarten. Es war mein erster direkter Kontakt mit Jokovs Männern. Vater hatte Mutter ins Haus geschickt. Sie sollte nicht mit ansehen müssen, wie die Männer wüteten. Außerdem wusste Vater, was diese Bastarde vielen Frauen angetan hatten. Er wollte Mutter aus dem Blickfeld der Verbrecher haben. Vater aber blieb stehen, wo er war. Ich sah durch das Fenster, wie die Männer im Garten tobten, aber Vater zuckte mit keiner Wimper. Er blickte starr auf das Haus, als ginge ihn die ganze Aktion nichts an. Zweimal trafen die Schläger Vater mit der Schaufel am Bein, doch auch das schien er nicht zu spüren. Als die Männer alles zerstört hatten, warfen sie die Gartengeräte vor Vaters Füße und verließen den Garten. Jokov wollte die Bewohner zwingen in seinen Läden zu kaufen. Jeder, der versuchte sich selbst zu versorgen, bekam Besuch von den Männern des „Zarewitschs“, wie er sich mittlerweile nannte. Nachdem nun auch wir Besuch bekommen hatten, mussten auch wir die meisten unserer Lebensmittel in seinen Läden kaufen. Selbstverständlich zu überhöhten Preisen und in schlechter Qualität. Das führte dazu, dass wir manches Mal sogar hungern mussten. Wir wurden anfällig für Krankheiten. Mutter hatte am meisten unter den Entbehrungen zu leiden, doch auch Vater wirkte nach wenigen Monaten ausgezehrt. Natürlich gaben die Eltern zuerst uns Kindern und nahmen sich nur, was übrig blieb. Doch das war nie genug.
Ich stand auf um ein Messer aus der Küchenlade zu holen. Auch nach so langer Zeit waren die Bilder in meinem Kopf frisch. Ich hatte nichts vergessen. Es fiel mir leicht, mir Dinge zu merken. Manches hätte ich lieber vergessen. Vielleicht war das ein Fehler von mir, dass ich alles bis ins Detail verfolgte, mich überall hineinbohrte, bis es nichts mehr zu finden gab. Nur so war es mir möglich, mich festzulegen, einen Weg zu finden, ein Ziel zu erreichen. Bevor ich mich für eine Lösung entschied, musste ich möglichst alles wissen, was es zu diesem Thema zu wissen gab. Das war wie ein Zwang. Ich stand vor der geöffneten Bestecklade und blickte auf die funkelnden Dessertmesser. Ich nahm eines heraus und ging zu meinem Platz zurück.
Neben uns wohnte mein bester Freund Simeon. Sein Vater hatte sich mit den Verbrechern arrangiert und war zum Informanten geworden. Als die Verbrecher schließlich auch von uns Schutzgeld verlangten, verriet Simeon seinem Vater, dass unter den Dielen in unserer Küche ein Geheimfach war. Ich hatte Simeon einmal davon erzählt. Ich wusste damals nicht genau, was da drinnen war. Ich bot ihm an unseren Tresor zu nutzen, falls Simeon einmal etwas verstecken wollte. Ich hatte meinem besten Freund helfen wollen und dann verriet er uns! Wieder tauchte ein Bild in meinem Kopf auf, detailliert, wie wenn es gerade geschehen würde.
Eines Abends bog ich in meine Straße ein und blieb wie versteinert stehen. Vor unserem Haus stand ein großer schwarzer Wagen, wie ich ihn vor dem Friseursalon schon einmal gesehen hatte. Zwei Männer mit schwarzen Lederjacken lehnten auf der Motorhaube und rauchten genüsslich eine Zigarette. Ich ging langsam den Zäunen entlang auf die Männer und den Wagen zu. Bevor sie mich entdeckten, kletterte ich rasch über einen Gartenzaun und rannte durch die Gärten bis zu unserem Haus. Dann schlich ich mich an die Terrassentür heran. Der Schweiß war mir auf der Stirn gestanden und in meinem Kopf tauchten wieder die Bilder vom Friseur und dessen Frau auf. Ich hatte Angst davor, Vater blutend zwischen den Schlägern zu sehen und Mutter weinend und schreiend in der Gewalt eines anderen schwarzgekleideten Verbrechers. Dann lugte ich vorsichtig um den Türstock und sah, dass Mutter neben dem Herd saß und weinte. Vater stand einen Schritt vor ihr und hatte eine blutende Wunde an der Stirn. Drei schwarze Männer standen in unserer Küche. Von Plamen und Radka war nichts zu sehen. Sie waren wahrscheinlich unterwegs auf der Suche nach Essbarem. Die Männer brüllten meine Eltern an und schlugen Vater immer wieder ins Gesicht. Dann hörte ich, wie sie nach dem Geheimfach fragten. Sie sagten, sie hätten von einem Nachbarn gehört, dass ein Geheimfach im Haus sein musste. Ein Blitz fuhr durch meinen Körper! Ich bekam erneut einen Schweißausbruch und meine Finger verkrampften sich vor Zorn. Simeon! Ich hatte selbst nur durch Zufall von dem Geheimfach erfahren. Ich war mir sicher, dass weder Vater noch Mutter ahnten, dass ich von diesem Versteck etwas wusste.
Ich wollte Vater und Mutter irgendwie helfen, doch ich konnte nichts tun. In diesem Moment drehte Vater seinen Kopf und sah mich direkt an ohne, dass die Männer davon etwas mitbekamen. In Vaters Blick lagen Sorge, Trotz und Kampflust. Und noch etwas las ich aus dem Augen meines Vater: Ich sollte ruhig sein und verschwinden.
Selbst in scheinbar ausweglosen Situationen wie dieser war Vater immer stark gewesen. Er hatte sich niemals einschüchtern lassen, nie Angst gezeigt oder gar resigniert. Mutter war nicht ganz so stark. Sie hatte Angst um ihren Mann und die Kinder, doch niemals um das Haus, Geld oder sonstige Dinge. Und diese Angst konnte man in ihrem Gesicht entdecken. Ich musste tatenlos mit ansehen, wie die Männer den Dielenboden aufrissen und das Geheimfach plünderten - ein paar Dokumente und Mutters letzter Schmuck waren darin. Kaum mehr etwas von Wert, denn das Meiste hatten wir bereits zu Geld machen müssen, um Lebensmittel zu kaufen. Vater hatte das Versteck verraten, um seine Familie zu schützen. Unser Leben für ein bisschen Geld zu riskieren, wäre Vater nie in den Sinn gekommen. Doch Vater hatte nicht damit gerechnet, dass es schlimmer kommen würde.
Da waren sie! Die Schreie meiner Mutter. Mir wurde plötzlich glühend heiß und meine Hände klammerten sich fest um den Griff des Buttermessers. Ich schwitzte stark und der Schweiß rann über mein Gesicht. Mein ganzer Körper war auf einmal schweißgebadet. Laut und deutlich hörte ich meine Mutter schreien! Ich hörte sie immer wieder. Selbst im Schlaf. Immer noch, fast jede Nacht. Ganz deutlich. Ich wünschte mir diese Schreie endlich vergessen zu können!
Ich presste die Butter unbewusst so fest auf den Toast, dass er zerbrach und an meiner linken Handfläche kleben blieb. Ich hatte mir in den letzten Jahren immer wieder einzureden versucht, dass damals jeder um sein Überleben kämpfte. Jeder musste seinen ganz eigenen Weg finden, um am Leben zu bleiben und nicht als namenloses Opfer zu verrecken. Das traf nicht nur auf uns zu, das traf auch auf Simeon zu. Ich hatte wirklich versucht, Simeon vor mir selbst zu verteidigen. Dass auch er nur überleben wollte. Aber eben nicht so stark war wie etwa mein Vater. Dass es keine Absicht von ihm war. Dass er eben nicht anders konnte. Doch ich konnte seinen Verrat nicht akzeptieren. Und Simeon hatte uns verraten. Schon als Kind konnte ich bei Verrat nicht über meinen Schatten springen.
Ich war ein kräftiger, intelligenter Junge mit schwarzen Haaren, grünblauen Augen und einer von bereits nur wenigen Sonnenstrahlen braunen Haut. Ich galt als nett und wohlerzogen. Ein lieber, hübscher Junge. Doch so hübsch und lieb ich auch bis zu jenem Tag gewesen sein mochte, dieser Verrat veränderte mich. Wegen dieses Verrats musste Mutter schreien und weinen und Vater verlor fast den Verstand. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich wütend, dachte an Vergeltung und beschloss Rache für meine Familie zu nehmen. Simeon musste dafür büßen. Ich dachte lange nach und spielte viele, nein – ich spielte alle Möglichkeiten zur Rache durch. Ich hatte Simeon seit dem Verrat nicht mehr gesehen. Simeon war verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Doch dann fand ich ihn in der Nähe des Bahnhofs, als er mir mit einem Paket Schokolade und einer Stange Zigaretten entgegenkam. Möglicherweise war das sogar der Lohn für den Verrat an uns. Simeon wollte flüchten als er mich sah. Doch ich war schneller. Ich jagte Simeon. Ich jagte ihn so, wie ein Wolf einen Hasen jagte. Ich holte ihn ein, verpasste ihm einen Faustschlag und ließ ihn entkommen. Ich gab ihm einen kleinen Vorsprung, jagte ihn, fing ihn, schlug wieder auf ihn ein und ließ ihn wieder kurz entkommen. Auf diese Weise verfolgte ich ihn durch die Stadt. Ich stellte ihn dort, wo viele Menschen waren, wo uns jeder sehen konnte, verdrosch ihn und schrie dabei laut:
„Verräter! Du dreckiger Verräter!"
Das machte ich über eine Stunde lang. Bis Simeon nicht mehr konnte. Bis mein bester Freund blutend und weinend mit zerfetztem Hemd und halb heruntergezogener, angepinkelter Hose vor mir im Dreck lag. Doch auch meine Kräfte waren verbraucht. Ich war müde, meine Finger und Arme taten weh und mein Magen knurrte. Ich stand über meinem einstmals besten Freund, der zu einem dreckigen, miesen Verräter geworden war und hatte mir meine ganze Wut war aus dem Leib geprügelt. Ich war mir sicher gewesen, dass mir diese Hasenjagd Genugtuung geben würde. Doch auch wenn Simeon jetzt vor mir im Dreck wimmerte, nichts davon konnte gutmachen, was Simeon meiner Familie angetan hatte. Es war kein Triumph. Ich fühlte mich leer und alleine. Ich war noch ein halbes Kind und hatte gerade meinen besten Freund verloren.
Von diesem Tag an änderte sich meine Welt grundlegend. Jokovs Männer sah ich nun nahezu täglich. Unsere Straße stand jetzt unter deren Beobachtung. Das hinterließ auch in unserer Familie Spuren. Wir konnten nicht mehr so tun, als ginge uns das alles nichts mehr an. Wir mussten Farbe bekennen. Entweder wechselten wir wie Simeon auf Jokovs Seite oder wir mussten ihn bekämpfen. Dazwischen gab es nichts.
Wir entschieden uns für den Widerstand, versuchten dennoch nicht aufzufallen und den Schlägern keinen Grund zu geben, ihre gefürchteten Einschüchterungsaktionen gegen uns weiter durchzuführen. Neu war auch, dass Vater und Plamen oft erst spät in der Nacht nach Hause kamen. Als Plamen achtzehn Jahre alt wurde, trat er der Miliz bei. Gegen Mutters Willen. Sie hatte verständlicherweise Angst. Vater und Plamen gingen nach dem Dienst ins Kaffeehaus. Was dort genau geschah, wusste ich nicht. Das erfuhr ich erst einige Monate später.
Es kam immer öfter zu kleinen Zwischenfällen zwischen den Widerständlern und Jokovs Organisation. Ab und zu ging einer von Jokovs schwarzen Wägen in Flammen auf. Ein anderes Mal gab es Brandanschläge gegen Lokale und Treffpunkte von Jokovs Männern. Aber es erfolgten auch direkte Angriffe gegen Jokovs Männer. Widerstand formierte sich und das blieb nicht ohne Folgen. Der Zarewitsch ließ für jedes zerstörte Auto ein Wohnhaus in Flammen aufgehen, für jede Attacke gegen einen seiner Männer starb ein Milizionär. Der Widerstand konnte nur bestehen, weil jede Beute, die gemacht wurde direkt an die Bevölkerung zurückfloss. Ohne diese Robin-Hood-Taktik wären sie alle verraten worden.
Mit achtzehn Jahren beschloss ich auch zur Miliz zu gehen. Ich hatte ein Gespräch zwischen Plamen und Vater belauscht und wusste daher, dass die Miliz und die Widerstandsbewegung eng miteinander zusammenarbeiteten. Jokovs Männern war natürlich bekannt, dass die Korelevs bei der Miliz waren. Aber sie wusste nicht, dass wir auch die Anführer des aktiven Widerstandes waren. Als Milizionäre schauten wir tagsüber weg, wenn Jokovs Männer ihre Verbrechen verübten. Als Widerstandskämpfer jagten wir sie in der Nacht und fügten Ihnen Schaden zu, wo wir nur konnten. Dieses Doppelleben war unsere Überlebensgarantie. An meinem ersten Arbeitstag weihte mich Vater in das Geheimnis ein. Als Zentrale der Widerständler diente das Kaffeehaus, in dem Informationen und Waffen weitergeleitet wurden. Über mehrere Jahre gelang es uns, Jokov zu schaden. Wir raubten Ihnen Waffen und Geld, stahlen Drogen und Fahrzeuge und töteten einige Männer des Zarewitschs. Wir wurden ihm so lästig, dass sich schließlich Jokov höchstpersönlich einschaltete und zum Gegenschlag ausholte. Er fiel in einen Blutrausch, tötete Männer und Frauen, die er für Widerstandskämpfer hielt, ohne mit der Wimper zu zucken und schaffte es schließlich, den Widerstand zu brechen. Durch diese Racheaktionen quittierten einige unserer Kollegen den Dienst bei der Miliz, weil es für sie und ihre Familien zu gefährlich wurde. Der eine oder andere wechselte sogar die Seiten, ließ sich bestechen oder von den Banden als Spitzel oder Schläger anheuern. Wieder kam in mir dieses Gefühl des Verraten werden auf wie damals bei Simeon. Aber diesmal ging es nicht nur um Geld oder Schmuck sondern ums nackte Überleben. Die Miliz in unserer Heimatstadt stellte für die Verbrecher kaum mehr eine ernstzunehmende Gefahr dar. Sie bestand nahezu nur noch aus uns und unseren besten Freunden. Damit war für den Zarewitsch auch klar, dass wir zu seinen Feinden gehörten. Und damit wuchs auch die Gefahr für uns täglich. Nach den nächsten erfolgreichen Coups des Widerstandes lag eine eigenartige Stille über der Stadt. Es war die Ruhe vor dem Sturm. Für Jokov waren die Korelevs zum Ärgernis geworden. Und nun begann Jurij Josifowitsch Jokov uns gezielt zu jagen.