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Fünf

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Der schwere Mahagonitisch war mit weißen Damasttüchern gedeckt. Die goldenen Kerzenständer ragten aus den unzähligen Silberschalen und Silbertabletts hervor auf denen die teuersten Delikatessen angerichtet waren. Josef Iwanowitsch hatte seine Clanchefs versammelt. Es waren dreizehn Jahre vergangen, seitdem in dieser Runde Alexander Poroschenko den goldenen Löffel abgegeben hatte. Der Pate musste schwere Entscheidungen treffen und er hatte sie getroffen. Josef Iwanowitsch war in diesen dreizehn Jahren ein anderer Mensch geworden. Seine Frau und sein älterer Sohn waren tot, nur Jurij war ihm noch geblieben. Er war sein ganzer Stolz gewesen, ein würdiger Nachfolger, dem er das Imperium übergeben wollte. Jurij hatte ihn nie enttäuscht. Er hatte die zweite Route für den Menschenhandel erfolgreich aufgebaut und mehrere andere Clans im Ausland übernommen. Josef Iwanowitschs Geschäfte hatten der Familie Millionen Dollar und Euro gebracht. Sie waren nahezu unangreifbar geworden. Der Junge kam ganz nach seinem Vater.

Doch vor zwei Wochen brach die Welt des Josef Iwanowitsch, die Welt des größten Unterweltbosses östlich der Donau zusammen. Er musste erfahren, dass sein einziger und geliebter Sohn einen folgeschweren Fehler begangen hatte. Er hatte Menschen vertraut, die ihn belogen und hintergangen hatten. Wenn man seinen Mitarbeitern nicht mehr vertrauen konnte, war eine Organisation verwundbar geworden. Jederzeit konnte ein Angriff auf die Familie erfolgen. Jurij hatte einen Zeugen am Leben lassen. Und noch dazu einen Zeugen, an den im Moment niemand aus der Organisation herankam. Er hatte sich außerhalb des Einflussbereiches von Josef Iwanowitsch niedergelassen und konnte dort in aller Öffentlichkeit leben. Auch wenn das Jahre her war, gab es einen Umstand, der Josef Iwanowitsch zum Handeln zwang: der Zeuge war ein ehemaliger Widerstandskämpfer in Bulgarien gewesen und jetzt wieder zu einem Polizisten geworden, zu einem Mafiajäger. Josef Iwanowitsch hatte zwei Wochen mit sich gerungen, doch er konnte nicht anders. Er musste durchgreifen, musste sein Lebenswerk schützen. Sein Lebenswerk war das Einzige, was ihm – außer Jurij - noch geblieben war. Was nach seinem Tod damit geschehen würde, war ihm nie gleichgültig gewesen. Doch nun hatte alles keine Bedeutung mehr. Er hatte versagt, würde das Unternehmen nicht in der Familie weitergeben können. In seiner Welt ging es immer ums Überleben. Oft fühlte er sich wie in einem Rudel wilder Tiere. Er war der Leitwolf, umgeben von jungen hungrigen Wölfen, die nur darauf warteten, den Leitwolf töten und das Rudel übernehmen zu können. Noch hatte er die Kraft, sich gegen die Jungen durchzusetzen. Doch nun war das letzte Jungtier im Rudel, der eigentliche Nachfolger, zur Belastung für das Rudel geworden. Er musste seinen Sohn, seinen Nachfolger töten, wenn er nicht selbst getötet werden wollte. Er musste die Clanchefs zusammenholen, Stärke demonstrieren, auch wenn er nun seinen zweiten und letzten Sohn opfern musste um überleben zu können. Um den Clanchefs zu zeigen, wer noch immer das Rudel anführte. Er durfte keine Schwäche zeigen! Josef Iwanowitsch zerriss innerlich, als er diese Entscheidung traf. Er verzweifelt, dann heulte er laut und lang, schauerlich wie ein alter sterbender Wolf in die Nacht.

Es sollte eine große Feier werden. Niemand würde wissen, was er tatsächlich vorhatte. Somit konnte er sich selbst und die Firma schützen. Wenn das erledigt war, würde er sich den Verräter und anschließend den Zeugen, diesen beschissenen, verfluchten bulgarischen Bullen vornehmen.

Die Creme de la Creme der russischen Unterwelt labte sich ausgiebig. Josef Iwanowitsch hatte ihnen eine wichtige Entscheidung angekündigt. Sie ahnten, dass Jurij Josifowitsch nun die Geschäfte übernehmen würde und freuten sich insgeheim, dass die Übergabe ohne Blutvergießen über die Bühne gehen würde. Es war ein Grund zum Feiern, denn mit Jurij Josifowitsch an der Spitze würde die Macht der Familie weiter wachsen. Davon waren die Clanchefs überzeugt. Und mehr Macht für die Jokovs bedeutete mehr Sicherheit für jeden Einzelnen von ihnen.

Jurij hatte ebenfalls gegessen und bereitete sich nun innerlich auf die große Überraschung vor. Er war sich sicher, dass ihm sein Vater heute das Imperium übergeben würde; er würde nicht darum kämpfen müssen. Das war gut. Nun konnte er für immer zurück nach Russland. Das Land, das er so liebte, weil er hier aufgewachsen und groß geworden war. Heute Abend wollte er noch in seinen alten Club gehen und feiern. Nach der Feier würde er dann die Geschäfte übernehmen und sich endlich auf seine Weise um die Miliz und die Politiker kümmern, die Jagd auf ihn und seinen Vater gemacht hatten. Er würde ein Exempel nach dem anderen statuieren und die Gegner vernichten.

Jurij nahm einen großen Schluck Wodka aus dem Kristallglas und goss sich wieder nach. Er blickte in die Runde und musterte die Clanchefs. Wie vor dreizehn Jahren saßen sie um den Tisch, schlugen sich den Bauch voll und fuhren dann wieder in ihre Provinzen. Tausende Kilometer weit weg um die Geschäfte der Jokovs zu überwachen. Aber wer wusste schon, was sie wirklich taten? Vielleicht stopften sie sich auch selbst die Taschen voll und gaben nur einen Bruchteil der Einnahmen weiter? Vater hatte immer seine Kontrollen gemacht und es war nie etwas vorgefallen. Aber der Mann war jetzt alt, fast achtzig Jahre, und vielleicht waren die Clanchefs schon zu selbständig geworden. Jurij dachte nach und kam zu dem Schluss, dass er die Kontrolle ausweiten würde. Ihn würden sie nicht bescheißen können. Seinen Vater vielleicht, doch ihn nicht. Er würde sie gnadenlos töten, wenn sie sich auf seine Kosten ein schönes Leben machen sollten. Das schwor er sich, als er das nächste Glas Wodka leerte. Sein Cousin hatte einen Toast auf die Familie ausgebracht und alle Anwesenden hatten sich erhoben. Als Jurij in die Runde blickte, kam ihm irgendetwas ungewöhnlich vor. Sein Vater hatte den Platz an der Stirnseite, dann folgten links und rechts der Tafel die Clanchefs. Jurij hatte den Platz gegenüber seinem Vater. Irgendwie hätte Jurij die Sitzordnung anders gestaltet, aber es war egal. Schließlich sollte noch am selben Abend sein Platz jener an der Stirnseite sein. Und nur darauf kam es an.

"Der heutige Tag wird ein entscheidender Tag für unser Unternehmen." Josef Iwanowitsch hatte sein Glas erhoben und mit seiner Gabel dagegen geschlagen. Es war Zeit für seine Rede.

"Ihr wisst, dass es an der Zeit ist, die Weichen für uns alle neu zu stellen. Natürlich fragt ihr euch, ob der alte Mann an der Spitze bleiben wird. Natürlich fragt ihr euch, ob Jurij Josifowitsch mein Nachfolger wird. Natürlich fragt ihr euch, warum wir heute hier zusammen sitzen."

Er blickte in die Runde und sah in die angespannten Gesichter seiner engsten Freunde. Als er das Gesicht von Jurij erblickte, blieben seine Augen an ihm hängen.

"Unsere Organisation ist groß geworden, weil wir immer in der Lage waren, unsere Freunde zu überreden mit uns zu arbeiten. Wir haben unsere Feinde bezahlt um für uns zu arbeiten. Nur von einigen wenigen Unbelehrbaren mussten wir uns auf Dauer trennen. Das waren jene, die wissentlich oder unwissentlich gegen uns gearbeitet oder die Organisation dadurch gefährdet haben. Ihr erinnert Euch an Alexander Poroschenko? Ich habe ihn wirklich geliebt."

Jurij hörte seinem Vater genau zu. Wieder stieg eine unbewusste Ahnung in ihm hoch, dass diese Feier nicht ganz so ablief, wie er es sich schon oft in seinen Gedanken vorgestellt hatte. Warum musste er jetzt die alte Sache mit Alexander wieder ausgraben? Jurij versuchte seinem Vater zu folgen, doch er verstand nicht, warum er an diesem Tag von Menschen sprach, die Fehler begangen hatten und dafür mit ihrem Leben bezahlen mussten. Wenn es aber schlussendlich dazu führte, dass er in wenigen Augenblicken von seinem Vater zum Oberhaupt der Firma ernannt werden würde, sollte es auf den genauen Wortlaut in der Laudatio nicht ankommen.

"Ich hatte beschlossen, Jurij Josifowitsch zu meinem Nachfolger zu ernennen und ich erwarte, dass ihr alle ihm folgt und euer Leben für ihn gebt."

Jurij schluckte. Nun war es soweit! Sein Vater hatte die Worte ausgesprochen, auf die er seit Jahren gewartet hatte. Er war so aufgewühlt und begeistert, dass er die kommenden Worte kaum mitbekam.

"Umso schlimmer ist es für mich, als ich vor kurzem erfahren musste, dass ausgerechnet Jurij dafür verantwortlich ist, dass ein gefährlicher Zeuge am Leben gelassen wurde. Dieser Zeuge könnte unserer Organisation erheblichen, massiven Schaden zufügen."

Die Stimmung am Tisch kippte. Josef Iwanowitsch sprach die Worte ganz leise, bedeutsam und langsam aus. Wieder blickte er durch die Runde. In den Gesichtern der Männer stand Furcht, teilweise blankes Entsetzen, denn es war ihnen allen klar, dass Josef Iwanowitsch nun nicht anders konnte, als seinen Sohn zu bestrafen. Jurij selbst war versteinert. Er saß auf seinem Stuhl, fixierte seinen Vater mit seinen Augen und begriff kaum, was hier gerade geschah.

"Nicht nur die Tatsache, dass du, Jurij Josifowitsch, uns durch deine Leichtsinnigkeit in große Gefahr gebracht hast, sondern auch die Art und Weise, wie ich es erfahren musste - nämlich durch den Verrat eines deiner eigenen Männer an Dir – lässt mir keine andere Wahl!"

Als er das letzte Wort gesprochen hatte, zog er eine Waffe aus seinem Sakko und richtete sie auf seinen Sohn. Die Männer, die um die Tafel saßen, sprangen wie von der Tarantel gestochen von Ihren Stühlen auf und versuchten sich einigermaßen in Deckung zu bringen. Nur Jurij war sitzen geblieben und sah seinem Vater ins Gesicht.

"Willst Du mich jetzt erschießen Vater? Ist es das, was Du beschlossen hast? Du alter Narr! Wenn Du mich erschießt, sind die Familie Jokov und alles, was Du und ich aufgebaut haben, verloren. Du hast keinen Schutz mehr und diese Hyänen... -", er deutete auf die Oberbosse, die mit offenen Mäulern hinter ihren Stühlen standen oder sich in Türnischen pressten, "...- werden Dich noch heute in der Luft zerreißen! Du wirst noch miterleben, wie Dein Lebenswerk auseinandergerissen wird, und erst dann werden Sie Dich in der Gosse verrecken lassen." Jurij war langsam aufgestanden. Er hatte jeden Muskel angespannt und fixierte nun den Zeigefinger seines Vaters, der um den Abzug gebogen war. Die Hand seines Vaters zitterte leicht. Sobald er nur ein Zucken sah, würde er sich in Deckung bringen. In seinem Kopf pochte das Blut. Fieberhaft überlegte er einen Fluchtplan. Er blickte aus den Augenwinkeln zu den Türen und Fenstern des Saales und versuchte die Entfernungen zu den einzelnen Öffnungen abzuschätzen. In jeder Richtung waren es weniger als drei Meter bis er ein vorläufiges Versteck finden konnte. Sein Vater hatte den Ablauf offensichtlich genau geplant und ihm die Flucht so schwer als möglich gestaltet. Nun wurde ihm die Sitzordnung auch klar. Dieser verfluchte alte Mann!

"Das ist mir egal! Ihr habt alle jahrzehntelang von meinen Erfolgen und Entscheidungen profitiert! Ihr habt Euch die Taschen gefüllt und Euch und Euren Vertrauten ein schönes Leben gemacht. Damit ist Schluss! Ein für alle Mal! Ich habe es satt und werde das alles hier und jetzt beenden!" Josef Iwanowitsch hob den Revolver unmerklich und zielte direkt auf das Herz seines Sohnes. Auch er war komplett angespannt und musste alle Kraft, die noch in seinem alten Körper steckte, aufwenden, um die Waffe einigermaßen ruhig zu halten. Zwischen ihm und seinem Sohn lagen höchstens sieben oder acht Meter. Der Alte war zwar kein guter Schütze, aber auf diese Entfernung würde er ihn in jedem Fall treffen. Und wenn sein Sohn nicht nach dem ersten Schuss tot war, dann musste eben ein zweiter oder sogar dritter Schuss her. Josef Iwanowitsch wusste, dass es kein Zurück mehr gab. In dem Augenblick, in dem er die Waffe gegen seinen Sohn erhoben hatte, wurden sie zu Totfeinden. Und er wusste auch, dass er es war, der sterben würde, wenn er Jurij nicht ausschalten konnte. Jurij würde keine Skrupel haben, seinen Vater genauso kalt abzuknallen, wie er schon seinen Bruder getötet hatte. Er selbst hatte ihn so erzogen.

"Vater, nimm die Waffe runter und lass uns reden. Wir können die Sache aus der Welt räumen. Ich hatte keine Ahnung davon, dass es einen Zeugen gibt. Wofür überhaupt einen Zeugen und wer ist er?"

"Du hast einen Mann laufen lassen, der Dich in Bulgarien bekämpft hat. Sein Name ist Konstantin Korelev. Erinnerst Du Dich an Ihn?"

Natürlich erinnerte sich der Zarewitsch an die Korelevs. Den Vater, den Bruder und den Onkel hatte er noch im Kampf getötet, die Mutter und die Schwester hatte er seinen Männern überlassen und Konstantin selbst mit den Illegalen wegbringen lassen. Seine Leute hatten ihm nichts davon gesagt, dass er überlebt hatte. Im Gegenteil, sie hatten ihm bestätigt, dass er tot war. Sie hatten ihn belogen. Seine eigenen Leute hatten ihn belogen! Eigentlich hatte ihn nur einer belogen. Die anderen hatten geschwiegen. Das war eine Schande und nun verstand er seinen Vater. Er selbst würde jeden töten, der einen solchen Fehler zuließ. Eine ungeheure Wut stieg in ihm hoch.

"Ja, ich weiß, wer Korelev ist. Meine Leute haben ihn mit den anderen Illegalen mitgenommen und am Ziel angeblich liquidiert. Daraufhin haben wir den Endpunkt verlegt und damit war Ruhe."

"Ja, seitdem war Ruhe, Jurij. Aber wie lange noch. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Bulgare in der Lage ist nach seiner Familie zu suchen und uns dann ein ganzes Heer von Milizbeamten und Soldaten auf den Hals hetzt."

"Ich habe Dir immer wieder gesagt, Du musst mit diesen Aufwieglern kurzen Prozess......"

"Halt den Mund, Jurij", fiel ihm sein Vater ins Wort.

"Du willst immer Krieg führen! Du bist ein Idiot! Krieg schwächt zwar den Gegner, aber wir werden auch Verluste erleiden. Und niemand weiß, wer am Ende siegen wird - und zu welchem Preis."

Jurij war es in der Zwischenzeit gelungen, eine Ecke des Tischtuches in seine Finger zu bekommen. Von den Männern war keiner nahe genug, dass er sich hinter ihm verstecken konnte. Er hätte jeden der Männer - egal wie nahe verwandt oder auch nicht - jederzeit als Schutzschild missbraucht. Sein Plan war simpel.

"Vater, ich bringe das in Ordnung und dann können wir alles Weitere besprechen. Wenn ich tot bin, ist alles vorbei. Siehst Du das nicht ein?" Jurij versuchte seinen Vater einzuwickeln und Zeit zu gewinnen. Er hatte vielleicht zwei oder drei Sekunden für seine Flucht. Er durfte in keiner Phase zögern. Ihm war klar, dass ihn sein Vater töten würde. Anderenfalls würde Jurij seinen Vater töten. Das wusste der auch.

"Komm Vater...gib mir die Waffe... oder gib sie einem der Männer. Wir klären das. Ich kümmere mich um den Zeugen und um die Verräter. Ok, Vater?"

Noch bevor Josef Iwanowitsch antworten konnte, hatte der Zarewitsch das Tischtuch gepackt und mit beiden Händen hochgerissen. Geschirr und Essen flogen durch die Luft und prasselten auf seinen Vater nieder, der kurz die Hand schützend vor den Körper hielt. Genau diesen Augenblick hatte Jurij abgewartet und hechtete mit zwei gewaltigen Sprüngen zu der Türe, die hinter ihm in einen kurzen Gang führte. Noch bevor sein Vater begriffen hatte, was geschehen war, hatte Jurij die Türe aufgerissen und rannte in den Gang. Hinter ihm krachte ein Schuss und er hörte das Holz des Türrahmens splittern. Mit einem kurzen Befehl hatte Josef Iwanowitsch den Männern befohlen, seinen Sohn zurückzubringen. Jurij riss das nächste Fenster auf, kletterte auf das Fensterbrett und ließ sich fast zwölf Meter in den See fallen, der wie ein Burggraben um drei Seiten des Haupthauses angelegt worden war. Als er ins Wasser tauchte, waren seine Verfolger bereits beim Fenster angekommen. Neben ihm durchzogen Kugeln das fast schwarze Wasser. Er tauchte so tief er konnte und schwamm nur knapp über dem schlammigen Grund zick-zack bis seine Lungen zu brennen begannen. Als er am anderen Ufer angekommen und bereits knapp davor war, die Besinnung zu verlieren, tauchte er vorsichtig auf. Eigentlich hätte er einen Kugelhagel erwartet, doch nichts geschah. Die Männer vom Fenster waren verschwunden. Wahrscheinlich jagten sie gerade die Treppen herunter und hatten vor, den Burggraben zu umstellen. Jurij holte tief Luft, tauchte zurück zur Hausseite, an der er sich bis zur Südwestecke des Gebäudes handelte und dann wieder zum anderen Ufer zurückschwamm. Auch wenn die Strecke nicht weit war, kam es ihm vor als wäre er Minuten unter Wasser gewesen. Er hatte einen Bereich des Grabens erreicht, der dicht mit Schilf bewachsen war. Vorsichtig bewegte er sich durch das Schilf und erreichte kurze Zeit später das Ufer. Er spähte über den Rasen und hörte die Männer, die nicht weit von ihm bereits das Ufer absuchten. Wenn er die dreißig Meter über die Wiese schaffte, konnte er sich durch den angrenzenden Wald bis zur Grundstücksgrenze arbeiten. Er würde sich das nächste Auto schnappen und untertauchen. Jurij sprang aus dem Wasser und lief über die Wiese. Durch die einsetzende Dunkelheit schaffte er die Hälfte der Strecke unbemerkt. Erst knapp vor dem Waldstück vernahm er die Rufe seiner Verfolger. Kurz danach hörte er wieder Schüsse, die aber relativ weit an ihm vorbei gingen. Im Wald konnte er seine Verfolger wieder abschütteln. Nach einem kurzen Sprint erreichte er die Grundstücksmauer. Noch einmal blickte sich Jurij kurz um, um festzustellen ob er noch in unmittelbarer Gefahr schwebte. Doch er konnte keinen Verfolger mehr entdecken. Jurij kletterte auf die Mauer, sprang auf der anderen Seite herunter und lief in Richtung Straße. Ihm war, als hörte er bereits ein Auto, das sich rasch näherte. Nach einer Kurve tauchten plötzlich zwei Scheinwerferlichter vor ihm auf. Sie hatten ihn sofort erfasst und machten somit eine Flucht unmöglich. Breitbeinig stellte sich Jurij in die Mitte der Straße um den Wagen zu stoppen. Er würde den Fahrer kurzerhand aus dem Wagen zerren und dann abhauen. Der Wagen näherte sich rasch und blieb unmittelbar vor Jurij stehen. Die Türen des Wagens öffneten sich und vier Männer stiegen aus. Sie kamen auf Jurij zu.

"Was wollt ihr von mir?" Jurij ging sofort in die Offensive. Mit vier Männern hatte er nicht gerechnet. Ein Plan B musste sofort her.

Ohne eine Antwort packten ihn zwei der Männer und stülpten ihm eine Kapuze über den Kopf. Jurij wehrte sich heftig, aber er konnte seinen Gegnern nicht entkommen. Dann legte einer der Männer Jurij eine Drahtschlinge um den Hals und zog sie zu. Der Zarewitsch hörte auf sich zu wehren. Jurij stand nun still da und wartete. Dann fühlte er den warmen Atem nahe an seinem Ohr.

"Dein Vater will Dich tot sehen. Und er hat eine Prämie auf Deinen Kopf ausgesetzt. Eine sehr hohe Prämie, Jurij. Da würde sogar Deine Mutter schwach werden, wäre sie nicht schon tot."

"Was bildest Du Dir ein meine Mutter zu erwähnen, Du räudiger Schakal!" Jurij war außer sich vor Wut. Die Flucht war misslungen. Sein Vater sollte also doch noch seinen Triumph haben. Wenn Sie ihn töten wollten, dann sollten Sie das machen, aber niemand hatte das Recht, seine Mutter in den Dreck zu ziehen! Wild warf er sich gegen seine Widersacher, doch die Drahtschlinge zog sich gnadenlos zu und er japste nach Luft.

"Ganz ruhig, Jurij. Mir ist die Prämie scheißegal. Dein Vater ist ein alter Mann. Ich glaube, dass Du die Zukunft bist, aber ich wollte sicher gehen, dass Du weißt, wem Du Dein Leben zu verdanken hast. Der Mann lockerte die Drahtschlinge und riss ihm die Kapuze vom Kopf. Jurij sperrte die Augen weit auf und starrte in das Gesicht eines seiner engsten Vertrauten: Simeon!

"Du hinterhältige Drecksau, hast mir gesagt, dass der Bulgare tot sei. Du hast Dich von mir belohnen und aushalten lassen und läufst dann hinter meinem Rücken zu meinem Vater! Was hast Du Dir erwartet, du mieses Schwein? Sollte er mich umbringen und Du übernimmst dann den Laden, ja? War das Dein Plan? Du Arschloch, Du miese Sau, Du.....!" Plötzlich wurde die Schlinge wieder enger gezogen und Jurij brachte keinen Ton mehr heraus.

"Jeder muss sehen, wo er bleibt, lieber Jurij. Ich hab für dich immer die Drecksarbeit erledigt und hätte mehr verdient, als Du mir geben wolltest. Doch jetzt hat sich die Situation geändert. Jetzt habe ich das Sagen! Wenn ich nur ein Zeichen gebe, bist Du tot und noch ehe Du kalt bist, wird Dir Dein Vater folgen. Oder Du verschwindest für eine Weile, überlässt mir Deine Geschäfte und wenn ich Dir sage, dass Du zurückkommen kannst, sind wir Partner. So einfach ist das. Was meinst Du?" Er lockerte die Drahtschlinge ein wenig, damit Jurij antworten konnte.

"Du Arschloch. Ich werde Dich einfach kalt machen, so sieht das aus", röchelte der Gefangene hasserfüllt. Dann war die Schlinge schon wieder so eng, dass sie sich in seine Haut presste. Er spürte, wie das Blut an seinem Hals herabfloss.

"Nein, das wirst Du nicht. Du machst mit mir künftig die Geschäfte, so wie ich es will oder du bist in einer Minute tot. Viel Luft erhält Dein Gehirn schon jetzt nicht mehr. Es wird also immer schwieriger die richtigen Entscheidungen zu treffen. Also was meinst Du? Machen wir weiter? Oder beenden wir die Geschichte gleich hier und jetzt?"

Jurijs Hals schmerzte stark, seine Zunge begann bereits anzuschwellen und er bekam kaum noch Luft. Die Adern an seinen Schläfen pochten und er sah bereits kleine grelle Sterne vor seinen Augen. Es würde nur noch Sekunden dauern, bis er ohnmächtig wurde und - wenn es nach Simeon und seinem Vater ging - auch nicht mehr erwachen sollte.

Mit letzter Kraft sah er Simeon in die Augen und nickte kaum merklich.

"Kluge Entscheidung, mein Freund. So ist es gut."

Simeon wandte sich zu seinen Leuten. "Packt ihn ein! Los! Wir hauen ab von hier!" Jurij spürte den dumpfen Schlag auf seinen Hinterkopf kaum und war auf der Stelle bewusstlos. Es sollte fast zwei Tage dauern, bis er wieder zu sich kam.

Der Zarewitsch

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