Читать книгу Der Zarewitsch - Martin Woletz - Страница 3
Eins
ОглавлениеDer hübsche junge Mann zuckte zusammen, als das Blut in sein Gesicht spritzte. Der ohrenbetäubende Knall des Schusses hallte in seinem Kopf wider und der Geruch von Schwarzpulver biss ihn scharf in der Nase. Soeben hatte sein Vater, Josef Iwanowitsch Jokov, einen seiner engsten Vertrauten erschossen. Josef Iwanowitsch war der mächtigste Unterweltboss westlich des Urals und hatte gerade erfahren, dass Alexander Poroschenko seine Freundin Olga mit Kokain versorgt hatte. Nicht, dass das Josef Iwanowitsch gestört hätte. Alexander hatte für das Kokain sogar bezahlt. Nein, Josef Iwanowitsch störte, dass Olga auf einer Party in Sofia erzählt hatte, dass sie den Stoff von Alexander bekommen hatte. Dabei war es die oberste Regel unter Jokovs Leuten, dass nichts auf Josef Iwanowitsch als Kriminellen hindeuten durfte. Daher konnte keine Entschuldigung eine solche Aussage wieder gutmachen. Olgas Leiche hatte man am Vortag im Erdgeschoss des Treppenhauses gefunden. Sie war offiziell an einer Überdosis gestorben. Die unzähligen gebrochenen Knochen und das gebrochene Genick wurden auf den Sturz im Drogenwahn aus dem 7. Stock zurückgeführt. Polizeiliche Untersuchungen im Umfeld von Josef Iwanowitsch wurden zu dieser Zeit schnell abgeschlossen.
Jurij Josifowitsch stand zitternd neben seinem Vater und wischte sich langsam mit dem Handrücken über die Wange. Aus dem aufgeplatzten Schädel des Paten von Bulgarien vor ihm quoll immer noch Blut. Es war das erste Mal, dass Jurij zugesehen hatte, wie sein Vater einen Menschen erschoss. Er hatte immer wieder gehört, dass sein Vater brutal sei, doch vor seiner Familie hatte der Pate diese Eigenschaft niemals offen gezeigt. Jurij konnte mit seinem Vater diskutieren, sogar dessen Bitten ablehnen und er wurde deshalb nie geschlagen. Doch mit Alexander hatte sein Vater nicht diskutiert. Josef Iwanowitsch hatte noch gestern mit Alexander gescherzt und mit ihm lachend auf ein paar Wodka-Flaschen geballert. Nun hing Alexanders Körper schlaff auf einem Sessel, ohne dass Alexander geahnt hätte, dass mit dem Ende dieses Treffens auch sein Leben zu Ende sein würde.
"Ich mochte Alexander", sagte Josef Iwanowitsch pathetisch und wischte seine Fingerabdrücke von der Waffe.
"Aber er hat Fehler gemacht. Das kann ich nicht hinnehmen." Er blickte in die Gesichter von sieben Verbrechern. Es waren die mächtigsten und grausamsten Kriminellen in Osteuropa und Russland. Sie kannten keine Skrupel und würden für ein gutes Geschäft ihre engsten Freunde über die Klinge springen lassen. Keiner von ihnen scheute sich vor Erpressung, Drogen, Prostitution oder Mord. Doch im Vergleich zu Josef Iwanowitsch waren sie nur unartige Jungs. Keiner dieser sieben Männer konnte einen Schritt machen, ohne dass Josef Iwanowitsch dazu den Auftrag gegeben hatte. Josef Iwanowitsch hatte nicht nur das Verbrechen unter seiner Kontrolle, er kontrollierte auch weite Kreise der Polizei und Politik. Seine Gehaltsliste war lang. Und sie wurde immer länger.
"Gute Leute sind schwer zu finden. Die Besten kommen immer noch aus der eigenen Familie." Das Nicken von sieben Köpfen war nicht nur eine Bestätigung für Josef Iwanowitsch sondern spiegelte tatsächlich die Meinung der gut gekleideten Männer wieder. Denn alle standen in verwandtschaftlichen Verhältnissen zu Josef Iwanowitsch. Zwei Brüder, zwei Cousins, zwei Söhne und ein Onkel saßen um einen großen Marmortisch, auf dem immer noch reichlich Essen in silbernen Schalen stand, obwohl das großzügige Mahl bereits zu Ende war. Auch Alexander Poroschenko war mit Josef verwandt gewesen. Allerdings nur dritten Grades.
"Aus diesem Grund werde ich meinen Sohn Jurij anstelle von Alexander mit den Aufgaben in Bulgarien betrauen. Er hat bewiesen, dass er seinen Laden in Ordnung halten kann." Der fünfundzwanzigjährige Sohn des russischen Paten hatte mehrere Nachtclubs in Moskau geführt und sich mit Drogen und Prostitution ein nicht unerhebliches Vermögen aufgebaut.
"Ich möchte, dass Dir Oleg hilft, eine neue Route über Bulgarien nach Mitteleuropa aufzumachen. Es gefällt mir nicht, dass wir nur eine Route kontrollieren. Und Oleg hat bewiesen, dass er von diesem Geschäft etwas versteht." Oleg war Josef Iwanowitschs' älterer Sohn und für den Menschenhandel im Unternehmen verantwortlich. Die bisher einzige Route des Syndikats führte über Lettland und Schweden nach Mitteleuropa. Sollte auf dieser Route etwas schief gehen, würden Millionen Dollar und Euro an Einnahmen fehlen. Josef Iwanowitsch war trotz seiner fünfundsechzig Jahre noch immer am planen und aufbauen. Oleg schwieg zu den Ausführungen. Er hatte bereits vor der Besprechung bei seinem Vater gegen diese Entscheidung protestiert, als ihn sein Vater von seinen Plänen unterrichtet hatte - und musste für diesen Protest auf die Hälfte seiner Einnahmen verzichten.
"Das Treffen ist damit beendet. Ihr könnte gehen. Jurij, du bleibst noch." Mit diesen Worten wandte sich der Pate um und blickte durch die hohen Fenster seiner Hochsicherheitsvilla über das verschneite Tiefland. Als die Männer das Zimmer verlassen hatten, fuhr Josef Iwanowitsch fort.
"Ich habe über vierzig Jahre diese Organisation aufgebaut. Es ist ein Familienunternehmen mit einem Umsatz von über zwei Milliarden Dollar jährlich. Doch diese Summe bedeutet nur, dass es Menschen gibt, die für unsere Dienstleistungen bezahlen. So, wie überall auf dieser Welt für Dienst bezahlt wird. Doch die Dinge, die wir den Menschen verkaufen, sind nicht gerne gesehen. Doch das hat mich nie interessiert. Jede Bank, jedes Pharmaunternehmen und jeder Rüstungskonzern muss genauso mit Gesetzen und Politikern fertig werden, wie wir und sind nicht illegaler oder legaler als wir. Es geht immer darum, wie man die Gesetze umgehen kann, um noch mehr Gewinn zu machen und noch mehr Einfluss zu bekommen." Josef drehte sich zu seinem Sohn um.
"Und es geht darum, keine Fehler zu machen, Jurij. Wenn Du Fehler machst, stirbst Du. Und mit Dir unsere Firma."
Er beugte sich über seinen jüngeren Sohn.
"Du hast bis jetzt keine Fehler gemacht, darum bekommst Du einen größeren Teil des Kuchens. Wenn Du klug bist, wirst Du so viel Geld verdienen, wie Du es Dir nie erträumen konntest. Aber Du musst zuerst investieren. In deine Kontakte, in deine Sicherheit. Du musst mit Geld und Blut bezahlen, dann kommst Du weiter. Wer Dir im Weg steht, den musst Du töten. Du musst Deine Gegner töten, hörst Du! Es macht keinen Sinn, Sie zu fangen, zu foltern und zu erpressen. Das lenkt Dich nur ab. Wenn sie für Dich arbeiten, investiere in Sie. Wenn nicht, dann schaff sie Dir für immer aus dem Weg. Dann hast Du wieder einen klaren Kopf für neue Aufgaben." Er machte eine kurze Pause und blickte seinem Sohn scharf in die Augen.
„Du musst auch Deinen Onkel, Deine Tante oder Deinen Bruder töten können, wenn es sein muss.“ Wieder legte der Pate eine kleine Pause ein.
„Oleg ist ein guter Mann, aber er ist gierig. Er investiert nicht in die richtigen Kontakte, weil er dem Geld, das er dafür aufwenden müsste, nachjammert. Wenn Oleg an deiner Seite nicht lernt, was er zu tun hat, dann wird er Bulgarien nicht mehr verlassen. Er hat drei Monate Zeit. Hast Du verstanden Jurij Josifowitsch?"
Jurij sah seinen Vater mit seinen stahlblauen Augen an und nahm einen Zug von seiner Zigarette.
„Ja, ich habe verstanden, Vater." Blutsbande waren wichtig - aber nicht alles. Oleg war gut drei Jahre älter als Jurij und daher früher auf einen sehr einflussreichen und lukrativen Posten in der Firma gekommen. Hatten sie als Kinder noch gemeinsam gespielt, maßen sie sich bereits als Jugendliche mit Waffen und Fäusten. Sie waren wie junge Wölfe, die das Töten spielerisch gelernt hatten. Jurij hatte schon getötet. Einen Kellner, der ihn verraten wollte und einen Journalisten, der ihn in seinem Mistblatt als Verbrecher beschrieben hatte. Doch seinen eigenen Bruder zu töten, war selbst für die Jokovs eine ungewöhnliche Maßnahme. Doch Jurij kannte seinen Vater. Er wusste, dass er keine Wahl hatte. Keine, die sein Leben nicht dramatisch verändern würde.
Jurij nutzte die nächsten Tage um seinen Umzug vorzubereiten. Er musste seine Klubs absichern, Leute, denen er vertrauen konnte, für die Weiterführung finden. Er musste sich von seinen Mädchen verabschieden, denn er würde keines von ihnen nach Bulgarien mitnehmen. Bei Protesten würde er sich endgültig von der einen oder anderen trennen. Es gab genug Bordelle in Sibirien. Dort konnten sie dann von ihm aus vor die Hunde gehen. Und er musste mit Oleg sprechen.
Josef Iwanowitsch nahm Beziehungen nicht auf die leichte Schulter. In seiner "Branche" war es immer gefährlich, eine Frau oder Kinder an seiner Seite zu haben, da man mit einer Familie erpressbar war. Doch Josef Iwanowitsch wusste, wie er sich absichern konnte. Seine Frau Natascha entstammte einer Familie, die sich mit Betrügereien, Diebstählen und organisiertem Betteln ihren Reichtum ergaunert hatte. Josef Iwanowitsch übernahm das "Unternehmen" der Schwiegereltern und vergab die wichtigsten Positionen an Familienmitglieder. Erst einige Jahre später, als Josef Iwanowitsch die Gewissheit hatte, dass seine neuen Mitarbeiter völlig von ihm abhängig waren, ging er mit Natascha daran, eine eigene Familie zu gründen. Oleg wurde sofort nach seiner Geburt von Dienstboten und Leibwächtern umgeben. Es gab mehrere Versuche, Oleg zu kidnappen und damit den Paten von seinem Thron zu stoßen. Alle Versuche endeten mit dem grausamen Tod der Entführer. Natascha verkraftete die Gewalt und die Sorge um Oleg nur schwer. In ihrer kriminellen Welt hatte sie die Opfer ihrer Betrügereien meistens gar nicht zu Gesicht bekommen. Gewalt war nie nötig gewesen. Seit ihrer Hochzeit mit Josef Iwanowitsch gehörten jedoch Mord und körperliche Gewalt zu ihrem Alltag. Da sich Josef Iwanowitsch nicht sicher war, ob Oleg überleben und sein Nachfolge antreten würde können, beschloss er ein zweites Kind mit Natascha zu zeugen. Natascha versuchte Oleg immer von Gewalt fernzuhalten und ihm eine möglichst angenehme und luxuriöse Kindheit zu bieten. Oleg lernte von Natascha viele lustige Kartentricks, von denen er zu seinem dritten Geburtstag seinem Vater ein gutes Dutzend stolz präsentierte.
Josef Iwanowitsch beobachtete diese Entwicklung mit Argwohn. Betrug und Lüge waren aus seiner Sicht nur ein Mittel zum Zweck, konnten aber keine Organisation zusammenhalten. Für Josef Iwanowitsch war das zu wenig. Betrug und Lüge spalteten Organisationen und Menschen, sie verbanden sie nicht. Es waren Fähigkeiten, die man für den Kampf benutzte, aber nicht, um die eigene Firma zu leiten. Dazu bedurfte es weit mehr. In Josef Iwanowitschs Welt waren Gewalt und Belohnungen die schärfsten Waffen. Angst und Gewalt hielt seine Leute bei der Stange, Belohnungen gab es in Form von Geld oder Autos für besondere Leistungen. Doch Oleg war kein Junge, der Angst verbreiten konnte. Er war klein, ein wenig pummelig als Kind und genoss die Vorzüge von gutem und reichlichem Essen. Er hatte mehr Freude an Gold und Diamanten als an Waffen und sobald er alt genug war, waren junge Mädchen sein liebstes Spielzeug. Oleg war der häufigste Anlass für Streit zwischen Josef Iwanowitsch und Natascha, denn Oleg war aus Josefs Sicht von Natascha zu sehr verwöhnt worden.
Dann kam Jurij zur Welt. Jurij Josifowitsch wurde vor allem von seinem Leibwächter und seinem Vater erzogen. Josef Iwanowitsch achtete streng darauf, dass sein jüngerer Sohn nicht verwöhnt und verhätschelt wurde und sich nicht in nutzlosen Spielereien verlor, wie Oleg. Das führte dazu, dass Jurij Josifowitsch schon sehr bald gelernt hatte, dass er sich alles, was er wollte, erkämpfen musste. Nicht durch Bitten und Kindertränen, Lüge und Betrug, sondern vor allem durch körperliche Gewalt. Er war sportlich und kräftig, dominant und herrschsüchtig. Oleg und er prügelten sich oft. Auch wenn Jurij jünger war, gab es nach Jurijs fünftem Geburtstag keinen Kampf mehr, den er gegen Oleg verlor. Josef Iwanowitsch beobachtete die Entwicklung seiner Söhne mit Sorge. Der Erstgeborene konnte die Thronfolge nicht antreten. Für Josef Iwanowitsch eine Schande. Er schickte Oleg in ein Internat in der Schweiz und anschließend zu einem Wirtschaftsstudium in die Vereinigten Staaten. Jurij blieb in einer Eliteschule in Moskau und absolvierte die Militärakademie. Dank der Kontakte seines Vaters in die militärischen und politischen Kreise, bekam Jurij die allerbeste Ausbildung. Im tiefsten Innersten gab der Patron Natascha die Schuld für Olegs Schwäche. Und Schuldige mussten bestraft werden. Natascha jedoch gewaltsam zu bestrafen, hielt er nicht für ratsam, daher griff er zu einem noch viel brutaleren Mittel. Er trennte sie von Ihrer Familie, indem er seine Schwiegereltern nach Südrussland schickte, um dort die Organisation weiter zu führen. Natascha hing von klein auf sehr an ihrer Mutter und litt stark unter der Trennung. Josef isolierte Natascha im Laufe der nächsten Jahre immer weiter, in dem er auch ihr vertrautes Personal austauschte. Olegs Kindermädchen musste genauso das Anwesen verlassen wie die Köchin, die Natascha quasi in die Ehe mitgebracht hatte.
Oleg hatte die letzten Tage damit verbracht, viel Geld in seine Kontakte zu investieren um dem Vater zu zeigen, dass er aus Fehlern lernen konnte. Als ältester Sohn war Oleg davon ausgegangen, dass er der neue starke Mann der Organisation werden sollte, wenn sein Vater den Stuhl eines Tages räumen würde. Josef Iwanowitsch legte großen Wert auf Loyalität, Durchsetzungsvermögen und gute Manieren. Im Laufe der Zeit merkte Oleg, dass sein Vater wenig Freude mit ihm hatte und ihm die Leitung des Unternehmens vielleicht nicht übertragen würde. Dabei hatte Oleg immer alles versucht, seinen Vater davon zu überzeugen, dass er die Firma übernehmen könnte. So gründete er wenige Wochen nach Beginn des Studiums in den USA ein eigenes kleines Unternehmen und versorgte die Studenten an der Universität mit Drogen und Nutten. Von den Einnahmen kaufte er sich ein Appartement in der Stadt, das er für Partys und die Produktion kleiner schmutziger Videos nutzte. Trotz seines ausschweifenden und kriminellen Lebensstils war Oleg vom Rektor, Professor Dr. Steven Ferguson, nicht von der Universität verwiesen worden.
Der Grund dafür war aber nicht in den erpresserischen Videos aus Olegs Appartement zu finden sondern in den großzügigen Spenden seines Vaters an die Universität und den Pensionsfonds der Polizei. Die Videos zu verwenden hatte Josef Iwanowitsch seinem Sohn untersagt. Oleg verstand damals nicht, warum sein Vater so viel Geld zum Fenster hinauswarf. Er selbst hätte sich diese Leute durch Erpressung und Gewalt gefügig gemacht und somit nicht nur Geld gespart, sondern noch Geld verdient. Er hatte schon mehrere Filme von hochgestellten Persönlichkeiten der Stadt in seinem Bankschließfach. Somit war der Studienabschluss nur eine Formsache gewesen.
Als Oleg aus dem Ausland zurückkam, betraute ihn sein Vater mit der Aufgabe, eine Route für den Menschenschmuggel aufzubauen. Oleg gelang es wider Erwarten sehr gut, diesen Geschäftszweig aufzubauen. Doch Oleg war gierig, hatte seine Lehren aus dem USA-Abenteuer nicht gezogen und kein Geld in seine Kontakte investiert. Oleg versuchte die Kosten so gering als möglich zu halten und gegebenenfalls mit Erpressung die Organisation zu führen. Die Loyalität seiner Männer zu ihm war vergleichsweise gering. Das führte zu manch gefährlicher Situation mit Grenzbeamten, Polizisten und sogar seinem eigenen Personal. In einigen Fällen musste letztendlich sein Vater mit aller Härte und unglaublicher Brutalität eingreifen. Und Oleg musste sich von seinem Vater wieder belehren lassen. Zur Strafe brannte Josef Iwanowitsch die Stadtwohnung seines Sohnes ab, wobei Oleg großflächige Brandwunden davontrug, die ihn sein Leben lang entstellten.
Bevor er nun begann seinem Bruder unter die Arme zu greifen, bekamen Grenzoffiziere, örtliche Polizeichefs und Politiker unverhoffte Prämien von Oleg. Nun endlich versuchte er seinem Vater zu zeigen, dass er gelernt hatte und hoffte, dass es noch nicht zu spät war, um seinem Vater einmal nachzufolgen. Oleg sicherte seine Route ab, auf der er junge Mädchen aus Russland und Asien für die europäischen Bordelle genauso schleuste, wie Familien und politische Flüchtlinge. Für ein paar tausend Dollar pro Kopf wurden diese Menschen wie Tiere über Lettland oder Kaliningrad mit der Fähre nach Schweden gebracht. Von dort ging es mit Lastwägen, dem Zug oder wieder per Schiff nach Deutschland, Polen oder Holland. Das größte Problem für Olegs Organisation lag darin, die Spuren jener Flüchtlinge, die nicht für die Zwangsarbeit im Bordell oder anderen Betrieben geeignet waren, so zu verwischen, dass sie den Ermittlern keine Hinweise über die Einzelheiten der Flucht geben konnten, die Olegs Organisation schaden konnten.
Als Jurij in die kalten Augen seines Vaters blickte, sah er keine Regung darin. Er hatte von seinem Vater gerade den Auftrag bekommen, seinen Bruder zu töten, wenn dieser wieder Scheiße bauen sollte. Diese bizarre Situation hinterließ bei Jurij tiefe Spuren. Er war in einer gewalttätigen Welt groß geworden. Doch an diesem Tag, als sein Vater vor seinen Augen Alexander erschossen und ihm den Mordauftrag für Oleg gegeben hatte, verlor er den letzten Rest seines Gewissens.
Die Datscha der Jokovs lag rund achtzig Kilometer außerhalb von Moskau und war früher der Herrschaftssitz eines russischen Grafen gewesen. Weitläufige Ländereien, Stallungen und ein eigener Golfplatz sowie mehrere Nebengebäude gehörten zu dem Landsitz. Das Haupthaus verfügte über mehr als vierzig Zimmer und Säle. Das Mobiliar war antik, aber sonst hätte man glauben können in einem Technologieforschungslabor zu stehen. Alarm- und Kommunikationssysteme, Verteidigungsanlagen und ein Heer an bewaffneten Männern machten die ehemalige Touristenattraktion zu einer uneinnehmbaren Festung. Jurij hatte das Anwesen für die Jagd, seine Kampfsportausbildung und den Keller für Verhöre genutzt. Für ihn, wie für seinen Vater stand immer die Zweckmäßigkeit der Anlage im Vordergrund. Die Kristallluster, antiken Möbel, Teppiche und der Goldstuck aus der Zeit Katharinas II. sowie die goldverzierten Handläufe waren nur dazu da, um Besucher zu blenden und abzulenken, die zu bestimmten Anlässen auf die Jokov-Datscha kamen. Und während er und sein Vater, Natascha und Oleg zwischen goldverzierten Portraits und silbernen Saucieren ihre Mahlzeiten einnahmen, verbluteten ihre Gegner in der Folterkammer der grauen und kalten Kellerräume. Jurij beendete die Ausbildung an der Militärakademie, als sein Vater feststellte, dass Jurijs Kampfausbildung keine weiteren Fortschritte machte. Den Rang eines Leutnants erhielt er trotzdem. Jurij bekam die Verantwortung für die Clubs in Moskau übertragen, die als Tarnung für Drogengeschäfte, Anlaufstelle für Rekruten und zur Geldwäsche dienten. Auch die Prostituierten kamen zur Einschulung in Jurijs Clubs. Schon bald erkannte man Jurijs Handschrift. Die Clubs wurden immer größer, bunter und greller. Sie waren luxuriös und zogen eine Menge prominentes Publikum an. Doch hinter der glamourösen Fassade wurde in schalldichten Räumen gedealt, Geld gewaschen, geprügelt und getötet.
Jurij traf Oleg in seinem Club am Leninskiy Prospekt um zehn Uhr abends. Wie gewöhnlich war der Club voll und niemand achtete auf die drei Männer, die mit mehreren jungen hübschen Damen in einem Extrazimmer verschwanden. Jurij breitete die Arme aus und drückte seinen Bruder fest an sich. Er freute sich wirklich Oleg zu sehen. Sie setzten sich, ließen sich von den Damen verwöhnen und plauderten ungeniert über ihre Geschäfte. Oleg nippte am Champagner und führte seinen kleinen Bruder in die Geheimnisse der Schlepperei ein. Er genoss es, Jurij belehren zu können, denn er wusste, dass Jurij ihrem Vater näher stand als er. Jurij trank seinen Beluga-Wodka, blickte Oleg konzentriert an und man hatte den Eindruck, dass er wirklich aufmerksam den Belehrungen seines Bruders folgte.
Nach drei Stunden, inzwischen hatte ihm Oleg alles darüber erzählt, wie sein Geschäft funktionierte und wo die Gefahren und Schwierigkeiten waren, leerte Jurij die letzten Tropfen seiner Wodkaflasche in den schweren Tumbler. Er schickte seinen Leibwächter hinaus, um ihm eine neue Flasche zu bringen. Als nächstes wies er die jungen Damen an, sich die Nase zu pudern. Nun war er mit Oleg alleine in seinem Büro. Oleg ließ den Korken der dritten Flasche just in dem Moment knallen, in dem ihn ein stechender Schmerz in der Stirn durchzuckte. Noch ehe er sich darüber wundern konnte, rann ihm bereits sein eigenes Blut über die Nase. Darüber klaffte ein kleines schwarzes Loch in seiner Stirn. Die Champagnerflasche fiel zu Boden, doch der schwere rot-goldene Teppich dämpfte den Aufprall. Jurij blickte Oleg noch immer konzentriert an. Sein Bruder saß zusammengesunken im weichen, schwarzen Lederfauteuil. Josef Iwanowitsch würde über den Tod seines ältesten Sohnes sehr traurig sein. Aber er würde Jurij glauben, dass Oleg einen Fehler zu viel gemacht und damit das ganze Unternehmen gefährdet hatte. Nur wegen Natascha machte sich Jurij Sorgen. Ihre Mutter würde sich nicht so einfach damit zufrieden geben, dass Oleg durch einen Unbekannten ausgerechnet in Jurijs Club getötet wurde. Jurij wollte seiner Mutter diese Geschichte erzählen. Natascha war zu sensibel um die Wahrheit zu verstehen. Josef Iwanowitsch würde offiziell Rache schwören einen Täter finden. Wahrscheinlich die Makarov-Brüder. Die Makarov-Brüder gehörten zu einer Organisation, die Josef Iwanowitsch das Nuttengeschäft im Norden abnehmen wollte und Oleg schon mehrfach Probleme gemacht hatte. Jurij stand auf, verließ das Extrazimmer und befahl dem Leibwächter das Zimmer zu reinigen. Als er auf der Straße stand, zündete er sich eine Zigarette an, sog den Rauch tief in seine Lungen und blickte die Straße hinunter. Immer wieder sah er in Gedanken die Szene vor sich, als er seinen Bruder erschoss. Er hatte einen Plan und er hatte auch das Einverständnis seines Vaters für den Mord an Oleg gehabt. Es war notwendig gewesen, um das Familienunternehmen zu schützen. Und dennoch kam er sich irgendwie schuldig vor. Jurij hatte keine Zeit um lange zu trauern. Er musste jetzt seinen Eltern die traurige Nachricht von Olegs Tod überbringen.
Sein Vater stand wie versteinert am Fenster und blickte in die tiefschwarze Nacht. Noch in der gleichen Nacht würden die Makarov-Brüder sterben. Damit war für ihn die Angelegenheit vom Tisch. Seine Mutter begann leise zu schluchzen bis sie schlussendlich zusammenbrach. Natascha hatte insgeheim gehofft, durch Oleg aus der ganzen Gewalt herauszukommen und vielleicht irgendwo untertauchen zu können. Sie hatte sich vorgestellt, dass Oleg ihr die Flucht ermöglichen und über seine Route nach Skandinavien und sie vielleicht weiter in die Vereinigten Staaten bringen zu können. Sie wollte Oleg sogar überreden mit Ihr zu gehen. Sie hatte ihre eigene Zukunft auf Oleg aufgebaut! Natascha waren die Makarov-Brüder egal. Ihre eigene Zukunft starb in Jurijs Club in einem weichen, schwarzen Lederfauteuil.
In der gleichen Nacht, in der sein Bruder Oleg und die Makarov-Brüder starben und somit in das Familienunternehmen wieder Ruhe einkehrte, reiste Jurij nach Bulgarien ab.
Innerhalb von wenigen Wochen hatte er das Land unter Kontrolle und beherrschte den Drogen- und Menschenhandel sowie die Prostitution. In den folgenden Jahren perfektionierte Jurij seine Grausamkeit. Treue oder Tod wurde zu seinem Motto. Wer nicht für ihn war, war gegen ihn und musste sterben. Und viele Menschen starben in den nächsten Jahren. Nachdem er sich in Sofia nicht mehr sicher genug fühlte, verlegte er sein Hauptquartier nach Plovdiv, baute sich ein Netz von Informanten und Agenten auf. Polizei und Miliz waren machtlos, mussten ihm weichen oder standen auf seiner Gehaltsliste.
Wie es sein Vater gewünscht hatte, hatte Jurij eine zweite Route für den Drogen- und Menschenschmuggel nach Mitteleuropa aufgebaut. Diese war weit lukrativer und sicherer als die nördliche Route. Für wen er keine Verwendung im Bestimmungsland hatte, der kam dort nie an. Jurijs Schergen entledigten sich der Illegalen an vorher vereinbarten Orten. Es war ein sicheres Geschäft, denn niemand vermisste sie und niemand stellte Fragen. Das Geschäft blühte auf und Jurij war am Höhepunkt seiner Macht angekommen.
Inzwischen war Josef Iwanowitsch fast siebzig Jahre alt. Natascha hatte er nach Olegs Tod in ein Sanatorium bringen lassen. Wenige Wochen später war sie gestorben.