Читать книгу Der Zarewitsch - Martin Woletz - Страница 5

Drei

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An einem glühend heißen Augusttag, nach Sonnenuntergang, packten wir die wenigen Dinge zusammen, die noch wichtig waren und wanderten zu Onkel Stanimir. Vater hatte beschlossen, Plovdiv zu verlassen. Es war nur noch eine Frage der Zeit gewesen, bis uns der Zarewitsch gefunden hätte. Onkel Stanimir wohnte in einem Dorf, das rund fünfzehn Kilometer außerhalb der Stadt lag. Von dort waren es nur noch wenige Kilometer bis zur Grenze im Süden.

In dieser Nacht ging die halbe Stadt in Flammen auf und die meisten Widerstandskämpfer und Milizsoldaten wurden getötet. Der Zarewitsch führte einen vernichtenden Schlag aus. Jokovs Männer stellten uns in unserem Unterschlupf, Gott alleine weiß, woher er diesen Tipp bekam. Zuerst wurde Vater von einer Maschinengewehrsalve getötet. Dann starb Onkel Stanimir durch einen Schuss in den Hinterkopf. Plamen wurde gefangen genommen und verschleppt. Ich war bei Mutter und Radka geblieben, aber wir hatten keine Chance. Doch anstatt uns gleich umzubringen oder in die Stadt zu schleppen, luden uns die Männer auf Lastwägen. Ich musste in einen Sattelzug einsteigen, der über eine doppelte Wand verfügte. Ich wurde durch die Tür in den Hohlraum gestoßen, stolperte und krachte mit dem Kopf gegen die Wand. Der Aufprall war so heftig, dass ich das Bewusstsein verlor. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Rücken. Mein Kopf pochte und es dröhnte ohrenbetäubend. Ich konnte meine Hand vor Augen nicht sehen. Es stank nach Urin, Schweiß und Benzin und ich rief nach Mutter und Radka. Doch es antwortete niemand. Ich versuchte mich aufzurichten. Der Sattelzug schwankte und mein Kopf tat so weh, dass mir die Knie versagten. Außer mir waren noch rund ein Dutzend Frauen und Kinder in dem kaum zehn Quadratmeter kleinen Raum. Niemand konnte mir sagen, was mit Mutter und Radka geschehen war. Niemand wusste, wo sie waren oder wie lange wir schon unterwegs waren. Der Lastwagen blieb kurz stehen, die Türe blieb verschlossen. Wir mussten unseren Bedürfnissen in diesem Verschlag nachgehen und so wurde der Gestank immer unerträglicher. Wir lagen mehr über- als nebeneinander am verschmutzten Boden und dösten vor uns hin. Wir hatten seit vielen Stunden nichts mehr zu trinken oder essen bekommen und waren am Ende unserer Kräfte.

Ich wusch mir die Reste des Toasts von den Händen. Jokov! Es gab viele Menschen, die ich nicht mochte. Aber Jokov hasste ich. Seinetwegen war ich wieder bei der Polizei. Seinetwegen verzichtete ich auf ein geregeltes Leben. Seinetwegen gab ich mich mit Kollegen ab, die ich normalerweise schon längst abgeschossen hätte. Dieser Mann war schuld am Tod meiner Eltern und der Familie meines Onkels. Er hatte den Befehl gegeben uns zu jagen und zu töten. Doch mich hatte er nicht bekommen. Meine Leiche lag nicht in seinem Keller. Der Zarewitsch hatte mich gejagt, aber nicht bekommen! Dann hatte ich begonnen, ihn zu jagen. Doch ich hatte keine Spur von ihm gefunden. Ich hatte gehofft, ein Stachel in Jokovs Fleisch zu sein. Doch nichts geschah. Wir hatten uns aus den Augen verloren. Ich war bloß eine Unachtsamkeit gewesen, die ihm unterlaufen war. Hier in Österreich, war er nicht an mich herangekommen. Und ich auch nicht an ihn. Wir hatten uns gegenseitig, aber es gab kein Schlachtfeld. Ich hatte mich lange Jahre nach diesem Kampf gesehnt. Meine Mutter und meine Schwester waren immer noch verschwunden. Ohne jede Spur. Nur von Jokov hätte ich etwas erfahren können. Doch auch Jokov schien mich nicht mehr zu verfolgen. Wir waren wie zwei Boxer, die keinen Ring zum Kämpfen hatten. Mittlerweile schien es mir sogar, dass Jokov gar nicht mehr kämpfen wollte. Und ich nicht kämpfen durfte, weil ich ihn nicht finden konnte. Jedes Mal, wenn mir ein Schlepper ins Netz ging, hoffte ich, dass es einer von Jokovs Männern war. Doch bisher hatte ich kein Glück. Wir erwischten nur die kleinen Fische. Das war frustrierend und begann mich immer herz- und gefühlloser gegenüber Menschen zu machen.

Ich stand im dunkelgrünen Schlafanzug in der Küche und starrte auf die Krümel in der Abwasch. Ich war so in Gedanken gewesen, dass ich das Frühstück völlig ausgeblendet hatte. Nachdenklich griff ich nach dem Henkel der Kaffeetasse und schlürfte an dem nur noch lauwarmen Filterkaffee. Ich trank zwar Filterkaffee, doch kaufte ich immer ganze Kaffeebohnen, die ich erst kurz vor dem Trinken in die Kaffeemühle warf. Immer eine kleine Handvoll Bohnen pro Frühstück. Den Rest der Bohnen verwahrte ich gut verschlossen in einer Blechdose, die ich auf einem Flohmarkt entdeckt hatte, im Kühlschrank. Die Verkäuferin im Geschäft um die Ecke hatte mir einmal diesen Rat gegeben und ich fand, dass sich diese Methode sehr vernünftig anhörte. Ich hasste es, Lebensmittel wegwerfen zu müssen, nur weil man zu viel gekocht hatte oder die Lebensmittel falsch lagerte. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass Mutter früher einmal Gemüse, Obst oder Fleisch weggeschmissen hatte. Sie war sehr gut darin, fast jeden Bestandteil einer Frucht oder eines Tieres zu einem leckeren Essen zu verarbeiten. Und sie hatte Lebensmittel auch in Blechdosen aufbewahrt.

Die Fluchtroute aus dem Osten über Griechenland, das zerfallene Jugoslawien und Ungarn war eine der beliebtesten Routen für Jokovs Schlepper geworden. An den Grenzen gab es selten Probleme. Andere Routen führten über die baltischen Staaten und Skandinavien. Der Lastwagen, in dem ich mich damals befand, fuhr bis in die Nähe von Sopron in Ungarn. Dort mussten wir aussteigen. Zwei Männer verbanden uns die Augen und gemeinsam mussten wir in einer Reihe durch den Wald gehen, eine Hand auf die Schulter des Vordermannes gelegt. Doch es war kein richtiger Weg, eher ein schlecht ausgetretener Pfad und viele stolperten, stürzten oder zerkratzten sich Beine, Arme und das Gesicht an den Ästen, die in den Pfad ragten. Dann durften wir die Augenbinde wieder abnehmen und standen vor einem gut getarnten Holzverschlag inmitten eines düsteren und dichten Mischwalds. Einer der Männer erklärte uns, dass wir uns in einem militärischen Sperrgebiet befänden und es noch dutzende scharfer Tretminen in dem Waldstück gäbe. Doch hinter dem Wald sei gleich die Grenze nach Österreich. Und damit es niemand auf eigene Faust versuche, über die Grenze zu kommen, hätte man ihnen die Augen verbunden. Wir sollten uns ruhig verhalten und warten, bis jemand käme und uns über einen sicheren Weg durch das Minenfeld über die Grenze begleiten würde. Das werde noch am gleichen Abend sein. Wir sollten uns ruhig verhalten, damit wir unser Versteck nicht verrieten. Sollte es jemand auf eigene Faust versuchen, so wäre das zum Schaden aller und die Aktion wäre gestorben. Damit hatten sie die meisten von uns ausreichend eingeschüchtert und gegeneinander misstrauisch gemacht. Ich sah mich um, fand weder Mutter noch Radka. Ich fragte einen der Wächter nach ihnen, doch ich bekam keine Antwort. Würden Sie später kommen? Oder nahmen Sie einen anderen Weg über die Grenze? Ich konnte mir nicht erklären, warum mich der Zarewitsch am Leben gelassen und mit den anderen nach Österreich bringen wollte. Was hatte er vor? Und was mit den durchwegs älteren Frauen und kleinen Kindern? Wir saßen zusammen gepfercht in dem Verschlag. Ich fuhr mit den Fingerspitzen über die Holzstämme und blieb bei einigen Einkerbungen hängen. Ich beugte mich vor um zu erkennen, was das war, doch es war zu dunkel. Ich tastete wieder nach den Kerben und merkte, dass es ein Wort war. Es war in kyrillischer Schrift geschrieben.

"Flieht!" stand hier ins Holz geritzt! Was hatte das zu bedeuten? Dichtes Unterholz und ein dichter Baumbestand erlaubten uns keine klare Orientierung. Nur spärlich fiel noch Licht durch die Ritzen in dem Holzkäfig. Wir warteten lange. Doch niemand kam. Ich überlegte wieder. Dachte nach. Grübelte. Und entschied mich. Ich ging los, ohne dass es jemand bemerkte. Ich saß mit dem Rücken an eine der Holzlatten gelehnt und grub unbemerkt eine kleine Grube um das untere Ende der Holzlatte zu lockern. Es dauerte lange, bis sich die Latte bewegt hatte. Nun konnte man kaum noch die eigene Hand vor Augen erkennen und immer noch war niemand aufgetaucht um uns weiterzuführen. Ich drückte gegen die Holzlatte und rollte mich lautlos durch die Öffnung. Dann lief ich einige Schritte in den Wald, stolperte über Äste und Büsche und hockte mich hinter einen Baum. Das war der gefährlichste Teil des Unternehmens gewesen, hatte ich mir ausgerechnet. In der Abenddämmerung hatte ich immer wieder verschiedene Tiere im Wald gehört. Mit jedem Laut, den ich aus dem Wald gehört hatte, war mir die Geschichte von den Minen immer unglaubwürdiger vorgekommen. Ich hatte niemandem etwas von meinem Verdacht erzählt. Sollte ich mich doch irren und der Wald war vermint, dann würde es nur mich treffen. Außerdem hätten womöglich andere Flüchtlinge den Fluchtversuch verhindert. Wenn ich am nächsten Morgen verschwunden wäre, wären die anderen vielleicht auch darauf kommen, dass die Schlepper sie hier mitten im Wald im Stich gelassen hatten. Sie waren mit allen Ersparnissen untergetaucht und hatten die Gruppe schutzlos der Polizei oder dem Militär ausgeliefert, die sie wieder zurück nach Bulgarien schicken würden. In die Hände Jokovs. Bei diesem Gedanken hatte ich mich entschlossen, aus dem Versteck auszubrechen und die Flucht alleine fortzusetzen. Zurück in Bulgarien wäre ich Jokovs Männern schutzlos ausgeliefert. Ich hoffte nur, dass Mutter und Radka ebenfalls hatten fliehen können. Ich hoffte von Österreich aus Mutter und Radka finden zu können. Doch es sollte alles anders kommen.

Ich saß unter einem Baum und lauschte. Ich hörte den Wind, wie er durch die Äste fuhr und ein gespenstisches Rauschen und Pfeifen erzeugte. Ich blickte nach oben und versuchte die Sterne am Himmel oder den Mond zu entdecken. Doch es waren Wolken aufgezogen und die Umgebung versank in einem tiefen alles verschlingenden Schwarz. Ich war mir zu diesem Zeitpunkt sicher, dass es keine Tretminen im Wald gab und stand langsam auf. Bevor ich losging, dachte ich noch einmal an meine Familie und redete mir ein, dass sie sehr stolz auf mich gewesen wäre, wenn ich es nach Österreich geschafft hätte. Ich war vielleicht der einzige Korelev, der jetzt noch Jokov zur Strecke bringen konnte. Gerade als ich den ersten Schritt machen wollte, hörte ich ein Motorengeräusch. Die Schlepper waren zurückgekommen und ich überlegte kurz, ob ich umkehren sollte. Doch die gelogene Geschichte mit den Tretminen ging mir nicht aus dem Kopf und so kauerte ich mich wieder hin und richtete meine Augen auf den Lichtkegel eines Geländewagens, der auf das Versteck zufuhr. Sollten sie uns jetzt weiter transportieren, so würde ich mich unbemerkt wieder in die Gruppe drängen.

Der Wagen blieb stehen und die Scheinwerfer strahlten den Holzverschlag direkt an. Ich sah von meinem Versteck aus, wie zwei Männer aus dem Wagen stiegen. Sie trugen schwarze Lederjacken. Ich erstarrte. Einer von ihnen öffnete den Verschlag und befahl den Flüchtlingen herauszukommen. Sie stellten sich vor der Hütte auf und warteten auf weitere Anweisungen. Die Männer gingen hinter den Geländewagen und eine Zeitlang sah ich nur die Holzhütte und die kleine Gruppe davor, wie auf einer Bühne stehen, bereit ihre Szene zu spielen. Was dann kam war schlimmer als alles, was ich bisher gesehen hatte. Schlimmer als mein Freund Simeon, als er blutend vor mir im Straßendreck lag, schlimmer als der Friseurladen und sogar schlimmer als die Schreie meiner Mutter.

Ich musste mich an den Küchentisch setzen und wollte den Gedanken nicht zu Ende denken. Ich blickte in die Zeitung um mich abzulenken. Die Erinnerung an meine Flucht hatte ich bis heute nicht restlos verarbeiten können. Sie war schuld an meiner Gefühlskälte und an meiner Kompromissunfähigkeit. Frauen und Mädchen, die ich danach kennengelernt hatte, warfen mir vor, ich sei hartherzig und egoistisch. Ich würde über Leichen gehen, wenn ich mein Ziel erreichen wolle. Ich hatte diese Vorwürfe lange nicht verstanden. Für mich war es selbstverständlich, dass ich mir Ziele setzte und diese unter allen Umständen zu erreichen versuchte. Wozu wären Ziele sonst gut, wenn man sie bei den ersten Schwierigkeiten umformulieren oder gar aufgeben würde? Das ist nicht gefühlskalt oder egoistisch, sondern stark und konsequent! Und wenn irgendjemand das nicht verstehen konnte, dann war es besser mir aus dem Weg zu gehen! Ich hätte die Flucht nicht geschafft, wenn ich den Schwierigkeiten damals aus dem Weg gegangen wäre oder irgendjemandem außer meiner Familie vertraut hätte. Doch es musste irgendetwas Wahres an diesen Vorwürfen sein, denn die meiste Zeit lebte und arbeitete ich alleine. Ohne Partner im Leben und ohne Partner im Beruf.

Ich war in Gedanken schon fast bei meinen gescheiterten Beziehungen angelangt, als mir meine Erinnerung einen Streich spielte und wieder in das kleine Waldstück an der österreichischen Grenze zurückkehrte.

Ich hörte ein Geräusch, wie wenn Luftballons zerplatzten. Rasche kurze Knaller. Unheimlich schnelle und viele Platzer. Die Gruppe vor dem Versteck, in dem ich noch vor wenigen Minuten selbst gewartet hatte, auf ihrer grell beleuchteten Bühne, begann zu schreien und zu zucken. Es sah einen Moment so aus als würden sie zu einem eigenwilligen Rhythmus tanzen. Einige versuchten weg zu laufen oder sich hinter dem Verschlag in Sicherheit bringen. Doch keiner von ihnen schaffte es. Nach wenigen Sekunden war der Spuk vorbei und die Flüchtlinge tot. Die Männer in den schwarzen Lederjacken hatten sie eiskalt mit schallgedämpften Maschinenpistolen erschossen. Ich war wie versteinert hinter seinem Baum versteckt und begriff nicht, was hier vor sich gegangen war. Ich wollte schreien, mein Magen drehte sich um, Tränen traten mir in die Augen. Sämtliche Kraft schien meinen Körper zu verlassen. Erst allmählich wurde mir klar, dass keiner der Flüchtlinge, die bis hier her gekommen waren, jemals den Westen gesehen hatten. Und es würde auch niemandem, der dieser Bande vertraute, die Flucht gelingen. Dieser Wald war ein einziges Massengrab!

Mir wurde plötzlich klar, was das für Mutter und Radka bedeutete und Bäche von Tränen liefen über meine Wangen herunter. Ich hatte noch nie so geweint, seit ich mich erinnern konnte. Nur einmal bei der Sache mit Simeon. Doch jetzt schossen die Tränen in Strömen über mein Gesicht. Ich weinte um Radka, um Plamen, Vater und Mutter. Nach und nach wich die Ohnmacht und ich wurde zornig. Ein Gefühl, das ich erst einmal empfunden hatte. Ich wollte diese Männer jagen wie damals Simeon. Ich war jetzt voller Wut und Hass für diese Verbrecher. Nun wusste ich, was Jokov mit mir vorgehabt hatte. Er wollte mich einfach abknallen und wie einen räudigen Hund liegen lassen. Onkel Stanimir und Vater waren im Kampf gefallen, Plamen war verschleppt und vermutlich getötet worden. Radka und Mutter waren ebenfalls verschleppt worden. Vielleicht tot oder irgendwo in einem Bordell. Oder sie waren auf dem Weg hierher. Ich konnte nichts für sie tun und sie nicht vor dem gleichen Schicksal bewahren, das unsere Fluchtgruppe ereilt hatte. Ich war verzweifelt. Immer noch rasten die Gedanken durch meinen Kopf. Ich konzentrierte mich nicht mehr darauf, was sich bei der Hütte abgespielt hatte. Das wäre mir fast zum Verhängnis geworden. Die beiden Killer hatten die Leichen durchsucht. Offensichtlich suchten sie nach Dokumenten, die eine Identifizierung der Leichen ermöglichte. Dann begannen sie die Leichen zu zählen. Und mir wurde klar, was das für mich bedeutete. Dann entdeckten Sie den Durchlass in der Wand des Holzverschlages. Zwei weitere Männer mit Maschinenpistolen sprangen aus dem schwarzen Jeep. Jeder machte sich in eine andere Richtung auf die Suche nach mir. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie mich finden würden. Ich kroch rückwärts tiefer ins Unterholz und als ich die Hütte kaum noch erkennen konnte, stand ich auf und lief davon. Ich achtete nicht auf Äste, Zweige oder Büsche. Ich rannte einfach drauf los. Mutter und Radka hatten nur dann eine Chance, wenn ich diesen Mördern über die Grenze entwischen konnte und sie irgendwie warnen konnte. In diesem Wald würden sie sonst sterben, so wie alle anderen. Ich rannte immer schneller, fiel hin, prallte gegen Büsche und Bäume, schlug mir den Kopf, die Knie und die Hände blutig. Die Killer hörten den Lärm, den meine Flucht verursachte und nahmen die Verfolgung auf. Wieder vernahm ich die Schüsse und eine Kugel schlug nicht weit von mir in einem Baum ein. Ich schlug einen Hacken und lief fast im rechten Winkel ein paar Schritte. Ich wusste nicht, wo ich aus dem Wald kommen würde oder ob ich nicht noch weiter hineinlief. Also machte ich wieder einen Hacken und rannte in die ursprüngliche Richtung weiter. Die Schüsse kamen näher, wurden lauter. Die Kugeln schlugen immer dichter neben und hinter mir ein. Ich stolperte wieder, stürzte und die knackenden Äste führten die Männer immer näher zu mir. Trotz Schmerzen im Knie sprang ich auf, lief immer weiter. Wieder schlug ich einen Hacken und glaubte in einiger Entfernung einen Lichtkegel zu entdecken. Sofort warf ich mich flach auf den Boden und lugte vorsichtig unter einem Busch hervor. Hinter mir hörte ich die Verfolger näher kommen. Vor mir entdeckte ich tatsächlich einen grellweißen Lichtkegel. Ich saß in der Falle. Sie hatten mich umzingelt! In wenigen Augenblicken würden sie mich entdeckt haben und dann erschießen. Doch anstelle von Angst empfand ich damals nur Sorge, Trotz und Kampflust. Ich dachte nur an meine Familie. Ich wusste, dass ich ein Wunder brauchte, doch ich wollte kämpfen bis zum Schluss. Mir fiel Vater ein, wie er im Garten stand, als die Schläger die Gemüsebeete zerstörten. Ich würde den Killern nicht die Genugtuung geben, in dem ich um mein Leben bettelte. Doch nun hatten sie mich umzingelt. Ich hörte mehrere Schüsse vor mir. Die Kugeln schlugen einige Meter neben mir ein. Nun war es egal. Ich konnte hier liegen bleiben und sterben oder noch einen letzten Versuch unternehmen, Jokovs Männern zu entkommen. Von vorne und von hinten peitschten nun die Schüsse und ich vernahm das Keuchen meiner Jäger. Langsam erhob ich mich vom Waldboden und drehte mich im Kreis. Ich wollte meinen Verfolgern in die Augen blicken, wenn sie auf mich schossen. Ich wollte, dass sie in meine Augen sehen mussten, wenn sie abdrückten. Sie sollten wissen, dass ich keine Angst mehr vor ihnen hatte. Sie sollten zu Jokov gehen und ihm sagen, dass ich sie, dass ich Jokov ausgelacht hatte. Doch plötzlich waren die vier Männer in den schwarzen Lederjacken verschwunden. Kein Lichtkegel, kein Keuchen und keine Schüsse mehr. Ich drehte mich wieder um und sah immer noch den einzelnen Lichtkegel, doch größer und in geringer Entfernung. Vorsichtig ging ich auf das Licht zu. Ich hielt mir die Hand vor die Augen als ich geblendet wurde. Jetzt merkte ich die Anspannung. Ich spürte, dass mein Kopf schmerzhaft pochte und merkte, dass ich hinkte und das rechte Bein kaum noch belasten konnte. Ich lehnte mich an einen Baum und blickte direkt in das Licht. Stimmen und Rufe in einer Sprache, die ich nicht kannte, drangen durch das grelle Licht zu mir herüber. Ich hob die Arme und humpelte einige Schritte nach vorne. Ich war am Waldrand angekommen. Warum schossen diese Kerle jetzt nicht auf mich? Warum machten sie nicht Schluss mit der Jagd? Hier und jetzt. Wollten Sie mich weiter jagen, wie ich Simeon gejagt hatte? Hatten Sie erfahren, was ich mit dem Sohn eines ihrer Männer getan hatte? Als ich ganz aus dem Wald heraustrat, rechnete ich damit, einen Schuss zu hören. Die Schmerzen des Einschlags zu spüren, wenn das Projektil meinen Körper zerfetzte. Mehr, als ich jetzt bereits an Schmerzen empfand. Ich blutete stark aus einer Wunde am Kopf und hatte mir das rechte Knie übel verletzt. Ich stand schwankend einer Gruppe von Männern gegenüber, die mir etwas zuriefen, was ich nicht verstand. Ich verstand sie nicht, aber ich sah die Läufe von mehreren Maschinengewehren. Dann brach ich zusammen. Das letzte, was ich wahrnahm, bevor ich das Bewusstsein verlor, war, dass sich ein Mann über mich beugte. Er trug eine Uniform und eine Armschleife. Eine rot-weiß-rote Armschleife.

Der Zarewitsch

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