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Albtraum

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Jeden Morgen dasselbe. Clara stand nach dem Weckerklingeln ohne Probleme auf. Phillip kam schwer auf Touren, obwohl er sich bemühte. Im Badezimmer putzte er sich stundenlang summend die Zähne und hatte folglich nur wenig Zeit für das Frühstück. Dabei sollte er sich die Zähne nach dem Essen putzen. Es kam vor, dass er sich nicht entscheiden konnte, welches T-Shirt er anziehen sollte. Ein anderes Mal wollte er vier Tage in der Woche dasselbe tragen.

Aber, nun hatten sie es geschafft. Die Kinder waren auf dem Weg. Anja zog die Autotüre zu und schaltete die Zündung ein. Da sah sie Phillip zurück ins Haus rennen. Was war denn bloß wieder los?

Sie stieg aus dem Auto. »Turnzeug vergessen?«

»Ja, und wir sollen 3,50 € für den Tagesausflug nächste Woche mitbringen.«

»Konntest du nicht früher daran denken?«, fragte Anja vorwurfsvoll.

Dann sah sie Phillips betretenes Gesicht und es schoss ihr durch den Kopf, dass es ihre Aufgabe war, nachzufragen, ob etwas anläge. Schließlich war er erst in der zweiten Klasse! Sie selbst hatte sich gestern nur mit enormer Anstrengung aufraffen können, mit Phillip die Hausaufgaben durchzusprechen.

»Hier ist das Geld. Kommt, ich fahre euch zur Schule, sonst seid ihr zu spät. Es wird schon nicht so schlimm sein, wenn ich mal nicht pünktlich bin.«

»Frau Sonnenfeld kann es sich leisten, jeden Tag ein paar Minuten später zu kommen«, tönte es Anja entgegen, als sie den Umkleidungsraum betrat.

Anja war geschockt von dem drohenden Unterton ihrer Kollegin Marga, bemühte sich aber, ihn zu ignorieren. »Hallo allerseits«, sagte sie. »Es tut mir leid, aber die Kinder waren spät dran. Da habe ich sie zur Schule gefahren.«

»Noch so eine Super-Mama, die ihren Kindern die Hand unter den Hintern hält und sich nachher wundert, dass…. Und überhaupt, wenn die Kinder zu spät kommen, dann liegt das doch an den Eltern, oder?«

Wortlos betrachtete Anja die mürrische Frau mit den zusammengezogenen Augenbrauen und heruntergezogenen Mundwinkeln, schwang sich in den Kittel und verschwand, um ihren Schützlingen bei der Morgentoilette zu helfen. Die meisten waren froh, sie zu sehen, völlig unabhängig davon, dass es etwas später war als sonst.

Frau Duderstett war in ihrer Nasszelle und hatte schon mit dem Waschen begonnen. Anja lobte sie dafür überschwänglich, denn normalerweise wollte Frau Duderstett nur in Ruhe gelassen werden. Ein Strahlen ging über das Gesicht der alten Frau.

»Und morgen nehmen wir als Erweiterung des Programms einen neuen Lappen und warmes Wasser zur Hilfe«, lachte Anja, »Abgemacht?«

»Abgemacht. Helfen Sie mir beim Anziehen«?

»Nur, wenn Sie mir erklären, warum Sie nicht mehr zum Spielenachmittag gehen!«

»Will ich ja, aber die anderen gewinnen immer!«

»Immer?«

»Na ja, die letzten drei Mal.«

»Na, logischerweise sind Sie die nächsten Male dran.«

»Glauben Sie wirklich?«

»Ganz sicher. Also, gehen Sie?«

»Na ja, wenn Sie das sagen, aber wehe, sie haben nicht recht und ich verliere wieder.«

Anja lächelte Frau Duderstett verschmitzt an und sagte: »Ich habe recht«, und schickte sicherheitshalber ein kleines Stoßgebet gen Himmel. Als sie das Zimmer verließ, leuchtet auf dem Display des Stationshandys Herr Stegers Zimmernummer.

Marcos Herz klopfte und er zitterte vor Anspannung, hatte er doch seine Ausrüstung peinlichst genau geprüft. Vieles war in zweifacher Ausführung vorhanden für den Fall, dass etwas verloren ging oder funktionsuntüchtig wurde: Helm, Handschuhe, Steigeisen, Seile, Eispickel, Karabiner und, und, und…

Er und seine zwei Expeditionskumpel waren doch alle drei erfahrene Bergsteiger. Ein Jahr lang hatten sie sich vorbereitet: Karten studiert, Erfahrungsberichte gelesen und vor allem trainiert und sich körperlich fit gemacht. Deshalb ... Wieder ging ein Zittern durch Marcos Körper und…

Anja stieß energisch die Tür zu Marco Stegers Wohneinheit auf und sah, dass sie ihn dabei aus einem unheilvollen Traum befreite. Er war angstschweißgebadet.

»Einen wunderschönen guten Morgen, Herr Steger. Was gibt es denn?«

»Wieso, was gibt‘s?«

»Na, Sie haben doch geklingelt?«

»Nein, hab ich nicht!«

»Ist auch egal, ich hatte ohnehin vorgehabt, bei Ihnen mal wieder nach dem Rechten zu schauen. Vermutlich sind Sie versehentlich an die Klingel gekommen. Sie sehen blass und gestresst aus.«

»Ich hatte einen fürchterlich chaotischen Traum.«

»Träume sind oft chaotisch, meine ebenfalls.«

»Ja, aber meiner beginnt immer gleich: Ich sichte und kontrolliere meine Ausrüstung. Wir fahren nach Kathmandu, nehmen den Bus nach Nyalam, bauen nach zwei Tagen Fußmarsch das Basiscamp auf, und dann beginnt das Chaos… jedes Mal anders, aber ähnlich entsetzlich. Bisweilen habe ich den Eindruck, dass es mit jeder Wiederholung grauenhafter wird.«

»Ein Traum, der immer wieder kommt?« Anja näherte sich Herrn Steger vorsichtig.

»Ja, gut, dass Sie gekommen sind… Es war heute nur der Anfang.«

»Da sehen Sie mal. Soll ich öfter vorbeischauen?«

»Vielen Dank. Das ist nicht nötig. Ich komm‘ schon alleine klar«, erklärte Herr Steger so unvermittelt kühl und abweisend, dass Anja kurz überlegte, den Raum zu verlassen. Doch sie gab diesem Impuls nicht nach, sondern setzte sich ans Fenster und blickte hinaus.

Gestern noch hatte sie mit Mona darüber gesprochen, dass es Heimbewohner gibt, die sich aus scheinbar unerfindlichen Gründen unvermittelt zurückziehen.

»Nimm es nicht persönlich«, hatte Mona gesagt. »Die eigene Hilfsbedürftigkeit zu akzeptieren ist für viele wahnsinnig schwer. Zu ahnen, dass das eigene Selbstbild illusionär ist, macht viele traurig oder lässt sie verzweifeln. Wie oft habe ich diesen schmerzhaften Ernüchterungsprozess beobachtet. Es ist möglich, die Menschen, so gut es eben geht, mitfühlend zu begleiten. Nur, abnehmen können wir es ihnen nicht. Leider ist es oft ein Vorstadium einer tiefer gehenden Resignation.«

Nein, abnehmen können wir es ihnen nicht, wohl aber verständnisvoll begleiten. Monas Worte klangen in Anja nach.

»Na gut, wenn Sie schon mal da sind«, durchbrach Marco Steger Anjas Gedankenfluss, »dann könnten Sie mir ja neue Wäsche herunterreichen, beziehungsweise den Inhalt des obersten Regals weiter unten einordnen, ja?«

»Eine gute Idee, mache ich sofort«, sagte Anja, froh, etwas tun zu können.

»Und morgen erklären Sie mir die Sache mit dem Ankommen«, versuchte Anja, den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen.

»Ankommen?«

»Ja, Sie haben an ihrem ersten Tag gesagt, dass Ankommen für Sie Aufbruch und Abenteuer bedeutet, oder so ähnlich. Das fand ich ungewöhnlich, aber an die genauen Worte erinnere ich mich nicht mehr.«

»Wozu auch? Es ist völlig irrelevant - das interessiert hier sowieso keinen.« Anja wich unwillkürlich ein paar Schritte zurück.

»Wenn Sie meinen, dann auf Wiedersehen, Herr Steger. Ich hab noch ‘ne Menge zu tun.«

Irritiert verließ sie das Zimmer.

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