Читать книгу Aus smarter Silbermöwensicht - Martina Kirbach - Страница 6
Zuviel Alltag
ОглавлениеKaum hatte Anja einen Parkplatz in der Nähe ihrer Wohnung gefunden, fiel ihr ein, dass einige Lebensmittel fehlten, und beschloss, noch schnell einen Abstecher zum Supermarkt zu machen. Sebastian dachte selten ans Einkaufen und ließ sich, wenn der Kühlschrank leer war, eine Fertigpizza bringen.
Ein kurzer Blick aufs Handy. Gott sei Dank, keine Nachricht! Falls etwas mit Phillip vorgefallen wäre, hätte Clara sie informiert. Eine Mischung aus Erleichterung und Dankbarkeit durchflutete Anja bei dem Gedanken an ihre 10-jährige Tochter. Man sah dem zierlichen, blonden, auf den ersten Blick eher zurückhaltenden Mädchen nicht an, wie selbstbewusst es auftreten konnte. Zuhause übernahm sie Verantwortung für sich und ihren Bruder, in der Schule erledigte sie selbstständig und zielstrebig ihre Aufgaben. Ob das so bleiben würde? Wenn Anja an ihre eigene Kindheit zurückdachte… Wann hatte sie ihre Gradlinigkeit verloren?
Anja war in Lilienthal, unweit von Bremen aufgewachsen. Der Ort hatte zwar teilweise dörflichen Charakter, war jedoch schon von den Gewohnheiten der täglich pendelnden Bewohner geprägt. In ihrer Grundschulzeit hatte Anja Freunde aus Familien, die im Alltag noch rudimentär ländliche Bräuche pflegten. Ihre Bodenständigkeit, die festen Essenszeiten und klaren Regeln schufen einen behütenden Rahmen, in dem Anja sich geborgen fühlte. An ihre ersten vier Schuljahre erinnerte sie sich gerne.
Auf dem Gymnasium hingegen, das merkte Anja schnell, wehte ein anderer Wind. Die Klassen waren größer, in jedem Fach unterrichtete ein anderer Lehrer und es gab sehr viele Hausaufgaben. Anja konnte sich für Erdkunde, Biologie und Sport begeistern. Kunst und Deutsch waren okay. An Englisch und Mathematik verlor sie bald das Interesse. In Mathe schweiften ihre Gedanken wegen der umständlichen Erklärungen ab und in Englisch war sie jedes Mal überrascht, wenn ein Vokabeltest geschrieben wurde. Trotz Gymnasialempfehlung erreichte Anja das Klassenziel der fünften Klasse nicht. Als Einzige! Noch jetzt erinnerte sie sich an ihre Angst und das Gefühl der Scham in der Zeit nach diesen Sommerferien. Wie peinlich! Wie würden die neuen Mitschüler sie behandeln?
Diese Furcht und Sorge, den Erwartungen anderer nicht zu entsprechen! Dieses lähmende Gefühl tiefer Verunsicherung zog sich wie ein roter Faden durch Anjas Leben.
In ihrem neuen Zuhause, der WG mit Seb würde sie hoffentlich einiges davon hinter sich lassen. Es hatte sich als Ritual ergeben, dass sie unten an der Haupteingangstür klingelte und dann, wie erwartet, kurz darauf Clara und Phillip ihr ausgelassen entgegeneilen. Sie sprinteten um die Wette die Treppe herunter, und umarmten ihre Mutter: Phillip kurz und flüchtig, Clara hingegen hängte sich lachend an ihren Arm.
»Du Mama, ich wünsch mir ein Pferd!«
»Ich auch«, rutschte es Anja heraus, biss sich dann auf die Lippen. »Wie kommst du denn darauf?«
»Pferde sind einfach toll. Wunderschön, klug und gute Freunde. Ich habe das gelesen.«
Entgegen dem Impuls, ihrer Tochter Recht zu geben entgegnete Anja: »Ja, aber sie sind teuer und machen sehr viel Arbeit.«
»Ach«, schmollte Clara, hing aber weiterhin an Anjas Arm, sodass diese nur mühsam die Stufen erklimmen konnte. Gerade jetzt wollte sie um nichts in der Welt eine Spielverderberin sein.
Inzwischen war es 18:00 Uhr, als sie die Küche betraten. Die Spüle war voll mit dreckigem Geschirr, obwohl sie eine neue Spülmaschine angeschafft hatten. Anja spürte einen Anflug von Groll. Gewiss, Seb war die meiste Zeit zu Hause und hätte aufräumen können, aber sie verbiss es sich, herumzunörgeln. In ihrer Abwesenheit hatte sich Seb als ein zuverlässiger Ansprechpartner für die Kinder erwiesen, ohne dass sie ihn darum gebeten hatte. Sie wusste, dass, wenn sie auf der Arbeit war, seine Tür immer angelehnt war. Was für ein beruhigendes, neues Gefühl!
Kaum hatte Seb Anja kommen gehört, tauchte sie auf vor seinem inneren Auge: Die halblangen, kastanienbraunen Haare locker hochgesteckt, für gewöhnlich in Jeans und Sweatshirt, mit einem strahlenden Gesicht, das die Freude über die Kinder widerspiegelte. In den bernsteinfarbenen Augen blitzten meist Neugier, Interesse und etwas Spitzbübisches. Dennoch gab es Tage, an denen Müdigkeit und Erschöpfung überwogen.
Wie gerne wäre Seb mit Clara und Phillip Anja entgegengelaufen. Häufig ertappte er sich dabei, dass er nachmittags auf die Uhr schaute und sich fragte, wann sie zurück sein würde.
Wenn er schließlich die drei im Flur hörte, war es oft mit seiner Konzentration auf das Programmieren vorbei. Welch angenehme Unterbrechung! Überkam ihn doch in diesen Momenten ein Gefühl freudiger Erwartung. Erstaunlich, wie mühelos sich ihre beiden verschiedenen Lebensstile ergänzten. Anders als seine Mutter unterließ es Anja, sein völlig unvorhersagbares Schlaf- und Wachverhalten zu kommentieren. Vormittags hatte er die Wohnung für sich und nachmittags kamen ihm Phillips Ablenkungen nicht selten gelegen. Dessen unverblümte Fragen durchbrachen seine unsinnigen Gedankenspiralen. So hatte tags zuvor der Besitzer eines Onlineshops Seb gefragt, ob er ihm bei der Steigerung seiner Umsatzzahlen helfen könne. Voreilig hatte Seb geantwortet, dass sich mit Hilfe einer Auswertung der Besucherdaten der Website etwas machen ließe. Den ganzen Vormittag über hatte dann Seb ergebnislos über die konkreten Realisierungsmöglichkeiten gegrübelt. So war er heilfroh, als Phillip in sein Zimmer kam und ihn unterbrach: »Hi Seb.«
»Hallo Phillip. Ist dir langweilig?«
»Nein, aber was ist mit dir los? Du fluchst mal wieder wie nichts Gutes.«
»Stimmt, tut mir leid«, entschuldigte sich Seb. »Habe ich gar nicht gemerkt.«
»Außerdem siehst du aus, als ob dein Kopf gleich platzt.«
»So ähnlich fühlt sich das an«, gab Seb zu. »Ich muss unbedingt herausfinden, wieso die Besucher dieses Onlineshops hier so früh und oft ihre begonnenen Bestellvorgänge abbrechen. Theoretisch müsste ich das aus den vorliegenden Datensätzen herauslesen können. Nur, es gelingt mir nicht«.
»Frag die Leute doch direkt!«
Seb schlug sich mit der Hand vor die Stirn und brummte: »Danke, Phillip, das macht Sinn!«, bestens gelaunt begann er umgehend, ein Pop-up Tool zu programmieren, welches bei einem Abbruch des Bestellvorgangs sofort einen individuellen Kundenkontakt ermöglichte.
»Phillip, du bist genial!«, rief er ihm zu. Dieser nahm das Kompliment eher irritiert zur Kenntnis, runzelte die Stirn und verschwand aus Sebs Zimmer, denn Seb war schon in seine ureigene PC-Welt abgetaucht.
Clara, war nicht distanziert abweisend, doch in ihrer Art weitaus zurückhaltender. Seit ihrem Einzug beobachtete sie Seb abwartend. Sebastian fand das okay. Mädchen waren ihm bislang oft als Kunstprodukte erschienen, und was Clara anbetraf, war ihm nicht klar, ob sie ebenfalls in diese Kategorie fiel. Was ihn heute beschäftigte, war die Frage, ob Anja ihn wieder zum Abendbrot bitten würde. Zugegebenermaßen wartete er nur darauf. Bei Anjas Einzug hatten sie über das Thema »gemeinsame Mahlzeit« versus »Jeder kocht sein eigenes Süppchen« nicht gesprochen. In letzter Zeit trafen sie sich jedoch häufiger ›zufällig‹ in der Küche.
»Gab‘s was Neues?«, fragte Anja in die Runde, als sie alle vier beim Abendbrot saßen.
»Na ja«, murmelte Seb, »Phillips Klassenlehrerin bittet um einen Rückruf.«
»Oh nein, nicht schon wieder« stöhnte Anja. »Heute kann ich nicht mehr auf Stress, das mach‘ ich morgen in der Frühstückspause, ich bin jetzt zu k.o.«
Beide Kinder blickten auf ihre Mutter. Phillip überrascht und irritiert, Clara mitfühlend und besorgt. Sebastian verhielt sich neutral.