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Ein roter Pullover

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Als Marco Steger morgens die Augen aufschlug, zeigte sein Wecker bereits 9:00 Uhr an. Er hätte sich mit dem Anziehen beeilen müssen, um noch rechtzeitig im Restaurant der Seniorenresidenz zu frühstücken. Doch an die frische Kleidung im Schrank reichte er nicht heran. Er hatte Angst, sich zu strecken oder selbstständig zu stehen, um an das obere Fach zu gelangen. Jana hatte zwar seine Sachen in den Einbauschrank geräumt, aber nicht mitbedacht, wie eingeschränkt sein Handlungsradius inzwischen war.

Nun überkam sie ihn wieder, diese Furcht zu stürzen, denn es war bei einer ähnlichen Aktion vor zwei Monaten, dass er mitsamt Rollstuhl umgekippt war. Aus eigener Kraft war es ihm nicht gelungen, sich zu befreien oder aufzurichten.

Welch Glück, dass der Briefträger mit dem Einschreiben an der Wohnungstür geklingelt und länger gewartet hatte als üblich. Wer weiß, wann ihn sonst jemand aus seiner misslichen Lage befreit hätte. Die einsamen Stunden auf dem Boden, die Schmerzen, die Verzweiflung und vor allem der Ärger über sich selbst, all das war zu allgegenwärtig, als dass er sich erneut in Gefahr begeben würde.

Marco war durchaus bewusst, dass er den Sozialdienst des Hauses rufen konnte. Diese Hilfsmöglichkeit hatte ihm Jonas mehrfach vor Augen geführt, als er die Vorteile der Unterbringung im betreuten Wohnen andeutete. Aber nein, er wollte so lange wie möglich selbstständig bleiben, auch hier.

Andererseits, auf sich allein gestellt, müsste er jetzt die Wäsche von gestern anziehen. In einem Gefühlsmix aus Frust, Enttäuschung und Resignation griff Marco zur Klingel.

Anja sagte zu Mona: »Ich geh schon«, und machte sich auf zu Herrn Steger. Gerade hatte Mona sie mit den Kindern zum Grillen eingeladen und dementsprechend gut war Anja gelaunt. Kein Interessenkonflikt, keine schwierige Entscheidung, alles schien heute zu passen.

»Einen wunderschönen guten Morgen, Herr Steger. Was kann ich für Sie tun?«, fragte Anja gutgelaunt.

Marco war es sehr peinlich, vor einer fremden Frau noch im Schlafanzug zu sein, doch er hatte nachts lange grübelnd wachgelegen, und war erst mit dem beginnenden Vogelgezwitscher eingeschlafen.

»Guten Morgen, schön, dass Sie es sind. Es tut mir leid, dass ich Sie bemühen muss, aber ich komme nicht ohne Hilfe an meine Kleidung. Können Sie mir helfen?«

»Klar, dafür bin ich doch da.«

»Danke, bitte geben Sie mir einen Pullover von oben, ja?«

»Gerne, hier, meinen Sie den roten, kuscheligen?«

»Auf keinen Fall.«

»Sie mögen kein Rot?«

»Doch, nur dieser erinnert mich an ….« Marco Steger verstummte abrupt.

»Ja?«

»Ist nicht wichtig!«, sagte Herr Steger schnell und bestimmt.

»Was halten Sie von diesem braunen Seelenwärmer?«

»Genau den meine ich, herzlichen Dank.«

»Brauchen Sie sonst noch etwas?«

»Nein, danke, den Rest kann ich allein.«

»Wunderbar, ansonsten melden Sie sich bitte. Ja? Haben Sie eigentlich schon gefrühstückt?«

»Nein, ich habe keinen Hunger«, sagte Marco und fuhr mit dem Rollstuhl rasch in Richtung Badezelle, damit Anja nicht hörte, wie sehr sein Magen knurrte.

Kaum zu glauben! Frühstückspause und es hatte den Anschein, dass die Kollegen heute alle gemeinsam zusammen essen würden. Zwei Bewohner waren zur Dialyse abgeholt worden, eine dritte hatte Besuch von ihrer Tochter, die gerne die Pflege ihrer Mutter für einige Stunden übernahm. All dies bedeutete weniger Hektik.

Der Sozialraum war nicht sonderlich behaglich. Das graublaue Neonlicht, die Schleiflackschränke, die fahlgrünen Gardinen, luden nicht zum Verweilen ein. Und dennoch, wie dankbar waren alle Mitarbeiter für einen solch seltenen Moment des Innehaltens. Mona war die Einzige, die gelegentlich den Tisch mit Blümchen dekorierte. Ansonsten überwogen angefangene Konfekt- und Kekspackungen, in welche die Mitarbeiter hektisch griffen, um kurzfristig ihren Heißhunger zu lindern.

»Und wie geht es deinen Kindern?«, wandte sich Emma an Anja. Siedend heiß fiel Anja der anstehende Anruf bei Phillips Klassenlehrerin ein.

»Es geht so, aber ich muss jetzt schnell telefonieren«, antwortete Anja kurz und verließ eilig das Dienstzimmer.

»War ja klar, die hat ja immer was anderes zu tun«, zischelte Marga zu ihrer Nachbarin, sodass Anja die Bemerkung nicht mehr hörte.

Was mochte die Lehrerin wohl von ihr wollen? In Anjas Augen war Phillip ein aufgewecktes, an vielem interessiertes Kind mit einem feinen Gespür für Ungerechtigkeit, nicht nur was ihn, sondern auch, was andere betraf. Er war für sein Alter zwar nicht groß, aber reaktionsschnell und beweglich. Seine Energie und Ausdauer bei Aktivitäten im Freien beeindruckten Anja. Gerade hatte er den Fußball für sich entdeckt. Auf die Schule hatte er sich unheimlich gefreut und war sehr gerne in die erste Klasse gegangen. Anfangs hatte er bereitwillig die Hilfe seiner älteren Schwester angenommen, wenn er vergessen hatte, wie die Hausaufgaben zu erledigen waren. Jetzt, in der zweiten Klasse, war die Begeisterung verblasst, immer häufiger schimpfte er über die Übungen oder auch über seine Mitschüler. Anja hielt das für relativ normal.

»Frau Sonnenfeld, gut, dass Sie anrufen. Wir müssen uns unbedingt über Phillip unterhalten. Ich weiß gar nicht, was mit ihm los ist. Im Unterricht fängt er eine Aufgabe an, bearbeitet sie oberflächlich oder unvollständig und springt unvermittelt zur nächsten. Dann kehrt er zur ersten zurück, weil er merkt, dass diese leichter zu lösen und oftmals Voraussetzung für die Folgeaufgaben ist. Am Ende hat er kein Ergebnis vorzuweisen und ist frustriert.«

»Ist es wirklich so schlimm?«

»Na ja, im letzten Jahr ging es, da kannte er vieles von der Vorschule. Seit den Osterferien wird es zunehmend problematischer. Hat sich etwas an ihrer häuslichen Situation verändert?«

»Eigentlich hat sie sich verbessert. Wir sind umgezogen, innerhalb desselben Stadtteils, und ich habe eher das Gefühl, dass ihm die größere Wohnung guttut. Er hat jetzt sein eigenes Zimmer.«

»Ja, ich weiß auch nicht. Vielleicht reicht es ja vorerst einmal, wenn Sie regelmäßiger seine Hausaufgaben kontrollieren. Das ermöglicht es ihm, bei Stundenbeginn ein paar Erfolgserlebnisse zu haben.«

»Das werde ich tun.«, versprach Anja kleinlaut. Den vorwurfsvollen Unterton in Frau Vittels Stimme hatte sie sich nicht eingebildet.

Trotz Anjas Versprechen, regelmäßiger Phillips Hausaufgaben zu überprüfen, vergaß sie just am selben Abend, die Kinder überhaupt nach der Schule zu fragen. Gott sei Dank war erst Sonnabend, sodass sie am Sonntag noch die Chance hatten, die nächste Woche vorzubereiten. Wie naiv war sie gewesen zu erwarten, dass, nur weil Clara keine Schulprobleme hatte, es bei Phillip ähnlich laufen würde! Am Ende des zweiten Schuljahres würde es, statt eines Notenzeugnisses, wieder einen Lernentwicklungsbericht geben. Der letzte, erinnerte sich Anja dunkel, hatte vielversprechend geklungen. Doch, hatte sie die Formulierungen dieses notenfreien Zeugnisses richtig interpretiert? Der warnende Unterton der Klassenlehrerin beim letzten Telefonat stand hierzu im krassen Gegensatz. Mit der mahnenden Stimme von Frau Vittel tauchten bei Anja unliebsame Bilder aus ihrer eigenen Schulzeit auf: Wie ein Biolehrer plötzlich hinter ihr stand und ihr das Heft entriss, in welchem sie zig winzige, wunderschöne bunte Fische gezeichnet hatte. Und wie er das Heft in der ganzen Klasse herumgezeigt und höhnend gefragt hatte, was das mit dem Stundenthema zu tun hätte. Und die Worte: »Solche Fische gibt’s nicht. Die Anatomie ist völlig falsch. Falsch. Falsch!«, klang ihr heute noch im Ohr. Es war genau an diesem Tage, dass sie selbst am Kunstunterricht den Spaß verloren hatte.

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