Читать книгу Aus smarter Silbermöwensicht - Martina Kirbach - Страница 8
Helfersyndrom
ОглавлениеSeb hatte sich ausnahmsweise den Wecker gestellt, da er seinen alten, rostigen Golf vor dem TÜV in der Werkstatt durchchecken lassen wollte.
Am Geschirrberg konnte er ablesen, dass Anja und die Kinder wieder in Hektik die Wohnung verlassen hatten. Okay. Kurz entschlossen räumte er die Geschirrspülmaschine ein, putzte den Herd, wischte die Krümel vom Tisch und stellte die Müslisachen an ihren Ort. So sah die Küche gemütlich und einladend aus. Ob Anja es bemerken würde? Auf dem Weg vorbei am Badezimmer fielen ihm die mittelgroßen Haufen schmutziger Wäscheteile auf, die dort auf dem Boden verteilt lagen - die meisten davon seine. Oh nein, dies konnte er jetzt nicht auch noch erledigen. Der Werkstatttermin war wichtiger.
Auf dem Weg zum Auto traute Seb seinen Augen nicht. Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig schlenderte eine ihm vertraute Gestalt: Sein ehemaliger Studienfreund Max, der sich trotz weißem Hemd, Sakko und Schnürschuhen betont lässig gab.
»Mensch Max!«, rief Seb über die Straße, »Was machst du denn hier?«
»Dasselbe könnte ich dich auch fragen, «antwortete Max und kam ihm entgegen. »Hey, Alter, du hast dich gar nicht verändert. Kein Geld für den Frisör und immer noch dasselbe Hemd!«
»Das gleiche, mein Lieber, das gleiche. Du erinnerst dich, dass ich damals fünf davon gekauft habe«, korrigierte ihn Seb. »Lange nicht gesehen. Ich dachte, du wärst in Australien.«
»War ich auch. Aber jetzt bleiben wir erstmal hier. Inges Arbeitserlaubnis wurde nicht verlängert und da haben wir uns kurz entschlossen, zurück nach Deutschland zu kommen. Das ist schon sieben Monate her.«
»Warum hast du dich nicht gemeldet, alter Knabe?«, fragte Seb gespielt vorwurfsvoll.
»Wieso hast du mich nicht in Australien besucht, wie du so groß angekündigt hattest?«, konterte Max. »Ich hab‘ dir immerhin zwei Postkarten geschickt, obwohl ich nicht wusste, ob deine alte Adresse noch aktuell ist. Du wolltest doch damals raus aus Bremen.«
»Stimmt. Will ich eigentlich immer noch, aber dann ist Anja bei mir eingezogen….«
»Du hast ‘ne Freundin? Hey, erzähl‘ mal!«
»Nein, nicht, was du denkst. Ist eher ‘ne WG, ‘ne Zweckgemeinschaft, verstehst du?«
»Na ja, das hätte ich mir fast denken können. Du und ‘ne Freundin. Du kannst sie mir ja trotzdem mal vorstellen.«
Seb runzelte die Stirn.
»Ist was?«, fragte Max scheinheilig und schwenkte, als Seb nicht antwortete, um: »Was hast du inzwischen gemacht?«
»Nachdem du und Tobi ausgezogen wart, konnte ich die große Wohnung nicht mehr über längere Zeit alleine halten. Ein Jahr lang habe ich die Zimmer an andere Studenten untervermietet, aber es war nie wieder so lustig wie mit euch beiden damals.«
»Jou, das war ‘ne Zeit, hast du eigentlich inzwischen deinen Master?«
Seb ignorierte die Frage und fuhr fort: »Ich wollte dann lange Zeit lieber alleine wohnen, hatte aber nicht den Nerv, auf Wohnungssuche zu gehen. Außerdem finde ich es hier im Viertel nach wie vor recht nett.«
»Kann ich verstehen.«
»Wie finanzierst du die Bude?«
»Eine Zeit lang hatte ich ein paar gut bezahlte Jobs, war für einige Firmen die digitale Feuerwehr. Leider haben erfolgreiche, expandierende Unternehmen inzwischen ihre eigenen festangestellten Programmierer oder Subunternehmer.«
»Ich frag dich jetzt nicht, warum du leer ausgegangen bist.«
»Ich verstehe es selbst nicht, vermutlich liegt es doch am fehlenden Abschluss. Da kucken die Personalleiter drauf, egal, was man tatsächlich kann. Aber ich komme über die Runden. Anja übernimmt zwei Drittel der Kosten und ist froh, mit ihren Kids mehr Quadratmeter zu haben.«
»Eine ›bürgerliche Kleinfamilie‹, wie find ich das denn? Wenn mir das einer vor zwei Jahren erzählt hätte!«
»Glaub‘, was du denkst.«
»Sag mal, Seb, ich habe mir vor wenigen Tagen einen neuen Laptop gekauft, einige Funktionen sind mir unklar und mein PC spinnt ebenfalls. Könntest du vorbeikommen und mir helfen?«
Die Situation kam Seb seltsam bekannt vor. Trug er ein T-Shirt mit dem Aufdruck ‚Digitale Pannenhilfe 24/7‘?
»Schon möglich.«
»Übermorgen?«
»Wenn‘s sein muss.«
»Hier, meine neue Adresse, mit der Straßenbahn bist du in zehn Minuten da.«
»Okay. Übermorgen gegen drei.«
»Das geht nicht. Da habe ich ein Vorstellungsgespräch. Lieber um 13:00 Uhr. Es macht dir doch nichts aus, wenn es bei uns etwas chaotisch aussieht? Inge hat augenblicklich ihre puristische Phase, möchte sich von allem Überflüssigen trennen und dabei lässt sie keinen Schrank aus.«
»Das ist mir völlig egal. Meinetwegen um 13:00 Uhr. Ich muss jetzt weiter!«
Leicht genervt und hektisch startete Seb seinen rostigen Golf und würgte ihn gleich zwei Mal ab. Wieder einmal hatte er sich überreden lassen, einem PC-Analphabeten aus der Patsche zu helfen! Zeitweilig tat er es gerne, und war stolz, wenn er nach wenigen Minuten die Ursache einer scheinbaren Funktionsstörung identifiziert und behoben hatte.
Andererseits kam es leider auch vor, dass er für die Fehlersuche mehrere Stunden brauchte. Jetzt malte er sich aus, wie Max dann sein ‚Siehste-mal-wie-kompliziert
-das-ist-Gesicht‘ aufsetzen und ihn damit zusätzlich unter Zeit- und Leistungsdruck setzen würde. Nervig war es immer. Besonders schmerzhaft wurde es, wenn solche Leute kurz darauf begannen, herablassend über Computerfreaks zu lästern. Max hatte stets einen Hang zu Überheblichkeit gehabt.
Als Seb schließlich verspätet auf den Hof der Autowerkstatt fuhr, kam ihm die Idee, eine mentale schwarze Liste mit den Personen anzulegen, die ihn ausnutzten. Zu welchem Zweck war ihm selbst nicht klar, doch allein der Gedanke tat ihm gut. Und so schlenderte er wenig später freudig gelaunt, entspannt die Uferpromenade der Schlachte entlang.
Wie die jungen hellgrünen Blätter der Ahornbäume wandte Seb sein Gesicht den ersten Strahlen der Sonne entgegen und genoss den Frühling. Unvermittelt nahm er auf den Stufen einer Fußgängerbrücke Platz und war mit sich und der Welt zufrieden.
Es war nach 23:00Uhr, doch Seb saß noch vor zwei Computerbildschirmen, umringt von Zeitschriftenstapeln und diversen leeren, wie halbvollen Kaffeetassen. Auf dem Bett lag flüchtig zusammengelegte, saubere Wäsche. Obwohl seine Türe nur angelehnt war, klopfte Anja vorsichtig an und schob sie einen Spaltbreit auf, ohne selbst einzutreten. Seb wandte sich ihr zu. »Hi Anja, was gibt’s?« Er lächelte freundlich.
»Du Seb, kannst du mir einen Gefallen tun?«
»Nur, wenn es nicht um PCs geht. Schieß schon los.«
»Darum geht es nicht, aber ... «, Anja zögerte einen Moment, ... »Du hattest mir mal angeboten, am Wochenende auf Phillip und Clara aufzupassen, erinnerst du dich?«
»Hab ich das?«
»Hast du, das weiß ich genau ... und morgen ist mal wieder Personalnotstand auf Station.« Anja ließ sich Zeit, weiterzusprechen. »Und, ich habe versprochen, einzuspringen.« Anja schien schuldbewusst und erfolgsgewiss zugleich.
»Ohne mich vorher zu fragen. Das grenzt ja an Nötigung«, empörte sich Seb fadenscheinig.
»Wieso Nötigung? Du kannst ja ‚nein‘ sagen.«
»Gibt es hier vielleicht jemanden mit Helfersyndrom? Was ist, wenn ich wirklich ‚nein‘ sage?«
»Dann versuche ich, mir die Schicht mit Mona zu teilen.« Anja griff zu ihrem Handy.
»Das ist ja wohl ein wenig zu spät, um anzurufen, findest du nicht?«
»Seb?«
»Ja?«
»Ich kann den Feiertagszuschlag gut gebrauchen.«
»Ich weiß. Hast du eigentlich gesehen, dass ich euren Frühstückskram weggeräumt habe?«
»Hab ich, vielen Dank. - Und ist dir aufgefallen, dass ich nichts zu deinem Müll im Badezimmer gesagt habe? ... Also?«
»Was, also?«
»Bist du morgen hier und….«
» …spielst Kindermädchen?«
»Bitte!«
»Okay. Meinetwegen.«
»Danke, du bist ein Schatz.« Anja warf ihm eine Kusshand zu, war im Handumdrehen heraus aus der Tür und in ihrem Zimmer verschwunden.
Sebastian lag noch einige Zeit wach und überlegte, ob er eine zweite mentale Liste anlegen sollte, doch ihm war nicht klar, in welcher Farbe. Vielleicht hellgrün? Sicher mit vielen Fragezeichen versehen. Nein, er schob den Gedanken beiseite. Es war ein gutes Gefühl, gebraucht zu werden. Um ehrlich zu sein, freute er sich auf die endlosen Diskussionen und Scheingefechte mit Phillip. Auch für Clara würde ihm gewiss etwas einfallen.