Читать книгу Aus smarter Silbermöwensicht - Martina Kirbach - Страница 15
Eine Frage der Kollegialität
ОглавлениеKaum hatte Anja die Stationstür aufgestoßen, dass Marga sie mit den Worten begrüßte: »Na das scheint ja einzureißen, dein ‚Zu-spät-Kommen‘«. Es traf zu, Anja hatte tanken müssen und war dann auf der Autobahn in einen Stau geraten. Folglich war sie 20 Minuten zu spät und Marga und Emma waren mit dem Übergabegespräch bereits fertig.
»Nur weil du hier als ungelernte Kraft arbeitest, glaubst du, bei den Besprechungen nicht dabei sein zu müssen! Versuchst es dir so angenehm, wie möglich zu machen, während wir uns hier abrackern!«
Anja schnappte nach Luft. Das Letzte, was sie wollte, war, sich vor Arbeit zu drücken. Gerne hätte sie mehr Verantwortung übernommen, aber Emma und Marga sorgten schon dafür, dass die Zuständigkeitsbereiche sauber getrennt blieben.
»Tut mir leid«, brachte sie nur heraus.
»Das fällt mir schwer zu glauben. Mal seh‘n, was für eine Ausrede dir heute einfällt!«, setzte Marga noch eins drauf.
Mit Verständnis war offensichtlich nicht zu rechnen. Deshalb schwieg Anja und war froh, als sie zum Bettwäsche wechseln in ein Patientenzimmer geschickt wurde und den Raum verlassen konnte.
»Ach ja. Und wenn Sie damit fertig sind, Anja« , rief Marga ihr hinterher, »gehen Sie bitte zu Herrn Steger, der hat ausdrücklich nach Ihnen gefragt. Weiß der Kuckuck, warum.« Der süffisant-missbilligende Ton war Anja nicht verborgen geblieben, doch sie schwieg.
Als 16-Jährige hatte Anja während eines längeren Klinikaufenthaltes erfahren, wie unangenehm es ist, sich bei den einfachsten Handhabungen der persönlichen Hygiene helfen lassen zu müssen. Sie wusste, wie die Heimbewohner ihre eigene zunehmende Bedürftigkeit erlebten und konnte deren Verzweiflung gut nachempfinden. Deshalb bemühte sie sich, möglichst diskret zu helfen.
»Guten Morgen Frau Anja, schön, dass Sie da sind. Wie heißen Sie eigentlich mit Nachnamen?«
»Sonnenfeld.«
»Ein schöner Name, der passt zu Ihnen.
»Danke. Ja, anläßlich meiner Scheidung habe ich meinen Mädchennamen wieder angenommen und fühle mich gut dabei.«
»Ich hab Sie schon vermisst!«
»Ja, gestern hatte ich frei, weil ich letzten Samstag für eine Kollegin eingesprungen bin.«
»Was man so alles für die anderen macht, nicht wahr? Arbeiten Sie gerne hier? Ich meine, das ist doch anstrengend. Sie sind hauptsächlich auf der Pflegestation eingesetzt, stimmt‘s?«
»Stimmt.«
»Ist das nicht bisweilen frustrierend?«
»Kommt drauf an, wie man das sieht. Manchmal schon, ja, aber wenn ich sehe, wie einige Heimbewohner trotz ihrer Einschränkungen sich anstrengen, körperlich und geistig fit zu bleiben oder sich an kleinen Dingen freuen, finde ich das bewundernswert. Dann nehme ich mir vor, es später ähnlich zu halten.« Anja hielt inne und wurde ernst. Ihr Blick wanderte wie geistesabwesend zum Fenster.
»Sie sehen jetzt aber sehr nachdenklich aus. Ist was?«, erkundigte sich Herr Steger vorsichtig.
»Mich frustrieren ganz andere Sachen, aber lassen wir das. Was haben Sie für heute geplant?
»Noch gar nichts«, musste Herr Steger zugeben und wechselte schnell das Thema. »Mit Ihnen kann ich mich am besten unterhalten. Nur heute, bitte nehmen Sie es mir nicht übel, heute wirken Sie genauso gehetzt wie Ihre Kollegen.«
»Stimmt, Herr Steger, ich muss jetzt tatsächlich leider zurück auf die Station und meine Kollegen ... «, Anja hielt für einen Moment inne. »Da ist viel zu erledigen, aber ich komme nach dem Dienst kurz bei Ihnen vorbei. Okay?«
»Dann warte ich, bis nachher.«
Wie verständnisvoll er war, und was für Gedanken er sich machte!
Als Anja nach Dienstschluss die Station verließ, rief Marga ihr nach: «Ach, du möchtest bitte einmal kurz bei der Pflegedienstleitung vorbeischauen.« Auch das noch!
Die Chefin stand schon in der Tür und bat Anja, sich hinzusetzen. Anja nahm auf dem vorderen Rand des Stuhles Platz.
»Frau Sonnenfeld, mir ist leider zu Ohren gekommen, dass Sie in letzter Zeit immer häufiger unpünktlich Ihren Dienst antreten. Ich weise Sie darauf hin, dass dies bei Wiederholung zu einer Abmahnung führen kann.«
»Es tut mir leid, ich habe im Augenblick etwas Stress mit den Kindern.« Das war zwar etwas übertrieben, aber Anja wusste, dass die Chefin und Marga befreundet waren und vermied es, Negatives über ihre Kollegin zu sagen.
»Seien Sie in Zukunft pünktlicher!«
»Das werde ich, Frau Krieß, das verspreche ich.«
»Und da ist noch etwas. Mir ist zu Ohren gekommen, dass sie Absprachen mit Mitarbeitern häufig nicht einhalten.«
»Wie meinen Sie das?« Anja war vollkommen perplex.
»Na, Frau Beutel ist Ihnen gegenüber zwar nicht direkt weisungsberechtigt, aber Sie sollten die Hinweise einer so erfahrenen Kraft nicht ignorieren.«
Anja war fassungslos. Wie sehr hätte sie sich über ein paar Hilfestellungen und Ratschläge der älteren Kollegen gefreut! Nie im Leben hätte sie diese ignoriert!.
»Bedenken Sie«, fuhr Frau Krieß fort, »Sie sind als Letzte eingestellt worden. Ich nehme an, Sie wissen, was das bedeutet .... Andererseits ... habe ich auch Gutes von Ihnen gehört. Die Patienten schätzen Sie, und Leute wie Sie möchte ich nicht verlieren.«
Das klang wie eine Drohung, der fast zeitgleich die Schärfe genommen wurde. Übernahm Frau Krieß doch nicht unreflektiert Margas Meinung? Anja verabschiedete sich höflich und freundlich, aber zutiefst verunsichert. Was hatte Marga über sie verbreitet?
Bevor sie das Seniorenheim verließ, klopfte Anja, wie versprochen, bei Herrn Steger an die Tür und trat ein.
Ein Fotoalbum lag auf seinem Schoß und er bat Anja zu sich. Es hatte den Anschein, dass er schon seit geraumer Zeit auf sie gewartet hatte.
Anja, noch in Gedanken beim Gespräch mit der Chefin, war froh, einmal nicht für die Gesprächsführung zuständig zu sein. Sie setzte sich neben ihn und betrachtete die Fotos.
Zunächst sah sie nur eine Reihe schneebedeckter Berge zu verschiedenen Tageszeiten und bei unterschiedlichen Wetterverhältnissen. Dann erkannte sie anhand der wiederkehrenden Formen, dass es sich um ein und denselben Berg zu handeln schien, einen ziemlich hohen.
»Ist das der Mount Everest?« fragte sie vorsichtig.
»Nicht schlecht, nein, der Mount Everest ist es nicht, aber der Cho Oyo.«
»Nie gehört.«
»Der Cho Oyo« ist der Sechshöchste der vierzehn Achttausender der Welt und liegt nicht weit entfernt vom Mount Everest, ca. 20 km Luftlinie. In Wirklichkeit ist das aber sehr, sehr weit, Google Maps weigert sich zum Beispiel, diese Route zu berechnen. Raten Sie mal, warum!«
»Na ja, weil wohl kaum jemand auf die Idee kommen wird, bei einem Trip beide erklimmen zu wollen. Diejenigen, die auf dem Everest waren, kann man ja wohl an der Hand abzählen.«
»So wenige sind das nicht. Fünftausend mindestens seit der Erstbesteigung, nur ein Bruchteil von ihnen ohne künstlichen Sauerstoff. Viele, sehr viele geben auf, obwohl…«
»Und auf dem Cho Oyo?«
»Etwas mehr als die Hälfte davon. Der Cho Oyo wurde erst in den Sechzigern erfolgreich bezwungen. Nicht, weil er eine größere Herausforderung darstellt, sondern eher, weil er halt nicht der Höchste ist und damit weniger spektakulär.«
»Für mich klingt das spannend, Herr Steger, aber nun erzählen Sie mal, woher Sie das alles wissen und warum sie mir das erzählen. Waren Sie Geografielehrer?«
»Nicht direkt, aber Sie liegen mit Ihren Vermutungen immer ganz nah an der Wahrheit. Nein, ich war Reisejournalist.«
»Toll.«
»Ja, das waren gute Jahre.«
»Das kann ich mir lebhaft vorstellen: Reisen, Abenteuer erleben und mit den Berichten die nächste Reise finanzieren.«
»So ähnlich war es schon, obwohl man am Ball bleiben muss, damit die Verleger mit immer ungewöhnlicheren Bildern und Unternehmungen auf dem Markt sich und ihre Produkte positionieren können.«
»Die Konkurrenz, ich weiß. Stets ein beliebtes Argument, die Belegschaft zur Mehrarbeit anzutreiben.«
»Oder freie Mitarbeiter zur Selbstausbeutung. Leider habe ich dabei auch ein wenig meine Frau verloren.«
»Wie kann man seine Frau verlieren und dann nur ‚ein wenig‘?«
»Das sind zu viele Fragen.« Herr Steger rückte von Anja ab. Er sah grau aus im Gesicht und seine Augen wurden für einen Moment starr.
»Nur zwei.«
»Vielleicht erzähle ich das später einmal. Schauen Sie mal, hier war unser Basislager.«
»Basislager? Wollen Sie mir erzählen, dass Sie so einen Trip gemacht haben?
»Das hieß und heißt immer noch Expedition.«
»Okay ‚Expedition‘ , ich bin baff. «
»In den sechziger und siebziger Jahren gab es noch kaum kommerzielle Expeditionen in den Himalaja, und mehr als heute war es eine immense Herausforderung, einen Achttausender in Angriff zu nehmen, körperlich wie mental.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Wie alt waren sie damals?«
»Sechsunddreißig.«
»Schauen Sie, hier, ein Bild von mir«
»Wow, total dick eingepackt, fast nicht zu erkennen. Doch, doch, wenn man genau hinsieht. Die Gesichtszüge sind dieselben. Sie waren mal sehr sportlich, habe ich recht?«
»Ich denke, ja.«
»Irre. War das im Winter?«
»Nein, das war im Sommer, die Schneegrenze lag bei ca. 6000 Metern. Vermutlich ändert sich das infolge des Klimawandels.«
»Wahnsinn«
»Ja, das war schon außergewöhnlich.«
»Gab es Telefon und Kontakt zum Rest der Welt?«
»Ja, vom Basislager aus, aber das ist heutzutage auch nicht anders.«
»Apropos Telefon und Rest der Welt. Ich muss unbedingt zu meinen Kindern. Phillip schreibt morgen ein Deutschdiktat und, ach herrje …. Herr Steger, ich finde das wahnsinnig spannend, aber ... Ich bin mehr als zu lange hier.«
»Ist schon gut, ich laufe ja nicht weg. «Das klang nicht zynisch, sondern eher ein wenig humorvoll, fand Anja und zog die Tür vorsichtig hinter sich zu.
Leider lief ihr Marga ein weiteres Mal über den Weg, die es sich nicht nehmen ließ, eine weitere spitze Bemerkung loszuwerden: »Ach, immer noch da? Ich dachte, deine Kinder haben erste Priorität.«
Die Bemerkung hatte wehtun sollen. Und das tat sie. Anja fühlte eine dunkle Welle unterschiedlichster Ansprüche auf sich zurollen. Ansprüche an sie als Kollegin, Ansprüche an sich selbst und die normalen Erfordernisse des Alltags. Eine unerklärliche Angst, dass diese Welle sie erfassen, überrollen und zerschellen lassen würde, stieg in ihr auf. Und sie brachte nicht die Kraft auf, Marga zur Rechenschaft zu ziehen.
Auf dem Mitarbeiterparkplatz saß Anja hinter dem Steuer, ohne den Wagen zu starten. Sie ließ den Kopf sinken, wobei sie ihr Gesicht in beide Hände legte, um kurz die Augen zu schließen, als jemand energisch an die Scheibe klopfte.
Es war Marga. Anja ließ die Autoscheibe herunter.
»Ja?«
»Ich wollte mich nur erkundigen, was Frau Krieß gesagt hat«, fragte sie scheinheilig. Ihr aufgesetztes Lächeln Gesicht verriet, wie sehr sie danach lechzte, von Anjas Zurechtweisung zu erfahren. Ihre Augen waren hämisch kalt.
Anja drückte den Verriegelungsknopf und fuhr die Scheibe hoch. Marga begann wütend an die Scheibe zu trommeln, doch Anja startete ihr Auto und fuhr los. Wie gut, dass Marga zu alt war, um in sozialen Netzen unterwegs zu sein. Nicht auszudenken, was sie dort von sich geben würde.