Читать книгу Wenn die Tyrannenkinder erwachsen werden - Martina Leibovici-Mühlberger - Страница 7

Bedauerliche Einzelfälle – oder steckt System dahinter?

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Elena mit ihrem Wutanfall auf meinem roten Sofa und ihrer ohnmächtigen Mutter oder Phillip sind nicht die einzigen Kinder oder jungen Menschen, die augenscheinlich Probleme mit ihrer Entwicklung haben.

Da ist auch noch Josef, mein dreizehnjähriger Schulverweigerer, der mit seinen 140 Kilogramm schon eine riesige Menge an Kränkungen in die Waagschale zu werfen hat, die mit schuld an seinen sozialen Ängsten sind. Er ist aber nur einer aus einer beängstigend großen Gruppe von schwergewichtigen Kindern, für deren Behandlung man bereits Spezialambulanzen einrichten muss.

Sophie wiederum kennt nichts anderes, als die Fahndung nach weiteren Kalorien, die sie reduzieren kann. Sie lebt unter dem Terrorregime ihrer Badezimmerwaage und ist mit ihren zarten zwölf Jahren bereits Anorexie-Patientin. Frühere Generationen hätten in ihrem Alter dieses Wort noch nicht einmal buchstabieren können.

Markus verweigert als Achtjähriger nach wie vor jeglichen geregelten Toilettengang, den er stattdessen konsequent in die Hose abliefert. Er ist bereits mehrfach nach allen Regeln organmedizinischer und psychologischer Kunst vermessen und getestet worden, was jedoch nichts am bestehenden Sachverhalt geändert hat.

Lydia hat im letzten Jahr vor Aufnahme ihrer Therapie ihre Unterarme mit derart vielen Schnitten traktiert, dass sich nun ein Narbenmuster aus zarten weißen Linien wie eine überdimensionale tätowierte weiße Manschette auf der gemarterten Haut abzeichnet.

Gregor ist internetsüchtig und hat seiner Mutter schon mit vierzehn in einem Wutanfall die Papierschere durch den Oberarm gerammt, als sie die Internetverbindung zu kappen drohte. Nach Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht lebt er nun in einer symbiotischen Beziehung mit seinem Laptop.

Anna, Manuela und Kerstin wiederum haben in der dritten Klasse des Gymnasiums einen handfesten Prostitutionsbetrieb eingerichtet, mit dem sie sich ihr Shopping finanzieren. Aufgrund der guten Nachfrage und wegen der limitierten Pausenzeiten in der Schule haben sie das nun auch auf den Nachmittag ausgeweitet und praktischerweise gleich in eine der elterlichen Wohnungen verlegt, da sowieso niemand zu Hause ist. »Sex ist einfach etwas, auf das die Typen stehen und mit dem sich super Kohle machen lässt«, erklärt mir Manuela voller Überzeugung. Mich befallen angesichts ihrer unverrückbar anmutenden Selbstverständlichkeit und Sicherheit dunkle Zweifel, ob für dieses Kind Sexualität je etwas anderes sein wird als ein Konsumgut und somit eine Ware. Immerhin braucht sie nicht zu lügen, denn die nachschulische Nachmittagsbeschäftigung wird von ihrer berufstätigen alleinerziehenden Mutter stillschweigend geduldet. Sie sieht lieber weg, als Kämpfe mit ihrer frühreifen Tochter auszufechten, solange diese die Pille nimmt und zur Therapie kommt.

Neben dieser Gruppe von Kindern, die derart auffällig geworden sind, dass sie einer Behandlung zugeführt werden müssen – jenen Kindern also, die meiner langjährigen Einschätzung nach einfach ganz, ganz laut werden müssen, um auf ihre innere Not und Verwirrung hinzuweisen –, neben dieser sichtbaren Spitze des Eisbergs also gibt es eine weitere, noch viel größere und beständig wachsende Gruppe von Kindern, die gerade noch unterschwellig sind. Das heißt, sie fliegen gerade noch unter dem Radar offensichtlicher Auffälligkeit, sind aber in der einen oder anderen Form deutlich beeinträchtigt und geben Anlass zur Besorgnis, wenn man darüber nachdenkt, wie sie in Zukunft ein erwachsenes, selbstverwaltetes Leben führen und befriedigende respektvolle Beziehungen mit anderen Menschen eingehen sollen.

Eine altgediente Pädagogin aus einer unserer Ausbildungsgruppen zur Erziehungsberaterin hat das einmal sehr prägnant zusammengefasst: »Als ich vor rund dreißig Jahren in den Schuldienst eintrat und als klassenführende Pädagogin zu arbeiten begann, hatten wir drei bis vier in irgendeiner Weise schwierige Kinder pro Klasse. Heute habe ich eine gute Klasse, wenn drei bis vier Kinder keine Auffälligkeiten zeigen oder gerade extremen Stress wegen der Probleme der Eltern haben.«

Da sind Bernadette, Markus, Sophia, Max, Flora, Paul, Anna, Robert, Kathrin, Sebastian, Maria-Martina und wie sie alle heißen, die einfach nicht mitmachen, ihre Hefte nicht aufschlagen, wenn sie sollen, nicht bereit sind, in den Garten zu gehen, wenn alle anderen es tun, sich tobend in der Garderobe wälzen, wenn sie ihre Jacke oder ihr Turngewand anziehen sollen. Allesamt überblasen sie die schrille Melodie obstinater, unüberwindbarer Verweigerung mit ihrem Verhalten und produzieren alltägliche Verzweiflung für ihre Umgebung.

Sie alle – und noch sehr viele mehr – tun ihre Rebellion kund, sorgen bei ihren Betreuerinnen, Pädagogen und auch bei ihrer Familie für Kopfschütteln und Ratlosigkeit. Sie legen allesamt ein Verhalten an den Tag, das gravierende Mängel im altersadäquaten Selbstmanagement und der Fähigkeit, sich selbst zu beruhigen, zeigt.

Sabine wird wahrscheinlich auch heute, während ich dies schreibe, wieder an ihrem Kakaofläschchen nuckeln, wenn sie zu Bett geht. Eine Szene, die angesichts der Tatsache, dass sie bereits elf Jahre alt ist und schon menstruiert, seltsam anmutet.

Robert braucht zwar kein Fläschchen mehr zum Einschlafen, aber der Zehnjährige beharrt darauf, zwischen seinen Eltern im Ehebett zu schlafen und prügelt jeden Ansatz eines Versuchs, ihn von einem altersadäquaten eigenen Schlafplatz zu überzeugen, im wahrsten Sinn des Wortes sofort aus seinen verängstigten, behutsamen Akademikereltern heraus.

Die neunjährige Sandra ist da vergleichsweise unproblematisch und akzeptiert sogar ihr eigenes Bett, solange ihr allabendlich die mütterliche Brust zur Verfügung steht.

All diese Kinder werden von ihren Eltern zwar als mühsam erlebt, aber eifrig als »normal« bezeichnet. Was allerdings an dem eigentlichen Problem vorbeigeht, dass diese Kinder durch die soziale Entwicklungsverzögerung bis hin zur Infantilisierungsfixierung in der Entwicklung ihres Potenzials vehement eingeschränkt sind. Die eigentliche Botschaft dieser Kinder ist die Verweigerung. Und hier könnte Schlimmes auf uns zukommen, wenn wir uns in zehn bis fünfzehn Jahren hauptsächlich in einer Gesellschaft bewegen und bewähren müssen, in der junge Erwachsene nichts anderes sind als großgewachsene Vierjährige, die ihre emotionale Steuerung noch nicht ausreichend im Griff haben. Die Zukunft der Tyrannenkinder könnte für uns Eltern noch weit schlimmer aussehen als die Gegenwart!

Wir haben also ein ernstes Problem mit der Generation, die da gerade heranwächst und die leistungsstark sein und üppig ins Steuer- und Pensionssystem einzahlen muss, wenn der ohnehin schon schwankende Karren nicht vollends an die Wand gefahren werden soll. Daher ist beherztes Nachforschen statt systematischem Wegschauen angesagt!

All diese Kinder, die heftig auffallenden Tyrannenkinder genauso wie jene, die sich an der Grenze zur Auffälligkeit bewegen, sind allerdings weder böse noch wahnsinnig und, um es für alle Ewiggestrigen explizit auszuformulieren, auch kein schlechteres Kindermaterial als frühere Generationen. Die allerwenigsten dieser Kinder sind tatsächlich manifest psychisch krank und nur ein paar vereinzelte bewegen sich durch ihre biographische Überforderung am Rande dazu. Aber verrückt, irgendwie »heraus gerückt« aus einem normalen, unbeeinträchtigten Kinderleben wirken sie mit ihren Verhaltensoriginalitäten, Eigenheiten, Wutanfällen und ihrer Tyrannei nahezu alle. Sie brauchen Hilfe, und zwar unmittelbar, rasch und auf grundsätzlicher Ebene!

Der Hausverstand würde den allermeisten Kindern hier attestieren, dass sie einfach spinnen und damit die feine Grenze zwischen einem »schlimmen« und einem »spinnenden« Kind ziehen. Das »schlimme« Kind setzt aus Übermut, Wut oder einer anderen Stimmung heraus eine Aktion, die ihm durchwegs als Regelverstoß bewusst ist. Das »spinnende« Kind setzt seine Aktionen aus einem eigenen inneren Bezugssystem heraus, das weder seiner altersadäquaten Entwicklung entspricht, noch soziale Grenzen ausreichend zu erkennen und respektieren vermag.

Doch wieso »spinnen« heute so viele Kinder? Und das ausgerechnet in unserer saturierten und sich nach allen Seiten hin offen und liberal gebenden Konsum- und Technologiegesellschaft, die so viel Mühe und medialen Einsatz darauf verwendet hat, »alte Erziehungswerte« als schädlich zu entlarven oder als nutzlosen Ballast abzuwerfen? So viel Plackerei und Arbeit wie in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten geleistet wurde, um das kollektive Unbewusste samt seinen Grundüberzeugungen und Glaubensgrundsätzen umzukrempeln, passiert sonst nur in Revolutionszeiten. Als Ergebnis stehen wir nun einer immer größer werdenden Gruppe gestörter Kinder und Jugendlicher gegenüber, deren Zukunft als Erwachsene Anlass zu ernsthafter Besorgnis gibt.

Was dürfen wir von einem Siebzehnjährigen erwarten, der sich grober Sachbeschädigung und Körperverletzung schuldig macht, ohne dabei das geringste Unrechtsbewusstsein zu haben? Können wir uns vorstellen, dass Sabine mit ihrem Nuckelfläschchen in zehn oder fünfzehn Jahren die Verantwortung für ein eigenes Kind übernimmt? Wie wird das Arbeits- und Beziehungsleben all dieser tyrannischen Prinzen und Prinzessinnen aussehen, wenn ihnen der Hofstaat ihrer sie bewundernden Familie abhandenkommt?

Eine oberflächliche Betrachtungsweise oder Schuldzuweisungen an die üblichen Verdächtigen sind hier jedoch gänzlich fehl am Platz. Dafür ist das, was sich da im Unterbau unserer Gesellschaft gerade abspielt, zu grundsätzlich und zu folgenschwer.

Nüchtern betrachtet, ist eine Gesellschaft mit ihren Regulativen und ihrem jeweiligen Selbstverständnis, ihrer Realitätskonzeption und damit ihrer Einschätzung dessen, was »angemessen« und »normal« ist, nichts anderes als ein Konzern, in dem Generationen produziert werden. Die Elterngeneration »produziert« die Folgegeneration und bereitet diese durch ihre Erziehung auf die Anforderungen des Erwachsenenlebens vor. Natürlich gibt es in jeder Produktion auch sogenannte »Mängelexemplare«, die für den geplanten Endzweck des Produkts – in diesem Fall Teil der neuen Zukunftsgesellschaft zu werden – weniger brauchbar sind. Wie so ein »Mängelexemplar« definiert wird, dafür gibt es Toleranzgrenzen. Und zwar sowohl dafür, wie stark von der erwünschten Norm abgewichen werden darf – also ab wann das Produktionsstück als zu »fehlerhaft« oder »nicht ausreichend konform« etikettiert wird – als auch für die Quantität – also wie viele Stücke aus einer gewissen Menge abweichend sein dürfen. Solange sich das Ganze im Toleranzbereich bewegt, bleiben alle ruhig. Ein gewisses Ausmaß an Verweigerern, Spinnern, ja sogar Soziopathen oder völlig Unproduktiven hält eine Gesellschaft im Allgemeinen aus. Die »Mängelexemplare« werden mal als Materialschwäche, mal als Versagen der mit der Bearbeitung betrauten Personen oder der bearbeitenden Maschine, also der Gesellschaft, gesehen.

Überschreiten die »Mängelexemplare« jedoch eine gewisse Anzahl, gerät die Produktion in Aufruhr und die Suche nach den Ursachen beginnt, da ansonsten die gesamte Produktionsanlage bedroht ist. Eine Produktion, die ihren Auftrag nicht erfüllen kann, rationalisiert sich logischerweise selbst weg. Das gilt bei der Herstellung von Tupperware oder Autoteilen genauso wie in Staat und Gesellschaft. Einer Gesellschaft, die nicht mehr genügend »fitte« Nachkommen hervorbringen kann, sondern bloß eine Generation, die lautstark »Verweigerung!« schreit, könnte es also an den Kragen gehen …

Wir reden hier wohlgemerkt von unserer Gesellschaft. Mit ihrer Verweigerung präsentiert die nächste Generation uns die Rechnung. Es wird also Zeit für einen Aufruhr.

Wenn die Tyrannenkinder erwachsen werden

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