Читать книгу Nicht ohne meine Wärmflasche - Martina Liel - Страница 7
ОглавлениеDER KOPF PLANT – DER BAUCH SCHMUNZELT
ROSENMONTAG 2004 – VERDAMP LANG HER
Es ist zwar schon ein paar Jährchen her, aber der Tag hat sich tief in meine Gefühlswelt eingebrannt. Wenn ich an die Geschehnisse denke, ist es so, als würde ich ihn noch einmal erleben, den 23. Februar 2004. Ein Tag, der wie für den Ausnahmezustand geschaffen war – Rosenmontag im Rheinland! In Bonn war das normale Leben zum Erliegen gekommen. Ich tat es der Stadt gleich – mit dem Unterschied, dass ich nicht mehr in mein normales Leben zurückfinden sollte.
Es war noch keine Woche seit meiner Abschlussfeier an der Universität vergangen, und ich freute mich schon darauf, bald endlich nach Schottland auswandern zu können. Ich hatte zuvor zwar festgestellt, dass sich mein Körper während der Lernphase verändert hatte. Dass ich so stark abgenommen hatte und mein Bauch verhärtet war, schob ich aber auf den Stress. Monatelang tagsüber im Verkauf arbeiten und nachts die Magisterarbeit schreiben, da baut man schon mal ab. Und unter wehenähnlichen Menstruationsschmerzen, die mich ans Bett fesselten, litt ich sowieso schon seit meinem 15. Lebensjahr. Damals wurde mir gesagt, dass dies ganz normal sei. Ansonsten ging es mir ja gut. Bis zu diesem Rosenmontag.
Ich stand vor dem Waschbecken in meinem WG-Zimmer und konnte plötzlich nicht mehr gerade stehen. Unerträgliche Schmerzen im Unterbauch, im unteren Rücken und auf dem Ischias bis in die Beine zwangen mich in die Knie. Ich war völlig kraftlos und hätte nur noch weinen können. Doch trotz der heftigen Schmerzen wollte ich nicht wahrhaben, dass etwas mit mir nicht stimmte.
Echte Fründe
Anders als gewohnt verfiel ich nicht in Panik. Lasst es mich so sagen: Im Vergleich zu mir ist ein Hypochonder ein besonnener Mensch. Wenn mir der Arm einschläft, ist es ganz klar: ein Schlaganfall. Bin ich erschöpft, ist Skorbut noch das Geringste auf meiner Verdachtsliste. Dass ich mich noch nicht gegen Zwingerhusten habe impfen lassen, ist auch schon alles. Meine Mitbewohner kannten mich so gut, dass sie mir nie erzählten, wenn Halsschmerzen oder Durchfall im Haus die Runde machten. An diesem Rosenmontag aber war alles anders. Ich muss wohl bereits unter Schock gestanden haben.
Als ich einer meiner Mitbewohnerinnen lapidar von meinen Schmerzen erzählte und nebenbei erwähnte, dass auch noch Blutungen eingesetzt hätten, obwohl ich noch gar nicht mit meiner Regel dran war, musste sie mich auf den Ernst der Lage hinweisen. Sie ließ mir keine Wahl: »Wir fahren jetzt ins Krankenhaus, aber sofort!«, sagte sie streng. Es war eine seltsame Busfahrt zur Uniklinik. Normalerweise waren wir die zwei »gackernden Hühner« im Haus, die ständig zusammen Blödsinn machten. Nun saßen wir schweigend nebeneinander und trauten uns kaum zu sprechen.
Denn wenn et Trömmelsche jeiht
Ein junger Gynäkologe untersuchte mich in der Notaufnahme. Ich wusste sofort, dass etwas nicht stimmte: Während der gesamten Untersuchung sagte er kein Wort. Beim Ultraschall machte er fortlaufend Standbilder. Mit dem Mauszeiger wurde etwas vermessen, eingekreist und festgehalten. Ich traute mich nicht nachzufragen. Ich wollte es nicht hören. Mir war einfach nur übel vor Angst. Dann sagte er: »Moment, ich hole den Oberarzt. « Da war er, der Augenblick, in dem ich dachte: »Das war’s!« Auf einmal war Sterben eine Möglichkeit und nichts, was erst nach einem erfüllten, langen Leben auf einen wartete. Ich war 28.
Der Oberarzt schaute sich die Bilder ebenso schweigend an und sagte nur: »Wir müssen so schnell wie möglich weitere Untersuchungen machen.« Zwei Tage später lag ich im laut trommelnden MRT. Was 20 Minuten dauern sollte, wurde zu anderthalb Stunden – nicht gerade ein Fest für einen Klaustrophobiker.
AM ASCHERMITTWOCH IST ALLES VORBEI
Eine Gynäkologin der Frauenklinik klärte mich über die Auswertung der Bilder auf: »Wir können noch nicht hundertprozentig sagen, was es ist. Aber wir vermuten, es könnte Endometriose sein. « – »Endo-was?« Ich hörte dieses Wort zum ersten Mal in meinem Leben. Sie erzählte was von »zweithäufigster Frauenerkrankung«. In der Schule hatten sie mich mit so essenziellen Dingen wie Ablautreihen, Wahrscheinlichkeitsrechnung und Völkerball konfrontiert. Wieso hatte ich noch nie von etwas gehört, was für uns Frauen zu wissen augenscheinlich so wichtig war?
Die Ärztin sprach von Hormonpräparaten. Doch die kämen bei mir nicht mehr infrage. Der Tumor wäre mittlerweile so groß, dass akute Lebensgefahr bestünde. Der ganze Kladderadatsch könnte jederzeit platzen. Man müsse so schnell wie möglich handeln. Tumor? Bis dahin hatte ich immer gedacht, Tumore hätte man nur bei Krebs. Was passierte da eigentlich mit mir? Meine beste Freundin fuhr mich zurück in meine WG. Als ich mein Zimmer betrat, war es nicht mehr mein Zimmer. Mein Leben war mir plötzlich völlig fremd.
Niemals geht man so »ganz«
Vor der OP musste ich mich in die Schlange zu weiteren medizinischen Unannehmlichkeiten stellen: Darmspiegelung und Darmröntgen. Ersteres sollte durchgeführt werden, um zu schauen, ob man Geschwüre auch innerhalb des Darms finden würde, Zweiteres, um zu sehen, wie weit der Darm durch den Tumor von außen eingestülpt und verschoben war.
Zwischendurch wurde ich mehrmals gynäkologisch untersucht. Mit meinem Einverständnis lernten Medizinstudenten, was »Kissing Ovaries« sind: Die Geschwüre hingen so schwer an den Eierstöcken, dass diese nach hinten geklappt waren und sich »küssten«. Den Darm schlossen sie in ihr heißes Date gleich mit ein. Es war ein riesiger Haufen an Verwachsungen!
»Holt alles raus! Gebärmutter, Eierstöcke, alles!«, flehte ich unter Schmerzen. Es war mein Ernst. Ich wollt nur noch diese Qualen loswerden. Ein Chirurg kam hinzu und teilte mir mit, dass ich eventuell mit einem künstlichen Darmausgang aufwachen würde, das könnten sie nicht ausschließen. Auf jeden Fall müsse ein Stück Darm entfernt werden. Das war der Moment, in dem sich mein Bewusstsein verabschiedete und ich auf Autopilot schaltete.
Die Hände zum Himmel
Am Abend vor der OP war ich allein in meinem Krankenzimmer. Ich hörte den Song »Fighter« von Christina Aguilera in Dauerschleife und tigerte nervös auf und ab. Ich haderte mit meinem Schicksal, mit dem Leben, mit dem Kosmos im Allgemeinen. Da wird einem klar: Durch das Schlimmste musst du allein durch! Ich fragte mich, was ich wohl falsch gemacht hatte, an welcher Stelle ich »falsch gelebt« hatte und wieso ich mit so was »bestraft« würde.
Irgendwas passierte in mir, während ich mich auf den »Gang zum Schafott« vorbereitete. Der Song pushte mich. »Makes me that much stronger.« Nicht mit mir! »Makes me work a little bit harder.« Ich lass mich nicht unterkriegen! »Makes me that much wiser.« Ich verbündete mich mit meinem Darm: Wir werden sie schon loswerden, diese Endowas-auch-immer!
Ein Freund hatte mir in Schottland einmal gesagt: »Du musst mehr für dich selbst eintreten, mehr für dich kämpfen!« Ich glaube, an dem Abend hatte sich der Hebel, auf den er mich damals aufmerksam machen wollte, umgelegt. Thanks for making me A FIGHTER!
Bye bye, my love
Am 3. März 2004 wurde ich operiert und wachte auf der Intensivstation wieder auf. Ich hörte die Stimme meiner Mutter: »Du hast keinen künstlichen Ausgang. Es ist alles gut gegangen.« Dann fiel ich wieder in einen erschöpften Schlaf, begleitet vom Piepsen der Geräte und unterbrochen durch die Blutdruckmanschette, die sich immer wieder fest um meinen Arm aufpumpte.
Am nächsten Tag kam ich auf Station und erfuhr nach und nach, was geschehen war: sechs Stunden OP, zwei Bluttransfusionen, vier Kilogramm entferntes Gewebe, darunter größtenteils Endometriose, daneben Myome und Zysten. 30 Zentimeter Enddarm wurden entfernt, weil die Endometriose hier bereits bis zur Muskelschicht vorgedrungen war. Ein Eileiter und Teile der Eierstöcke mussten ebenso geschlagen den Kampfplatz verlassen. Mein Harnleiter zur rechten Niere war zwar voller Endometriose gewesen, ihn konnte man aber noch retten. Die Gebärmutter hatten sie aufgrund meines Alters erhalten. Sie wollten mir die Möglichkeit offenhalten, noch Kinder zu bekommen.
Gleichzeitig machten sie mir klar, dass ich auf natürlichem Wege wohl nicht mehr schwanger werden könnte. Eine Schwangerschaft sei ab sofort auch mit hohen Risiken verbunden. Mehr sagte man mir dazu erst mal nicht. Ich musste auch nicht mehr hören. Ich schloss sofort mit dem Thema ab. Mein Kinderwunsch war nie groß genug gewesen, um meine Gesundheit weiter aufs Spiel zu setzen.
Es sollte eine Phase kommen, in der mir dies alles doch noch zusetzte, aber erst sehr viel später. Meine größte Sorge war zunächst: Kann ich meinen größten Lebenstraum erfüllen? Kann ich noch nach Schottland auswandern?
LUST AUF LEBEN
Ich teilte mir mein Zimmer mit Elke (Name geändert). Sie war im November zuvor erst bei der Mammografie gewesen, und es war alles in Ordnung gewesen. Nun, vier Monate später, die Diagnose: Brustkrebs. Eine Brust hatte man entfernen müssen. Auf den ersten Blick – vor der Zeit ihrer Chemo – sah ihr Zustand noch besser aus als meiner. Nach ihrer OP war sie mobil und konnte ihre Schokobonbons kauen. Ich hingegen war wie eine neue Spezies auf dem Seziertisch mit allen möglichen Schläuchen und Kabeln an mein Bett gefesselt. Durch einen Katheter im Hals wurde ich eine Woche lang ernährt. Ich konnte mich über Tage nicht einen Millimeter bewegen, musste gewaschen werden und, wie soll ich es sagen: Dixie-Klos sind seit dieser Zeit für mich reinste Wellness-Tempel. Am dritten Tag dufte ich voll verkabelt kurz zum Wiegen aufstehen. Bei einer Körpergröße von 1,64 wog ich noch 43 Kilogramm.
Ich weiß, es klingt unglaublich, aber die Schwestern erzählten uns, wie sie morgens auslosten, wer von ihnen zum Blutdruckmessen zu uns ins Zimmer kommen durfte. Bei uns war tatsächlich immer gute Stimmung! Elke und ich waren auf einer Wellenlänge. Wir hatten dieselbe Art von Humor, mit der wir versuchten, das Beste aus unserer Lage zu machen. Und wir vertrauten uns gegenseitig unsere tiefsten Geheimnisse an, als hätten wir begriffen, dass man dafür keine Zeit zu verlieren hat.
… stell dich nit esu ahn
Mit kleinen Schritten ging es bergauf. Jeden Tag wurde ein neuer Schlauch gezogen. Nach einer Woche trainierte ich, den Flur auf und ab zu gehen. Ich hatte Musik auf den Ohren, fühlte mich unbeobachtet und machte vorsichtig Tanzschritte. An der Rezeption angekommen, zeigte mir ein Monitor, dass ich dabei alles andere als unbeobachtet gewesen war. Nach einem kurzen Anflug von Scham beschloss ich, dass es mir egal war. Ich wollte so schnell wie möglich Normalität zurückerlangen. Mit eiserner Disziplin machte ich meine Übungen – und der Mensch an der Rezeption bekam seine kostenlosen Show-Einlagen.
In der Physiotherapie stieg ich in eine andere »Klasse« auf: Von einem Pfeifchen im Bett, in das ich reinpusten musste, um Flüssigkeit von der langen OP aus meiner Lunge zu befördern, ging ich nun zur Beckenbodengymnastik. Ich war die Einzige mit Endometriose auf der Matte. Als wir gerade unsere Schließmuskel trainierten, fragte die Frau neben mir mit breitem Lächeln und ebenso breitem französischem Akzent: »’aben Sie auch göradö ärst entbundön?« Die Dame wusste es ja nicht, aber eine falschere Frage konnte man in dem Moment nun wirklich nicht stellen …
Wer soll das bezahlen?
Nach zwölf Tagen musste ich mich von Elke verabschieden. Wir entließen uns gegenseitig in eine ungewisse Zukunft. Ich sollte sie danach noch einmal wiedersehen. Am Tag der Entlassung drückte mir ein Arzt ein Gestagenpräparat (Minipille) in die Hand mit dem Kommentar: »Das wird Ihre Periode unterdrücken, Sie sollten jetzt nach der OP erst mal nicht bluten. Nehmen Sie die aber nur sechs Monate lang und passen Sie auf, die können Depressionen auslösen!«
Ich konnte in meinem Zustand nicht direkt zurück in die WG und musste erst einmal wieder bei meinen Eltern wohnen – der Traum einer jeden Endzwanzigerin … Dort hatte ich nach deren Umzug allerdings kein Zimmer mehr und musste mit einer harten Couch im Büro vorliebnehmen. Später sollte ich nicht nur meinen Rücken zu spüren bekommen, sondern auch, dass ich mich da schon mitten in der Versorgungslücke Deutschlands befand: von der Uni in die Krankheit. Ich hatte zwar vorher einen Studentenjob, aber keinen festen Arbeitsplatz, demnach kein Krankengeld und keinen Anspruch auf gar nichts. Niemand war für mich zuständig. Für mich standen jedoch erst einmal die Fragen im Raum: Wie bewältige ich ab sofort meinen Alltag? Werde ich mich eines Tages mehr als zehn Meter von einer Toilette entfernen können? Und war ich diese Endo-wie-auch-immer nun los?